Bahn der Zukunft – Hauptstrecke oder Abstellgleis?

Die gute Nachricht: Mehr Menschen denn je fahren mit der Bahn, der Bedarf und die Mittel, neue Züge zu bestellen, seien vor­han­den. Die schlechte: Das System und die Infra­struktur geraten an ihre Grenzen. So umriss Matthias Gastel, Bundestags­ab­ge­ord­ne­ter und bahnpolitischer Sprecher der Grünen, das Dilemma beim Schienenverkehr zum Auftakt des Bodensee-Bahnforums, zu dem er Partei­kollegInnen aus Landtag und Gemeinderat sowie VertreterInnen von ISBS, VCD und Pro Bahn nach Singen eingeladen hatte.

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Dies ist Teil 1 des Textes, Teil 2 folgt hier.

DB AG – Hoffnungsträgerin in der Klimawende?

Vorab einige Zahlen: 150 Millionen Menschen nutzen pro Jahr die Deutsche Bahn. 33.000 Kilometer Schienen stehen deutschlandweit zur Verfügung, auf denen 500 Fernzüge verkehren. Und die Deutsche Bahn will grüner werden: Bis 2030 sollen sich die Fahrgastzahlen verdoppeln. 62 Milliarden Euro stellt das Bundesverkehrsministerium zur Verfügung, um Gleise, Weichen und Brücken zu modernisieren. Fernverkehrstickets sind seit Jahresbeginn dank Reduzierung der Mehrwertsteuer von 19 auf 7 Prozent etwas günstiger. Die Mittel für Gemeindefinanzierungsprojekte sind von 330 auf 660 Millionen Euro verdoppelt worden und sollen weiter bis auf 2 Milliarden Euro erhöht werden. Die Kostenübernahme des Bundes für regionale Projekte wurde von 60 auf 75 bis sogar 90 Prozent erhöht. Und auch kleinere Bahnprojekte können jetzt gefördert werden. Galt dies bislang erst für Projekte ab 50 Millionen Euro, so steigt der Bund nun bereits bei 10 Millionen Euro ein. Gute Aussichten also für eine zügige Mobilitätswende und die Chance, viel klimaschädliches CO2 einzusparen?

Fehlende Infrastruktur, zu wenig Rollmaterial

Das Problem, auf das Matthias Gastel beim Bahnforum fokussierte, ist nicht erst kürzlich entstanden: Gerade im Kreis Konstanz laufen viele Bahnstrecken – eingleisige und zweigleisige, teilweise nicht elektrifizierte – zusammen, und vor allem die Eingleisigkeit führt zu den häufigen und ärgerlichen Verspätungen. Singen mit 18.000 und Radolfzell mit 13.500 Fahrgästen pro Tag sind zentrale Umsteigebahnhöfe für den Nah- und Fernverkehr. Die aktuellen Planungsstände bei den Betriebskonzepten und dem Ausbau der Infrastruktur zusammenzutragen, aber auch Ideen und Konzepte vor- sowie Öffentlichkeit herzustellen, war Sinn und Ziel seiner Veranstaltung, zu der er nach Singen eingeladen hatte. Teilgenommen haben Ronald Heil, Projektleiter für die Hochrhein- und Bodenseegürtelbahn und Patrick Altenburger, CEO SBB Deutschland (Seehas) als Vertreter der Bahn, die beiden GRÜNEN Landtagsabgeordneten Nese Erikli und Dorothea Wehinger, GRÜNE Gemeinde- und Kreistagsmitglieder, VertreterInnen der Initiative Bodensee-S-Bahn (IBSB), des ökologischen Verkehrsclubs Deutschlands (VCD) und von Pro Bahn, Singens Oberbürgermeister Bernd Häusler und der Meßkircher Bürgermeister Arne Zwick. Themen waren der Ausbau der Gäubahn, der Bodenseegürtelbahn, der Hochrheinbahn, die Seehas-Strecke und die gewünschte Streckenreaktivierung der Ablachtalbahn von Stockach nach Mengen.

Nadelöhr Infrastruktur

Die derzeitige unzureichende Infrastruktur machte Gastel als hauptsächlichen Bremsfaktor aus. Diese sei total ausgereizt, manche Bahnstrecken so dicht getaktet, dass das ganze System schon aus den Fugen geraten könne, wenn sich auch nur ein Zug verspäte. Zum hohen Ausbaubedarf komme noch ein Reaktivierungsbedarf hinzu. Auch bei den Angeboten gebe es durchaus Verbesserungsbedarf, der aber erst realisiert werden könne, wenn die Infrastruktur leistungsfähig sei. Auf der To-do-Liste für die Bahn der Zukunft stehen auch: regelmäßigere Taktangebote, Verbesserung des grenzüberschreitenden Schienenverkehrs und die Gestaltung eines einheitlicheren Auftritts als Bodenseeregion, einfacheres Ticketing und attraktivere Angebote für mehr Bahn und Busse im Tourismus. „Das soll nicht heißen, dass sich nichts tut, es tut sich durchaus etwas, aber es dauert viel zu lange“.

Die Gäubahn – ein Dauerdrama

Mit dem Zug von Zürich oder Singen nach Stuttgart? Geht gut, aber nur, wenn es auf die Ankunftszeit nicht ankommt, denn die Pünktlichkeitsquote auf der Gäubahn liege gerade bei weniger als 70 Prozent. Und die Ausfallquote der dort verkehrenden IC-2-Züge sei fünfmal höher als im übrigen Fernverkehr. Hinzu komme, dass diese IC-2-Züge (Doppelstockwagen) aufgrund inkompatibler Sicherheitstechnik nicht in der Schweiz fahren dürfen und so das Umsteigen in Singen – mit Zeitverlust – notwendig machen.

Beim Ausbau der Strecke Singen – Stuttgart hat sich seit Jahrzehnten nichts getan. Nun gibt es einen ganz kleinen Fortschritt in zumindest nicht allzu ferner Zukunft: Der zweigleisige Ausbau der Strecke Horb – Neckarhausen sei von insgesamt drei verabschiedeten Ausbauabschnitten soweit gediehen, dass die sogenannten Leistungsphasen 1 und 2 (Grundlagenermittlung und Vorplanungen) abgeschlossen seien und die Bahn derzeit die Ausschreibungen durchführe, teilte Ronald Heil von der DB mit. „Man hoffe, dass dies zügig gehe“, so seine Worte. 2023 sei aufgrund der Bauarbeiten mit einer Vollsperrung der Strecke zu rechnen, 2024 könne sie in Betrieb gehen. Doch bringe der Ausbau keine Fahrzeitverkürzung, sondern er diene allein der Steigerung der Stabilität. Alle anderen Bauabschnitte seien in einem früheren Ausbaustadium, bei dem es noch viele Unsicherheiten gebe. Vor allem, weil deren Ausbau von der Entscheidung abhängig sei, ob Neigetechnik eingesetzt werde solle oder nicht.

Matthias Gastel und die beiden Landtagsabgeordneten des Kreises Konstanz Nese Erikli (links) und Dorothea Wehinger beim Bodensee-Bahnforum im Rathaus Singen (D. Heise)

Zankapfel Neigetechnik: Die DB AG und der Bund möchten diese Technik nicht mehr, erklärte Gastel. Die Gäubahn sei aber grundsätzlich für diese Technik geeignet, entspreche allerdings nicht mehr dem neuesten Stand. Die DB möchte lieber die Strecke so ausbauen, dass alle Züge schneller fahren können. Ein Ausbau für beide Technologien würde Kosten im dreistelligen Millionenbereich und eventuell den Bau von neuen Tunnels bedeuten. Zu befürchten steht jedenfalls, dass die Entscheidungsfindung noch dauert und damit der weitere Ausbau in ferner Zukunft liege … Erstaunlich nur, dass im Dezember 2020 die modernisierte Bahnverbindung Zürich – München aufgenommen werden soll, betrieben mit den schnellen SBB-Zügen mit Neigetechnik. Pünktlich noch innerhalb der Vereinbarung des Vertrags von Lugano und mit einer Fahrzeitersparnis von 75 Minuten.

Vertrag von Lugano: Irritierend für die TeilnehmerInnen war die Mitteilung des Bundestagsabgeordneten, dass der 1996 geschlossene Vertrag von Lugano faktisch anscheinend nicht mehr gelte solle. Dieser sah im Rahmen der NEAT (Neue Eisenbahn-Alpentransversale, zur Verbesserung des Eisenbahn-Transitverkehrs in Nord-Süd-Richtung) eine Fahrzeit von 2 Stunden 15 Minuten für die Strecke Zürich – Stuttgart vor. Das Ziel sei ambitioniert gewesen, warum es nicht mehr gelte, bleibe unklar. Das Bundesverkehrsministerium habe auf Gastels Anfrage noch nicht reagiert. Für ihn ist die Reisezeitverkürzung wichtig, um einen weiteren Vorteil gegenüber dem Auto zu haben. Siegfried Lehmann (Gemeinderat in Radolfzell) sieht eine Fahrzeitverkürzung als weniger entscheidend an, ihm sei wichtiger, dass die Züge auf dieser Strecke verlässlich fahren, pünktlich ankommen und die Anschlüsse zu erreichen sind.

Verzweigung der Bahnstrecken Singen – Schaffhausen und Singen – Engen (D. Heise)

Kriegt Singen die Kurve? Bis heute sind die Strecken Singen – Stuttgart und Singen – Zürich nicht direkt verbunden. Gäubahn-Züge aus Stuttgart müssen erst in den Singener Hauptbahnhof einfahren und wieder in Gegenrichtung ausfahren, weil nur so ein Gleiswechsel auf die Strecke nach Zürich möglich ist. Je nach Zug-Typ ist dazu auch ein Umspannen der Lok bzw. ein Lok-Wechsel erforderlich. Eine merkliche Fahrzeitverkürzung zwischen Zürich und Stuttgart könnte nur erreicht werden, wenn Gäubahn-Züge von Stuttgart – Engen künftig direkt auf Höhe des Landesgartenschau-Geländes aufs Gleis Schaffhausen – Zürich (bzw. in Gegenrichtung umgekehrt) geleitet würden, und zwar über die dafür neu zu bauende sogenannte „Singener Kurve“. Gegen diesen Plan hatte sich der Gemeinderat der Stadt bereits 2017 gewehrt, denn es müsste gegebenenfalls ein neuer Bahnhof für den Fernverkehr gebaut werden und Fahrgäste vom und zum Hauptbahnhof müssten umsteigen. Der heutige Hauptbahnhof verlöre damit an Bedeutung. OB Bernd Häusler stellte aber klar, dass auch Singen beim Güterverkehr für diese Singener Kurve sei, aber der Personenverkehr dürfe an der Stadt nicht vorbeifahren. Hier besteht auch Hoffnung: Laut Planungen zum Deutschlandtakt 2030 ist kein Personenverkehr über die Singener Kurve vorgesehen.

Abgekoppelt für Jahre „dank“ Wahnhof Stuttgart 21: Die Hiobsbotschaft, dass etwa ein halbes Jahr vor Inbetriebnahme des Tiefbahnhofs die direkte Zufahrt über die Gäubahn in die Landeshauptstadt unterbrochen werden soll, weil ein Teil des Bahndamms der Panorama-Bahnstrecke umgebaut werden muss, ist bereits bekannt. Der Hauptbahnhof könne dann – laut heutiger Planung – erst wieder angefahren werden, wenn die (bei Stuttgart 21-Kritikern und Umweltverbänden sehr umstrittene) Trassenführung über den Flughafen funktioniere. Da dieser Planabschnitt aber erst deutlich später kommen werde, bedeute dies für mindestens drei Jahre keine durchgehende Verbindung, sondern Endstation für die Gäubahn in Stuttgart-Vaihingen. Sicher ist, dass dann mit Umstieg auf S-Bahnen und Busse etliche weitere Anschlüsse nicht erreicht werden könnten. Den Bahndamm wiederherzustellen, sei relativ einfach möglich, und zwar mit einem einstelligen Millionenbetrag, argumentiert Gastel. „Es ist aber ein Politikum, weil man dann so etwas wie einen Kombi-Bahnhof hätte (den viele fordern), und da sind diejenigen, die Stuttgart 21 mal durchgesetzt haben, sehr strikt dagegen, weil sie Angst haben, sie bekommen dann diese Anbindung nicht mehr los.“ Seine Fraktion wolle, dass die Unterbrechung sehr kurz gehalten werde, wenige Wochen oder allenfalls Monate dauere, nicht aber auf Jahre ausgedehnt werde. Auch der Konstanzer Kreistag wehrt sich mit einer jüngst verabschiedeten Resolution gegen diese Abkoppelung einer ganzen Region. Doch Gastels Kleine Anfrage an die Bundesregierung, ob sie dies unterstütze, sei mit einem lapidaren „Nein“ ohne Begründung beantwortet worden.

Einig waren sich die TeilnehmerInnen des Bahnforums im Singener Rathaus, dass die Deutsche Bahn an der Gäubahn nach wie vor kein Interesse zeige, diese in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung verloren habe und es höchstwahrscheinlich noch schlimmer werde. „Wäre die Gäubahn eine Straße, wäre sie längst durchgehend zweispurig ausgebaut“, lautete das Fazit von MdB Gastel zu dieser Strecke.

Uta Preimesser

Anfangsbild: Dorothea Wehinger und Matthias Gastel mit Michael Groh beim Lokaltermin im Bahnhof Singen (D. Heise)