Auf digitalen Holzwegen
Hurra! Wir haben es doch schon immer geahnt, auch wenn uns die Wissenschaft seit Kopernikus und Galilei, ja vielleicht sogar seit den alten Griechen oder gar Chinesen etwas anderes weismachen wollte: die Welt ist eine Scheibe. Genauer gesagt: ein Bildschirm. Der Bildschirm ist dort, wo in Büros in Sessel gepupst wird, zum zentralen Kommunikationsort geworden. Menschen – das sind Wesen, die einander als Echtzeitfilmchen auf diesen Bildschirmen begegnen… oder, sagen wir besser: sehen und hören.
Nun gut, soweit die Lage. Die eine schreien ‚Hurra‘, die anderen unken ‚Wehe‘, aber natürlich ist die Welt, in der Bildschirme vorkommen, noch nicht so flach geworden, dass wir Probleme nicht von mehr als einer Seite betrachten könnten. Und das gilt auch für die Digitalisierung, deren Frontend nun einmal der Bildschirm ist. Digitale Medien sind schon lange Teil unseres Alltags – unseres Alltags in den westlichen Industrienationen (und den Schichten, die sich die entsprechende Hardware leisten können) wohlgemerkt, denn nicht überall ist das Heil aus Nullen und Einsen schon angekommen. Das nennt man digitale Kluft und ist eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll. An dieser Stelle geht es mir darum, was für alle, die in und an der Bildung arbeiten, ein großer Gewinn der Digitalisierung sein könnte und zwar ganz und gar unabhängig davon, ob sie nun die Scheibenwelt abonniert haben oder doch lieber höflich dankend (oder laut krakelend) ablehnen.
Ich meine, um nun endlich zum Kern der Sache zu kommen, dass wir alle von der Art des Lernens im Internet profitieren könnten. Oh je, ich höre den Shitstorm brausen, aber mir geht es nicht um Youtube-Tutorials oder endlose Forumsdiskussionen. Mir geht es um die Art und Weise, sich einem Gegenstand zu nähern. Man kann lernen, indem man den zu lernenden Stoff klar strukturiert – anfangend bei den Grundlagen und sich immer weiter einarbeitend. Man fängt eben nicht an, eine ganze Küche zu tischlern, bevor man gelernt hat, den Hobel zu bedienen. In vielen Fällen ist es sinnvoll, so vorzugehen. Aber nicht in allen. Nicht bei jedem Gegenstand. Nicht zu jedem Anlass. Nicht bei jeder Person.
In den letzten Jahren hat sich das Wissen über die hohe Individualität von Lernprozessen (sowohl was die Methodik als auch was die benötigte Zeit angeht), die herausragende Bedeutung intrinsischer Motivation (nur wer lernen WILL, WIRD auch lernen) und die harten sozialen Rand- und Rahmenbedingungen, die auch Willigen und Fähigen das Lernen schwer machen, nur weil ihnen der entsprechende familiäre Hintergrund fehlt, enorm vergrößert. Unsere Bildungsinstitutionen kommen diesen Erkenntnissen kaum hinterher. Das hat viele Gründe, aber auch die müssen auf ein andermal verschoben werden. Hier geht es um die Frage, wie denn eine Alternative zum ’systematischen‘ Lernen aussehen könnte. Und was das Internet damit vielleicht zu tun hat.
Wer eine Website baut, fängt nicht damit an, ein Handbuch zu lesen und erst einmal HTML zu lernen. Sondern er oder sie sucht sich einfach zusammen, was benötigt wird, um das Ergebnis zu erreichen, das er oder sie sich wünscht. Wer wirklich eine cool aussehende Webseite haben will, wird nicht zögern, viel Zeit zu investieren, damit das Bild auf dem Bildschirm dem Bild im Kopf gleich kommt. Auf diese Weise entstehen irreguläre, nicht im Detail durchdachte Wege des Lernens und manche dieser Wege könnten sich als Holzwege entpuppen, wie schon Martin Heidegger schrieb: „Im Holz sind Wege, die meist jäh im Unbegangenen aufhören…“.
Und auf wundersame Weise entspricht genau diese Art des Lernens der Empfehlung des großen Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget, der meinte, alles, was man einem Kind zeige, sei für das Kind eine vertane Chance, etwas zu lernen, also sich selbst anzueignen. „Erwirb es, um es zu besitzen“, könnte man mit Goethes Faust sagen. Man lernt, was man lernen möchte, in der Zeit, die man dazu braucht und auf den Wegen, die einem einleuchtend erscheinen oder aber möglich sind. Klar, damit ist es vielfach nicht getan: was man können will, muss man halt üben. Aber Sprachlehrkonzepte, die die Lernenden ohne Übersetzungen, ohne Vokabellernen, ohne Grammatikpauken vornherein mit der zu erlernenden Sprache konfrontieren, sind durchaus erfolgreich.
Ich glaube, wir könnten alle viel übernehmen von denjenigen, die selbstorganisiert lernen. Meine tiefsten Erfahrungen mit diesem Konzept habe ich in den sieben Jahren gemacht, während derer ich das studentische Fernsehprojekt Campus-TV an der Universität Konstanz geleitet habe. Dabei entsprangen die Ideen, die mich seitdem nicht mehr losgelassen haben, gar nicht einem bewussten Plan oder auch nur didaktischer Erwägung, sondern entstanden einfach aus Not und eigener Unkenntnis. Ich bin nicht als ausgebildeter Filmemacher zum Projektleiter geworden, sondern da einfach hineingeschlittert. Die wichtigste Grundregel war: wer hier mitmachen will, muss 20 Sekunden Film produzieren: „Jede Frage, die Du stellst, wird beantwortet.“ Die erste Aufgabe war also, die richtigen Fragen zu stellen. Und, ja, selbstverständlich – da gab es Leute, die mehr und intensiver fragten als andere. Damit war ihr Wissensdurst eben gestillt. Andere hörten nie auf zu fragen. Und die Antworten erhielten sie von anderen Studierenden, die das schonmal gemacht hatten. Peer-to-peer und nicht von oben nach unten.
Ja, wird man einwenden, das geht vielleicht bei praktischen Aufgaben: so kann man filmen oder auch stricken lernen, aber doch nicht … sagen wir … binomische Gleichungen … den Zitronensäurezyklus …. oder auch … Shakespeares Gedichte. Doch. Ich behaupte: doch, ganz genau so kann man das lernen. Und zwar immer dann, wenn das Lernen a) einer Motivation entspringt und b) diese Motivation sich aus einer Kontextualisierung ergibt, wenn ich – mit anderen Worten – einen GRUND habe, wissen zu wollen. Wenn ich zum Beispiel mich gegen den Klimawandel engagieren möchte, ist es gut, die Fakten zu verstehen, die Statistiken lesen zu können. Ich habe einen Grund, mir komplexes, abstraktes Wissen anzueignen. Mein Sohn lernte die Länder der Erde in Windeseile mit Fahnen und Hauptstädten auswendig, weil ihn die Fussball-WM interessierte. Der Erdkundeunterricht, den ich in der Schule besuchen musste, hat das nicht geschafft.
Und das ist nicht erst seit dem Internet so. Bei denjenigen, die es intensiv und selbstverständlich als Kreativmedium nutzen, ist es jedoch deutlich zu beobachten. Holzwege erscheinen zwar als Umwege. „Doch es scheint nur so. Holzmacher und Waldhüter kennen die Wege. Sie wissen, was es heißt, auf einem Holzweg zu sein.“ (Martin Heidegger).
Text: Albert Kümmel-Schnur
Bild: pixabay