Bündnis Klinikrettung zum Gutachten für den Klinikverbund Landkreis Konstanz (II)
Die Zukunft der Kliniken des Landkreises Konstanz wird gerade heiß diskutiert. Im Raum steht das Vorhaben, von den vier Kliniken des regionalen Klinikverbunds die Krankenhäuser Radolfzell und Singen zu schließen zugunsten einer Zentralklinik; für das als veraltet bezeichnete Krankenhaus Stühlingen ist eine Schließung absehbar. Hier eine Stellungnahme des „Bündnisses Klinikrettung“.
Teil 2/3, Teil 1 lesen Sie hier, Teil 3 finden Sie hier.
Die Ergebnisse des Gutachtens von Lohfert & Lohfert, auf das sich das „Bündnis Klinikrettung“ im folgenden Text bezieht, finden Sie hier.
Problem 3: Der Vorschlag: Neubau statt Sanierung führt zur Zerstörung vorhandener Potentiale und zu Schäden in Humankapital und Ökologie und enthält hohe Kostenrisiken
Im Gutachten von Lohfert & Lohfert wird die Beibehaltung aller Krankenhaus-Standorte abgelehnt mit den Argumenten: Attraktivitätsverlust und Personalabwanderung; Leistungsverluste; wachsende Ineffizienzen und Verluste; eine veraltete Baustruktur in Singen, Radolfzell und Stühlingen; und Kosten eines „Sanierungsbedarfs“ – gemeint offenbar: Grundsanierung von respektive 105 Mio. €, 86 Mio. € und 26 Mio. €, welche in allen Fällen deutlich über Neubaukosten lägen (S. 17, 21 und 46). Ein für 270 Mio. € zentral gelegener Neubau bringe neben dem für 77,5 Mio € zu sanierenden Klinikum Konstanz in allen diesen Punkten deutliche Vorteile.
Personalabwanderung: Dass Personal abwandere wegen veralteter Krankenhausstrukturen, ist eine pure Annahme. Belegbar ist dagegen, dass bei angekündigten Krankenhausschließungen die betriebliche Atmosphäre sich verschlechtert, dass Teile des Personal vorzeitig abwandern (vorzugsweise jüngere qualifizierte Personen), während andere Teile unbedingt am Ort leben bleiben wollen; und dass in der Folge ein erheblicher Teil der Beschäftigten den Verlagerungen an andere Standorte nicht folgt. Möglicherweise ist ein Klinikneubau für „leitende“ Ärzt:innen attraktiv (Gutachten S. 17). Materielle Stützung von fachlichen Kooperationen statt betriebswirtschaftschlich gegründeter Konkurrenz verbessert die Attraktivität des Standortes. Grundsanierungen bestehender Häuser erschweren sicherlich zeitweise die Arbeit und bringen Unruhe unter dem Personal. Dies wird aber gegenüber den Umständen einer Verlagerung bzw. Verlegung des Lebensmittelpunkts im Gutachten nirgends abgewogen.
Leistungsverluste: Als Argument könnte allenfalls die Nichterstattung von Behandlungskosten bei Unterschreitung von Mindestmengen bei bestimmten Diagnosen bzw. Behandlungen gelten – deren endgültige Regelung steht aber ebenso wie eine grundlegende Neuordnung des Abrechnungssystems noch aus. An etlichen Stellen wird im Gutachten darauf angespielt (S. 25 u. 32), Argumente finden sich aber nicht.
Veraltete Baustrukturen in den drei Krankenhäusern: Das Gutachten gibt S. 96-100 Einsichten aus Begehungen wieder. Diese beziehen sich aber ausschließlich auf Baualter und -strukturen und Haustechnik. Zur medizinischen und Versorgungsinfrastruktur gibt es nur wenige Hinweise, eine Bestandsaufnahme fehlt, insbesondere werden Geräteausstattung und Modernisierungen der letzten Jahre nirgends bewertet. Die Schätzungen der Sanierungskosten der drei Häuser sind im uns zugänglichen Gutachten nicht detailliert und insofern nicht überprüfbar. Die für den Neubau zwischen Radolfzell und Singen in der Pressemitteilung des Landkreises genannten Kosten von 270 Mio. Euro1 sind – bei einer voraussichtlichen Größenordnung von über 500 Betten als Ersatz für 448 und 147 Betten – unglaubhaft niedrig.
Grundsätzlich führt jeder Krankenhaus-Neubau dieses Kalibers zu einer enormen Vergeudung von knappen Umwelt-Ressourcen (Beton, Stahl, Glas, Energie etc.) und ökologischen Schäden, die weit höher sind als bei einer Sanierung am Standort. Die verbliebenen Klinikgebäude können nur teilweise umgenutzt werden, der Rest verfällt und wird im Zweifelsfall abgerissen. Durch Verlagerung zweier Häuser an einen neuen Standort werden bestehende Lebens- und Arbeitszusammenhänge zerrissen. Die Ankündigung zweier Schließungen führt zur Abwanderung gerade von jüngerem und qualifizierterem medizinischem und Dienstleistungs-Personal, und je näher die Schließung rückt, desto mehr erodieren Arbeitsmotivation und medizinische und bauliche Infrastruktur2. In einem Neubau muss arbeitsbelastend eine Vielzahl neuer Beschäftigter eingearbeitet werden. Eine Grundsanierung der Häuser kann vorhandene Leistungspotentiale erhalten und Abwanderungstendenzen aus den Krankenhäusern und der Region weit mehr entgegenwirken als die Aussicht auf einen in acht bis zehn Jahren entstandenen Neubau (entgegen der durch nichts belegten Behauptung im Gutachten S. 17). Sanierung wird neuere Modernisierungen erhalten, statt sie durch Schließung zu vernichten.
Nun zur Kostenfrage bei der Alternative ‚Sanierung oder Neubau‘. Die uns bekannte Geschichte von Zentralklinik-Planungen ist eine Geschichte kontinuierlicher Kostensteigerungen. Darauf verweist vor allem das bisher größte Projekt in Baden-Württemberg. Für zwei neue Zentralkliniken sowie einen Erweiterungsbau mit Sanierung im Landkreis Ortenau hatte die Firma Lohfert & Lohfert 2018 Gesamtkosten von 504 Mio. Euro errechnet – das war die Entscheidungsbasis des Landkreises für das Projekt. Ein Jahr später kam die Firma Teamplan auf 720 Mio. Euro. Unterschätzte Bau- und Modernisierungskosten wurden korrigiert, notwendig war ein erweiterter Bettenplan, nichtklinische Nutzungen in den stillgelegten Krankenhäusern kamen hinzu, Baukostensteigerungen bis zur Fertigstellung Ende der 2020er Jahre mussten berücksichtigt werden – so lagen schon 2019 die Kosten für das Gesamtprojekt bei gut 1,3 Mrd. Euro. 2021 war die Hälfte der prognostizierten Kostensteigerung schon ‚verbraucht‘, sonstige Steigerungen (wahrscheinlich auf ca. 1,5 Mrd. Euro) werden nur teilweise kommuniziert.3 Ähnlich die Geschichte der Baukostensteigerungen für die geplante Zentralklinik Gerorgsheil/Uthwerdum (814 Betten), die drei zu schließende mittelgroße Krankenhäuser in Ostfriesland ersetzen soll. Binnen drei Jahren wuchsen die veranschlagten Kosten von 250 Mio. Euro auf 500 Mio. (Herbst 2021) und dann auf 720 Mio. Euro (Feb. 2022)4.
Auch Grundsanierungen von Krankenhäusern kennen Kostensteigerungen, aber diese sind besser beherrschbar, da weit früher als bei Groß-Neubauten begonnen werden kann (u.a. da man vor Ort in Ergänzung zu vorhandenen Infrastrukturen arbeiten und haushalten kann und im Konzept nach Bedarf beweglicher ist. Zudem können die Maßnahmen mit dem Personal abgestimmt werden, was sicherlich zu dessen Zufriedenheit beiträgt. Ein Beispiel hierzu: Das Kreiskrankenhaus Alsfeld hatte über Jahre hin für notwendige Investitionen in seinem 185-Betten-Haus nur „Mini-Zuschüsse“ vom Land Hessen erhalten – nach KHG sind eigentlich alle Bundesländer zur vollen Finanzierung notwendiger Krankenhausinvestitionen verpflichtet5. Nach jahrelangen Diskussionen hatte sich der Vogelsbergkreis im Jan. 2021 für einen Neubau entschieden – Kosten 65 Mio. Euro, gegenüber 70 Mio. Kosten einer Grundsanierung. Vom Land kommt ein Kredit (!) von 13 Mio. Euro und jährliche 1,2 Mio. Euro Pauschal-Investitionsförderung. Die Neubaukosten sind bis Jan. 2022 auf 98 Mio. Euro gestiegen, Ursache: „explodierende Baupreise“, aber auch ein erhöhter Platzbedarf; hinzu kommen Instandhaltungskosten von 10 Mio. und Planungskosten von 4,8 Mio. Euro. Nun kehrt der Kreis zur Sanierung zurück plus einem Ergänzungsbau; der Kostenrahmen von 65 Mio. Euro ist bindend.6
Es wäre gut, wenn im Gutachten, neben den mehr oder – meist – minder ertragreichen Prognosen (s. Teil 2 und 6) auch Prognosen der Krankenhaus-Baukosten gebracht worden wären, die Lohfert & Lohfert sicher in seinem reich ausgestatteten Datenschrank hat.
Ein letzter Punkt: Für das Krankenhaus Stühlingen wird alles offen gelassen, Bau und Ausstattung werden freilich (S. 101) sehr negativ bewertet, hier erscheinen die aufgeführten Sanierungskosten (s.o.) wiederum relativ mäßig. Eine Schließung dort ist schon im Gespräch7. Sie würde für 14.000 Einwohner der Landkreise Konstanz und Waldshut und für Rettungseinsätze zu Fahrzeiten von mehr als 30 Minuten in das nächste Krankenhaus führen8. Hier ist eine Einigung zwischen beiden Landkreisen nötig, die angesichts der mäßigen Sanierungskosten (allerdings müsste die Wiedereinrichtung einer Notaufnahme einbezogen werden) und des Gesamtvolumens des Vorhabens machbar erscheint.
Problem 4: Die behaupteten Probleme von Doppelstrukturen werden im Gutachten nicht belegt. Damit fällt eine zentrale Begründung für die geforderte Schließung weg.
Das Gutachten geht auf mehreren Seiten auf Doppelstrukturen ein. Dabei behauptet es, dass die jeweiligen Betriebsgrößen der einzelnen Abteilungen nicht wirtschaftlich sein können.9 Weiter führt das Gutachten aus, dass diese vergleichsweise kleinen Abteilungen neben den infrastrukturellen Defiziten die Haupttreiber des negativen Jahresabschlusses seien.10 Im Rahmen der Darstellung der drei Szenarien sollen diese Doppelstrukturen beseitigt werden.11
Auf keiner dieser Seiten werden diese Doppelstrukturen im Detail belegt. Beispielhaft wird auf den Seiten 12 und 74 im Zusammenhang der Linksherz-Katheter-Untersuchung auf solche Doppelstrukturen verwiesen. Dabei ist festzustellen, dass laut Klinikradar12 keine Doppelstrukturen, sondern notwendige, weil benötigte Strukturen vorhanden sind. In der Klinik Singen wurden danach aktuell 1.780 Fälle untersucht, in Konstanz 570. An allen Standorten werden ausreichend medizinische Untersuchungen durchgeführt, um genügend Expertise zu haben. Zudem sind Doppelstrukturen die logische Konsequenz einer wohnortnahen Versorgung. Im Gutachten dominiert die wirtschaftliche Sichtweise über die patienten-orientierte Versorgung.
Bei der weiteren Betrachtung der medizinischen Fachbereiche, die die Kliniken anbieten, stellt sich heraus, dass die jeweiligen Bereiche innere Medizin, allgemeine und Viszeralchirurgie sowie die Gefäßchirurgie und zu guter Letzt Orthopädie und Unfallchirurgie diejenigen Bereiche sind, die überall zu finden sind. Jeder dieser Bereiche hat aber einen besonderen Schwerpunkt. In Radolfzell ist z.B. der interdisziplinäre Fachbereich Diabetologie mit dem Schwerpunkt Fußchirurgie hier zu erwähnen.
Zudem gibt es im Krankenhausplan einen Versorgungsauftrag, der ein breites und gutes Angebot der Kliniken zur Versorgung sicherstellen soll.13
Text: MM/red, Bild: O. Pugliese
Anmerkungen
2 https://www.gemeingut.org/?s=Krankenhausschlie%C3%9Fungen+als+Prozess
3 https://ortenau2030.de/ – Broschüre Agenda 2030, S. 17; https://www.lahrer-zeitung.de/inhalt.neubau-der-ortenauer-kliniken-explodierende-baukosten-fressen-puffer-auf.762b7dcc-7599-4ce0-a175-eccf6dde1589.html (18.2.22)
4 https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/oldenburg_ostfriesland/Zentralklinik-in-Ostfriesland-soll-nun-720-Millionen-kosten,zentralklinik124.html (25.2.2022); https://osthessen-news.de/n11662311/landrat-goerig-einen-kompletten-krankenhaus-neubau-wird-es-wohl-nicht-geben.html (21.1.22)
5 Der interviewte Landrat verweist in diesem Zusammenhang auf 500 Mio. Euro, die dem privatisierten Uniklinikum Gießen-Marburg zugesagt wurden. Im Land Hessen stagnierten die KHG-Investitionsfördermittel zwischen 2004 und 2019 ungeachtet zwischenzeitlicher Preissteigerungen; dennoch verzeichnet es, als einziges Land neben Schleswig-Holstein (+4,1%), von 1991 auf 2020 ein reales Wachstum der Fördermittel von +4,9% wegen Steigerungen 1992 bis 1999. Baden-Württemberg lag 2020 real immer noch um -14,2% unter dem Niveau von 1991, deutliche Erhöhungen gab es (absolut) nur von 2013 bis 2016 (Deutsche Krankenhausgesellschaft, Hg.: Bestandsaufnahme zur Krankenhausplanung und Investitionsfinanzierung in den Bundesländern 2020, Stand: April 2021; Berlin, S. 82 u. 115f.)
6 https://www.giessener-allgemeine.de/vogelsbergkreis/wird-krankenhaus-neubau-13957576.html (28.1.21);
7 https://www.badische-zeitung.de/die-klinik-hat-kaum-chancen–211980378.html abger 24.4.2022
8 https://www.gkv-kliniksimulator.de/downloads/simulation1/Kurzbericht_GVE_2021_303403.pdf
9 Vergl. Seite 12, S. 20, S. 74 (Wiederholung der S. 12); S. 139 (Wiederholung der S. 20)
10 Vergl. Seite 25
11 Vergl. Seite 134
12 https://klinikradar.de/herzkatheteruntersuchungen/kliniken/baden-wuerttemberg/, geladen am 24.04.2022.
13 Vergleiche Seite 42