„Ausflüge gegen das Vergessen“. Die Reaktionen (2)

Das Mahnmal der Grauen Busse in der ehemaligen „Heilanstalt Weißenau”

Wie beurteilt die Fachwelt das Buch „Ausflüge gegen das Vergessen“ von Sabine Bade? Wir haben ExpertInnen um Stellungnahme gebeten: Ist die Publikation tatsächlich so gut, wie wir glauben? Dazu schreiben im zweiten Teil unserer kleinen Reihe Historiker aus Mannheim, Hohenems und Überlingen.

„Eine Fortsetzung wäre zu begrüßen“

In den 1980er und 1990er Jahren veröffentlichte der Frankfurter Studienkreis Deutscher Widerstand sieben nach Bundesländern gegliederte Dokumentationen mit dem Titel „Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu den Stätten des Widerstands und der Verfolgung 1933-1945“. Diese ersten Bemühungen einer lexikonartigen lokal- und regionalgeschichtlichen Darstellung der NS-Verbrechen sowie deren „Nachgeschichte“ bildeten unter anderem die Grundlage für die in den 1990er Jahren von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebene zweibändige Dokumentation „Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus“.

Ganz in dieser Tradition scheint die Publikation von Sabine Bade zu stehen, die eine Vielzahl von Artikeln der Verfasserin vereint, welche zuvor auf der Website www.seemoz.de erschienen waren oder noch erscheinen werden.

Mit dem Fokus auf das südliche Baden-Württemberg skizziert die Autorin unterschiedliche Gedenk- und Erinnerungsorte sowie deren historische Hintergründe in Südwestdeutschland. Ein grenzüberschreitender Blick in benachbarte Regionen in Frankreich, der Schweiz und Österreich rundet die Betrachtung geografisch ab. Ebenso vielfältig wie die räumliche Verortung der einstigen Tat- und heutigen Gedenkorte stellt sich die thematische Bandbreite dar: Bade behandelt in den Beiträgen unterschiedliche NS-Verbrechenskomplexe, deren (meist lange Zeit ausbleibende) Aufarbeitung sowie erinnerungskulturelle Entwicklungen und Spuren bis in die Gegenwart.

Die Allgegenwart des NS-Terrors vor der Haustür

Dabei zielt die Publikation nicht auf ein akademisches Fachpublikum ab, sondern besticht durch eine konzise, allgemein verständliche Darstellung des aktuellen Forschungsstands und der heutigen Gedenkorte, die sich an eine geschichtsinteressierte Öffentlichkeit richtet. Die Beiträge schaffen ein Bewusstsein für die Allgegenwart des NS-Terrors „vor der eigenen Haustür“, wecken Interesse, sich mit der lokalen und regionalen NS-Geschichte sowie deren Nachgeschichte zu befassen und regen zum Besuch der vielen Gedenkorte an.

Haupteingang des KZs Natzweiler-Struthof

„Ausflüge gegen das Vergessen“ ist damit ein wichtiges und äußerst empfehlenswertes Kompendium zur NS- und Erinnerungsgeschichte im deutschen Südwesten und angrenzenden Regionen; ein regionalgeschichtliches Nachschlagewerk für geschichtsinteressierte Einheimische wie auch Tourist*innen, das sich gleichsam hervorragend im Bildungsbereich, etwa zur Vorbereitung eines Gedenkstättenbesuchs durch Schulklassen, einsetzen lässt.

Angesichts der Tatsache, dass allein in Baden-Württemberg heute rund 80 Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen bestehen, kann und will die Publikation freilich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sondern stellt eine exemplarische Auswahl dar. Eine Fortführung der Artikelserie beziehungsweise ein Nachfolgeband wären daher nur zu begrüßen.

Dr. Marco Brenneisen, Historiker, Vorsitzender des Verbunds der Gedenkstätten im ehemaligen KZ-Komplex Natzweiler e.V. (VGKN)

 

Abgründe hinter dem Idyll“

Sabine Bade hat einen ganz besonderen Reiseführer vorgelegt: „Ausflüge gegen das Vergessen“ lädt dazu ein, die Region zwischen Stuttgart und Vorarlberg, Ulm und Basel mit wachem Auge für die Spuren der NS-Geschichte zu erkunden. Da lässt sich hinter dem Idyll in manche Abgründe der Vergangenheit schauen.

Ihr sorgfältig recherchierter Band bietet unterschiedliche Touren mit kleinem und auch größerem Radius zu den unterschiedlichsten Facetten der Erinnerung – zur Jüdischen Geschichte und des Widerstands, zu Zwangsarbeit und Flucht: Themen, die in unserer Gegenwart wieder schmerzliche Aktualität erfahren. Vorgestellt werden Orte institutionalisierter Erinnerung genauso wie Denkmäler und künstlerische Interventionen, klug beschrieben und mit vielen Hinweisen zur Vertiefung versehen. Grund genug, auf Entdeckungsreise in eine oft unbekannte Nähe zu gehen.

Dr. Hanno Loewy, Leiter des Jüdischen Museums Hohenems

 

Nie wieder Faschismus!“

„Alles ist Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.“ Mit dieser Sentenz von Fritz Bauer, Chefankläger bei den Auschwitz-Prozessen in den 1960er Jahren, beginnt das Vorwort Sabine Bades in ihrem auch grenzüberschreitenden Ausflugsführer zu NS-Gedenkorten unserer Region. Die Verbrechen der Nazis haben überall Spuren hinterlassen: Da sind die Orte der Herrschaftsausübung und die Stätten der Unterdrückung und Ermordung von Widerständigen, Jüdinnen und Juden, Sinti, Roma oder Behinderten.

Dass diese Stätten an vielen Orten von ehrenamtlich tätigen Einzelnen und Initiativen entdeckt, gestaltet und betreut werden, ist das typische Charakteristikum der baden-württembergischen Gedenklandschaft. Und diese Engagierten sind in der Regel auch politisch und moralisch orientiert im Sinne von „Wehret den Anfängen!“ – „Nie wieder Faschismus!“ – „Nie wieder Krieg!“.

Nun gibt es eine niederschwellige Gedenkkultur, deren eindrucksvollster Ausdruck die Stolpersteine von Gunter Demnig sind, ein dezentrales „Denk mal“, das überall dort an Verhaftete, Deportierte, Verschwundene und Ermordete erinnert, wo diese zuletzt lebten.

Eine Aufmerksamkeitsstufe darüber stehen die Gedenkorte, zu denen Sabine Bade führen will. Schließlich gibt es noch professionell betreute Gedenkstätten beziehungsweise Museen mit eigenem Personal.

Viele Methoden des Mahnens

Ein „Ausflug“ ist ein touristischer Vorgang, man geht oder radelt oder fährt mit Auto oder öffentlichen Verkehrsmitteln zu einem Ziel. Diese Ziele sind im Fall der NS-Gedenkorte  deprimierende und aufregende Denkanlässe. Statt mit einer schönen Aussicht, gesunder Luft und unbeschwerter Fröhlichkeit wird man mit Düsterem konfrontiert. Man subsumiert dieses Phänomen unter dem Begriff „Dark Tourism“, und es gibt in der Tat Menschen, die in ihrer Freizeit oder ihren Ferien gern Orte von militärischen Schlachten, Umweltzerstörungen, Verbrechen und Folterstätten besuchen (siehe dazu die einschlägigen Forschungen von Albrecht Steinecke zum Komplex „Dark Tourism“, erschienen im selben Verlag wie „Die Ausflüge gegen das Vergessen“).

Im Innern des Goldbacher Stollens

Während dieser Dark Tourism einen gewissermaßen auf einer Geisterbahn zum Gruseln bringt, haben die NS-Gedenkstätten ein darüber hinausgehendes Ziel: aus dem Gruseln soll ein pädagogischer Lerneffekt erwachsen, der die AusflüglerInnen im Idealfall zu einer politischen Haltung bewegen soll, dass in Zukunft derlei nicht mehr möglich sein möge. Dazu sind vielfältige intellektuelle, sinnliche, pädagogische und künstlerische Mittel üblich, und wenn man Sabine Bades Buch durchblättert, stößt man auf Dutzende verschiedener Methoden des Mahnens.

Die Bedeutung sperriger Denkmäler

Allzu oft setzen die GestalterInnen solcher Gedenkorte auf die Macht der Sprache und bedenken dabei nicht, dass sie damit meistens jene gerade nicht ansprechen, die sie erreichen wollen. Viel eindrucksvoller sind sperrige, irritierende, verstörende Denkmäler, die im Weg rumstehen, am Weitergehen hindern, überdeutliche Fragen stellen, statt sie zu formulieren. Ein Beispiel ist das Denkmal des grauen Busses aus Beton, das im Eingangsbereich der „Heilanstalt Weißenau“ mitten im Zugangsweg zur Anstalt steht und die BesucherInnen zum Ausweichen und Nachdenken nötigt. Oder die zwei kleinen Denkmäler, die in Freiburg an die Deportation der badischen JüdInnen nach Gurs im Oktober 1940 erinnern: ein konventionelles Verkehrsschild mit der Zielangabe „Gurs 1027 km“ und ein auf einem Geländer liegengebliebener Mantel aus Bronze.

Dass im letzen Sommer die BesucherInnen der Landesgartenschau in Überlingen auf dem Ausstellungsgelände nicht nur Gastronomiebuden oder Sitzmöbel vorfanden, sondern auch eine Kipplore aus Metall, mag den einen oder anderen darauf gestoßen haben, wie dieses Gelände entstand – und viele machten sich dann auf die Suche nach dem Überlinger KZ.

Im Kapitel über die Insel Mainau wird leider nicht erwähnt, dass auf der Mainau während des Kriegs nicht nur der Kraft-durch-Freude-Tourismus (KdF) blühte, dann die französische Kollaborationsregierung ihren letzten Zufluchtsort hatte und nach dem Krieg befreite KZ-Häftlinge zu ihrer Genesung Aufnahme fanden. Sondern dass dort danach auch Umerziehungskurse des US-amerikanischen Zweigs der YMCA, des Christlichen Vereins Junger Menschen (CVJM), für ehemalige HJ-Führer stattfanden – eine erfolgreiche Maßnahme zur Demokratisierung der verstörten jungen Männer. Auch das gehört zur Geschichte der Mainau und setzt einen positiven Akzent zur Kollaboration des Inselherrn mit den Nazis in Form von KdF oder der Organisation Todt.

Oswald Burger, Initiator der Dokumentationsstätte Goldbacher Stollen in Überlingen

Am Montag veröffentlichte seemoz die Rezension von Karl Schweizer (Lindau).
Am Freitag folgen Beiträge von Markus Barnay (Vorarlberg-Museum Bregenz), Benigma Schönhagen (Institut für geschichtliche Landeskunde Tübingen und Leiterin des Projekts Gräberfeld X) sowie Martin Ulmer (Geschäftsführer des Gedenkstättenverbunds Gäu-Neckar-Alb).

Sabine Bade: „Ausflüge gegen das Vergessen – NS-Gedenkorte zwischen Ulm und Basel, Natzweiler und Montafon“. UVK-Verlag München und Tübingen 2021. 196 Seiten, 22 Euro. ISBN: 978-37398-3106-0 (Print); 978-37398-8106-5 (ePDF).

Alle hier gezeigten Fotos sind aus dem Buch. © Sabine Bade