Die Hilfe muss alle erreichen – auch die Rebell*innen von Rojava

Das verheerende Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet hat Hunderttausende ins Elend gestürzt. Unterstützung für die Betroffenen war bald organisiert – auf dem türkischen Staatsgebiet und den vom syrischen Assad-Regime kontrollierten Regionen. Aber wie sieht es in den von Kurd*innen selbst verwalteten Gebieten aus? Dazu hat seemoz Maja Hess befragt, die Präsidentin der Hilfsorganisation medico Schweiz; sie hatte am vergangenen Freitag in Konstanz über die Zustände in Rojava informiert.

seemoz: Was wissen Sie über die aktuelle Lage im türkisch-syrischen Grenzgebiet?

Maja Hess: Ich war mehrmals dort, zuletzt vom Oktober 2020 bis Januar 2021, um Hilfe zu leisten. Außerdem stehe ich in ständigem Kontakt mit Leuten vor Ort. Während der türkischen Offensive mit Kampfflugzeugen gegen Rojava im November wurde gezielt zivile kritische Infrastruktur – Elektrizitätswerke, Wasserwerke, Schulhäuser, Gesundheitseinrichtungen – bombardiert. Erdogan drohte auch mit einer Bodenoffensive. Kaum zwei Monate danach ereignet sich dieses schreckliche Erdbeben. Das ist das zweite entsetzliche Ereignis in kurzer Zeit für die Menschen dort.

Aleppo zum Beispiel ist sehr betroffen. Eine Frau berichtete, dass es schlimmer sei als im Krieg: „Es sind sehr viele Häuser zerstört, wir wissen nicht mehr, wohin wir gehen können, wo wir leben werden. Wo werde ich morgen schlafen, wo werden meine Kinder übernachten?“ Für alle Familien mit Kindern ist die Situation unglaublich hart. Eine Person alleine kann sich irgendwie noch organisieren, aber wenn Kinder da sind, ist das sehr schwierig. Besonders dramatisch ist die Unsicherheit: Es gibt Nachbeben, der Boden unter den Füssen ist instabil. In gewissen Regionen bombardiert die türkische Regierung weiter, zum Beispiel Kobane, Tel Rifaat. Das macht die Leute kaputt.

Maja Hess ist Ärztin und Präsidentin der Hilfsorganisation medico International Schweiz. Um Hilfe vor Ort zu leisten, begibt sie sich immer wieder in Kriegs- und Krisengebiete. Sie arbeitete schon in Nicaragua, El Salvador, Eritrea oder im Gazastreifen in Palästina.

seemoz: Was können wir hier von der Politik erwarten oder verlangen?

Hess:

Die Öffnung der Grenzübergänge sollte gefordert werden, das ist eine klare politische und ebenso humanitäre Forderung. Es gibt einige Grenzübergänge zwischen der Türkei und Syrien, es gibt zwei wichtige zwischen Nordirak und Rojava. Fast alle sind auch für den Transport von Hilfsgütern geschlossen. Ausserdem ist der Transport von Gütern aus Damaskus sehr schwierig bis unmöglich, Checkpoints verhindern häufig das Durchkommen.

seemoz: Die Kirchen in Deutschland fordern die Aufhebung der Sanktionen gegen das Syrien Assads. Was meinen Sie dazu?

Hess: Sanktionen sind etwas extrem Schwieriges und Kontroverses, weil Sanktionen häufig der Zivilbevölkerung schaden und sie in Verarmung und Not treiben, aber schlussendlich die Machthaber nicht stürzen. Gegen Syrien werden seit 2011 Sanktionen verhängt. Die Sanktionen haben die Zivilbevölkerung ausgeblutet. In der aktuellen Notsituation wäre es sinnvoll, diese Sanktionen aufzuheben.

seemoz: Was können wir tun? Welche Hilfe ist sinnvoll?

Hess: Hilfsgüter können wir als kleine Organisation nicht verschicken, aber auch als Einzelinitiative ist das kaum durchführbar.  Wenn jemand aus Europa etwas nach Rojava liefern möchte, müssten diese Güter per Flugzeug in den Nordirak transportiert werden. Dort müsste jemand die Hilfslieferung auslösen, auf Lastwagen verfrachten und versuchen, diese via den Grenzübergang Semalka nach Rojava zu bringen. Auf diesem Weg gibt es unzählige Hindernisse, die oft nicht überwunden werden können und es kostet eine Menge Zeit, in der aktuellen Situation zu viel Zeit!

seemoz: Also auch keine Zelte und Schlafsäcke?

Hess: Man kann fast alles in der Region kaufen. Die dortigen Hilfsorganisationen können Medikamente, Decken, Zelte, Nahrungsmittel und Heizelemente anschaffen.  Das ist im Moment wichtig. Aber sie benötigen Geld dafür, auch der Transport der Güter ist teuer. Lastwagen müssen gemietet, Chauffeure bezahlt werden.

seemoz: Wie kommt das Geld an?

Hess: Wir von medico Schweiz spenden das Geld an Heyva Sor a Kurd (Kurdischer Roter Halbmond), einer kurdischen NGO, die damit aktuell Medikamente, Decken, Zelte, Heizelemente und Nahrungsmittel kauft. Außerdem beteiligen wir uns an den Transportkosten.

seemoz: Wer ist Heyva Sor a Kurd?

Hess: Das ist eine lokale kurdische Gesundheitsorganisation, die seit dem Rückzug des syrischen Regimes aus Rojava, also seit etwa 2012, medizinische (Not)-Hilfe in Nordostsyrien leistet. Der Kurdische Rote Halbmond ist sozial sehr gut vernetzt, die allermeisten Mitarbeiter*innen kommen selbst aus Rojava. Heyva Sor a Kurd hat mittlerweile über 2000 Mitarbeiter*innen, ist also auch eine Arbeitgeberin geworden, arbeitet sehr professionell und deckt viele Bereiche ab (Nothilfe, erste Hilfe in Kriegsgebieten, Trinkwasserverteilung, Betreuung der Flüchtlingslager, Awareness-Kampagnen zu verschiedenen Gesundheitsthemen usw.). Die Mitarbeiter*innen sind sehr mutige Menschen und leisten ausgezeichnete und bewundernswerte Arbeit. Ich habe grosses Vertrauen in diese Organisation.

seemoz: Was ist der Unterschied zwischen medico Schweiz und medico Deutschland?

Hess: Wir sind viel älter und kleiner. Wir sind als Centrale Sanitaire Suisse (CSS) während dem spanischen Bürgerkrieg gegründet worden und haben die republikanischen Kämpfer und Kämpferinnen unterstützt; unser Hilfswerk entwickelte sich also aus dem antifaschistischen Kampf heraus. Es gab auch medizinische Brigaden in Jugoslawien, welche die Partisan*innen von Tito unterstützten. Nach einer Ruhephase wurde CSS während dem Vietnamkrieg wieder aktiv – und ist es seither geblieben.

seemoz: Gibt es auch eine Kooperation zwischen Medico Deutschland und Schweiz?

Hess: Wir treffen uns wiederholt zum Austausch und unterstützen uns auch gegenseitig. Inhaltlich treffen wir uns bei vielen Projekten und verstehen „Hilfe“ auf eine sehr ähnliche Weise, denn der emanzipatorische Ansatz ist uns beiden wichtig. medico Frankfurt ist ebenfalls in Rojava aktiv. Sie haben jedoch mehr Mitarbeiter*innen und ein größeres Budget, weil sie unter anderem auch Zugang zu EU-Geldern haben. Das haben wir nicht, da die Schweiz ja kein EU-Mitgliedsaat ist. Die internationale Solidarität ist uns beiden wichtig, deshalb ruft medico schweiz zu Spenden für Rojava auf, die wir direkt an Heyva Sor a Kurd überweisen.

Interview: Helmut Reinhardt und Vjollca Veliqi / Fotos: Heyva Sor a Kurd, Pit Wuhrer (Veranstaltung und Gespräch mit Maja Hess am 10. Februar 2023)

Am Freitag, den 17. Februar, organisiert das Konstanzer Solibündnis Rojava zusammen mit der Infokneipe einen Spendenanlass – mit Essen und Trinken zugunsten der Erdbebenopfer. Ab 19 Uhr im Café Mondial beim Palmenhaus, Zum Hussenstein 12, Konstanz.

Spenden Sie per QR-Code an Heyva Sor a Kurd:

Spenden können Sie auch per Überweisung an:
medico international schweiz, Quellenstrasse 25, 8005 Zürich
CH57 0900 0000 8000 7869 1
https://www.medicointernational.ch/spenden/jetzt-spenden.html
oder an:
medico international e.V. Frankfurt
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