„Ausflüge gegen das Vergessen“. Die Reaktionen (3)
Nach der Rezension von Karl Schweizer und den Einschätzungen von Hanno Loewy, Marco Brenneisen und Oswald Burger äußern sich nun zwei HistorikerInnen aus Tübingen und ein Bregenzer Politikwissenschaftler und Redakteur zur seemoz-Serie und dem gleichnamigen Buch von Sabine Bade. Wir hatten sie um Stellungnahme gebeten. Hier sind ihre Statements.
„Ein Wegweiser auch zur späten Aufarbeitung“
Sabine Bades „Ausflüge gegen das Vergessen“ reihen sich ein in die neue Aufmerksamkeit, die historische Orte der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft mit dem Ende der Zeitzeugenära erhalten. In der Tat können auch diese Orte „erinnern“, zwar nicht an Selbsterlebtes, aber sie können als Wissensspeicher und -vermittler fungieren. Dafür müssen sie aber wie Objekte „zum Sprechen“ gebracht werden durch die Herstellung des historischen Kontextes. Und das gelingt Sabine Bades kurzen Einführungstexten.
Die 35 ausgewählten Erinnerungsorte bieten ein ebenso zutreffendes wie erschreckendes Bild der Terror-und Willkürherrschaft zwischen 1933 und 1945. Natürlich kann man immer über die Auswahl streiten. Aber letztlich umfasst sie das ganze Spektrum: klassische erste Gedenkstätten für die frühen Konzentrationslager (z.B. das Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg in Ulm) ebenso wie die zahlreichen, oft erst zum Kriegsende eingerichteten KZ-Außenstellen, jüngste Erinnerungsorte für dieEuthanasieopfer (z.B. Ulm, 2019), Erinnerungsorte für einzelne Opfer der Verfolgung (etwa Lilo Herrmannin Stuttgart oder Max Maddalena in Riedheim) ebenso wie kollektive Erinnerungsorte für Gruppen (z.B. Fluchtorte wie Riehen und Feldkirch oder die zentrale Hinrichtungsstelle in Stuttgart), Orte ausgelöschten jüdischen Lebens (z.B. Gailingen) und Grafeneck als Ort für die Krankenmorde.
Täter- und Opferperspektive
Insofern ist die Auswahl repräsentativ für die aktuelle Gedenkstättenlandschaft. Der geographische Raumgreift allerdings mit Stuttgart, Tübingen und Grafeneck. Kehl und Offenburg deutlich über die im Titel annoncierte Bodenseeregion samt Montafon und Elsass hinaus: Deshalb verwundert es, dass Hinweise auf die komplette Liste der über 80 Gedenkstätten von der Landeszentrale für politische Bildung ebenso fehlen wie bei der bei jeder Gedenkstätte angegebenen weiterführenden Literatur der Hinweis auf die Webseite Leo.bw des Landesarchivs, auf der sich mehrere Unterrichtsmodule zu Erinnerungsorten finden, z.B. zur Georg Elser Gedenkstätte. Da Lehrerinnen und Lehrer im Geleitwort Wolfram Wettes explizit als Adressatenangesprochen werden, wäre das sinnvoll gewesen.
Gelungen ist die Verbindung von Täter- und Opferperspektive im Sinne von Saul Friedländers Forderung nach einer integrativen Geschichte selbst auf dem knappen Raum. Bemerkenswert ist auch, dass jeweils die Genese jeder Gedenkstätte dargestellt wird. Damit wird eindrucksvoll die Nachgeschichte und mit ihrdie späte Aufarbeitung klar. Alles in allem also ein notwendiges Vademecum zur Region und ein sinnvoller Wegweiser gegen das Vergessen.
Prof. Dr. Benigna Schönhagen, Institut für geschichtliche Landeskunde Tübingen und Leiterin des Tübinger Projekts Gräberfeld X
„Die ambivalente Geschichte sichtbar gemacht“
Die Ausflüge zu Gedenkorten von NS-Opfern im südlichen Baden-Württemberg und der angrenzenden Schweiz und Österreich laden zur Selbsterkundung ein. Der Konstanzer Politikwissenschaftlerin Sabine Bade gelingt es mit interessanten Texten und anschaulichen Fotos, die ambivalente Geschichte dieser Orte und Regionen sichtbar zu machen, die teilweise unbekannt ist.
Dr. Martin Ulmer, Kulturwissenschaftler und Historiker, Geschäftsführer des Gedenkstättenverbunds Gäu-Neckar-Alb e.V.
„Der wichtige Blick über die Grenze“
Zunächst einmal bin ich, obwohl mir die grundsätzliche Dimension der NS-Verbrechen im süddeutschen und Vorarlberger Raum bekannt ist, doch erstaunt über die im Buch enthaltene Vielfalt an unterschiedlichen Gedenkorten, vor allem aber an Orten, an denen Menschen der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten zum Opfer fielen. So waren mir einige der Konzentrationslager namentlich nicht bekannt.
Was das Buch auszeichnet, sind aber vor allem die gut recherchierten, fundierten und präzise zusammengefassten Informationen über die verschiedenen „Tatorte“ – und über die engagierten Bemühungen um die Errichtung von Gedenkstätten. Es bietet einen Überblick über wichtige Schauplätze der NS-Gewaltherrschaft rund um den Bodensee und noch ein Stück darüber hinaus, an denen man sich heute noch – oder oft genug endlich – über die Gewalttaten, vor allem aber über die Opfer und deren Schicksal informieren kann. Es sind tatsächlich empfehlenswerte „Ausflüge gegen das Vergessen“, die betroffen machen – sowohl wegen der dort begangenen Untaten wie auch wegen der Schwierigkeiten, mit denen zunächst Überlebende, später auch engagierte Mitglieder der Zivilgesellschaft konfrontiert wurden, wenn sie sich für sichtbare Zeichen des Gedenkens und der Erinnerung einsetzten.
Ein exzellenter Führer
Besonders bemerkenswert ist sicher, dass Sabine Bade auch Orte in der Schweiz beziehungsweise an der Grenze mit in ihre Ausflüge einbezieht, an denen die verhängnisvolle, nicht zuletzt durch eine antisemitische, rassistische Stimmung verursachte Abschottungspolitik der Eidgenossenschaft dazu führte, dass Menschen der Deportation und der Ermordung ausgeliefert wurden – so weit sie nicht das Glück hatten, von Menschen wie Paul Grüninger gerettet zu werden, der für seine Menschlichkeit von den Schweizer Behörden bestraft wurde.
Kurzum: Es handelt sich um einen exzellenten Führer zu Gedenkorten zwischen dem Elsaß und Vorarlberg, in dem ich eigentlich nur einen Schönheitsfehler entdecken kann: Die Reihung der Orte im Buch, die sich offenbar an der Chronologie der Untaten an den jeweiligen Orten orientiert, ist ziemlich verwirrend, aber dank der Nummerierungen und der Landkarte letztlich auch wieder nebensächlich.
Dr. Markus Barnay, Politikwissenschaftler, Redakteur von ORF Vorarlberg und Kurator des Vorarlberg Museums Bregenz
Sabine Bade: „Ausflüge gegen das Vergessen – NS-Gedenkorte zwischen Ulm und Basel, Natzweiler und Montafon“. UVK-Verlag München und Tübingen 2021. 196 Seiten, 22 Euro. ISBN: 978-37398-3106-0 (Print); 978-37398-8106-5 (ePDF).
Alle hier gezeigten Fotos sind aus dem Buch. © Sabine Bade