Das Rad muss man nicht neu erfinden
In den nächsten Tagen gibt es zwei Werbeaktionen, die den KonstanzerInnen das Radfahren schmackhafter machen sollen – nein, nicht was Sie erträumen, es gibt keine breiteren Radwege, sichereren Abstellanlagen oder ähnlich Zweckmäßiges. Aber Sie dürfen auf dem Gebhardsplatz bis zu zwölf E-Lastenfahrräder probefahren und zudem im Herbst am „Stadtradeln“ teilnehmen. Letzteres ist eine dieser Werbemaßnahmen, mit denen uns die Obrigkeit klimafreundliches Verhalten schmackhaft zu machen versucht.
„Den Großeinkauf erledigen, die Kinder in die Kita bringen, im Frühling Pflanzen für den Balkon besorgen – dafür braucht man längst kein Auto mehr, sondern lediglich ein Lastenrad“, heißt es gut gelaunt in einer städtischen Medienmitteilung. Um noch mehr BürgerInnen vom Lastenrad als Alternative zum PKW zu überzeugen, kommt die Cargobike Roadshow erneut am Samstag, dem 12. September, von 9 bis 14 Uhr auf den St.-Gebhard-Platz nach Konstanz. Dort können Interessenten die Räder dann probefahren. Das alles wird von der Arbeitsgemeinschaft Fahrrad- und Fußgängerfreundlicher Kommunen in Baden-Württemberg e.V. (AGFK-BW) initiiert, der Konstanz vor ein paar Jahren beigetreten ist.
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Lumpen, Knochen, Eisen
Lastenfahrräder bieten in der Tat ein erhebliches Potenzial für die Mobilitätswende, und E-Bikes erlauben sogar das Anfahren unter Last am Berg, auf Brückenauffahrten und an anderen Problemzonen. Dabei ist das Lastenfahrrad keine neue Erfindung, sondern eher die Wiederbelebung einer seit den sechziger Jahren im Gefolge automobiler Wahnvorstellungen ausgestorbenen, aber eigentlich höchst nützlichen Gattung: Bereits Ende des 19. Jahrhunderts waren Lastenräder weit verbreitet – vor allem unter Händlern und Kurieren, die die Lademöglichkeiten der Räder für ihr Gewerbe nutzten. Noch in den frühen neunzehnsechziger Jahren gehörte der Bäckerjunge auf dem Lastenfahrrad ebenso zum vertrauten Straßenbild wie der Lumpensammler, der seinen Köter vor seinen Handwagen gespannt hatte und zum Klang seiner Handglocke „Lumpen, Knochen, Eisen“ rief, oder der dank des Haustrunks meist besoffene Brauereikutscher, dessen Pferd den Weg zu den nächsten Kneipen auch allein fand, während er sich auf sein nicht vorhandenes Innenleben konzentrierte.
Lastenfahrräder sind gerade in städtischen Gebieten ein ideales Transportmittel für viele Aufgaben. Für Privatmenschen ist es aber oft schwierig, für ein teures und ausladendes Lastenrad einen geeigneten Abstellplatz zu finden, weil sich die Dinger schlecht eine Treppe hoch- oder runtertragen lassen. Als private Transportmittel dürften sie sich wohl erst dann flächendeckend durchsetzen, wenn Autoparkplätze für sie umgewidmet und mit entsprechenden Sicherungssystemen und Wetterschutz ausgestattet werden. Und wer schon einmal versucht hat, mit einem Lastenrad auf den teils lächerlich schmalen Radwegen entlang der Spanier- und Reichenaustraße zu fahren, kennt eine Todesart mehr als die meisten seiner autofahrenden Mitmenschen.
Radelt gefälligst!
Die Stadt Konstanz macht dieses Jahr erstmalig bei der Aktion „Stadtradeln“ mit und will für das Klima in die Pedale treten. Der Wettbewerb hat das Ziel, möglichst viele Menschen für das Umsteigen auf das Fahrrad im Alltag zu gewinnen und dadurch einen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten. Das alles ist eine bundesweite Kampagne des Klima-Bündnisses der europäischen Städte mit indigenen Völkern der Regenwälder | Alianza del Clima e.V., welche erstmals 2008 stattfand. Dieses Jahr ist Konstanz vom 20.09. bis 10.10.2020 mit von der Partie.
Während des Aktionszeitraums geht es darum, so viele Wege wie möglich mit dem Rad statt mit dem Auto zurückzulegen und auf diese Weise zur CO2-Vermeidung beizutragen. Radelnde können sich über die Stadtradeln-Seite registrieren, einem Team beitreten oder selbst eines gründen und dann während des Aktionszeitraums ihre zurückgelegten Kilometer eintragen. „Die Stadt freut sich über jeden Kilometer, der in Konstanz mit dem Fahrrad zurückgelegt wird. Ob Radfahrerin aus Überzeugung, Fahranfänger auf dem Rad, Pedelec-Fan, Sportradler, Fahrradmietsystem-Nutzerin oder Lastenrad-Einkäufer: Jeder Kilometer zählt!“ Nach Angaben der Veranstalter folgten im letzten Jahr über 400.000 Menschen aus 1.127 Kommunen ihrem Aufruf und legten mehr als 77 Millionen Kilometer auf dem Fahrrad zurück, was ziemlich genau der Hälfte des mittleren Abstandes zwischen Erde und Sonne entspricht.
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So nehmen Sie teil
Mein Tipp: Tragen Sie in der Zeit des Stadtradelns wirksame Ohrenschützer. Das Team vom Amt wird nämlich vermutlich den ganzen Tag durch die Stadt pesen, um Kilometer zu fressen und die Ehre unserer stolzen Stadt zu verteidigen. Dabei dürfte ein ambitionierter Radverkehrsbeauftragter immer wieder mal für einen deftigen Überschallknall sorgen.
Neben der Stadt Konstanz und dem Landkreis Konstanz nehmen auch weitere Kommunen aus der Gegend am Stadtradeln teil. Sie können sich hier für die Radelei registrieren. Geben Sie in das Suchfeld „Konstanz“ ein, werden Ihnen alle beteiligten Kommunen aus dem Landkreis angezeigt.
Sie treten bei der Registrierung einem Team bei oder gründen ein neues – Teams können aus Vereinen, Firmen, ein paar FreundInnen, einer Familie oder wem auch immer gebildet werden. Die TeilnehmerInnen tragen dann ab 20.9. ihre geradelten Kilometer ein (nicht schummeln!), die letztlich in das Gesamtergebnis einfließen. Mit einer App können Sie Ihre Kilometer auch automatisch erfassen lassen. Mit etwaigen Fragen wenden Sie sich bitte an die Mobilitätsmanagerin Judith Maier, judith.maier@konstanz.de, Telefon 07531 9005563.
MM/red (Bild: Klima-Bündnis)
Die Radwege entlang der Spanier- und Reichenaustraße sind nicht einfach nur „lächerlich schmal“ – sie sind schlicht illegal!
Ich wiederhole einfach mal meinen Beitarg im Seemoz vom 11.03.2020:
Tja ja, der ach so schicke neue, jedoch illegale, Radweg (Breite: überwiegend um ca. 108-114cm!!!) an der Reichenau- und Spanierstrasse…
Dass dieser illegal ist, ist ja eigentlich soweit klar, heißt es doch in der entsprechenden Verwaltungsvorschrift: „Die Breite von Radwegen beträgt nach VwV-StVO mindestens 150 cm, möglichst 200 cm, bei linksseitigen Radwegen mindestens 200 cm, möglichst 240 cm
Nun findet sich aber im Kuriositätenkabinett der deutschen Justiz auch Folgendes:
Viele Kommunalverwaltungen schildern demzufolge Radwege rechtswidrig benutzungspflichtig aus. Meist, weil sie die Radwege nicht auf die 1997 und 2013 geänderte Gesetzesgrundlage hin neu überprüft haben. Trotzdem müssen aber die Radwege benutzt werden, da auch rechtswidrige Verwaltungsakte (das Anbringen eines Verkehrsschildes ist ein solcher) wirksam sind.
(aus Wikipedia/Radverkehrsanlage/Benutzungspflicht)
Und völlig unverständlich ist nach wie vor, daß die jüngste Sanierung dieses Strassenabschnittes nicht auch endlich dazu genutzt wurde, einfach das Naheliegendste, das Notwendige zu tun und zumindest mal eine der vier Kfz.-Fahrspuren (die Seerheinseitige?!) zum Radweg umzuwidmen. Wo in Konstanz böte sich denn dies NOCH naheliegender an? Kein Mensch braucht hier vier Spuren! Der Kfz.-Verkehr wird ja eh alle paar Meter, an jedem Kreisverkehr wieder auf zweispurig runtergeschleust!
https://archiv.seemoz.de/lokal_regional/ueberholspur-fuer-fussgaenger/comment-page-1/
Woher die ganzen Lastenfahrräder kommen? Diese Frage stellten sich 2015 die Bewohner des Ruhgebietes in Herne. Im Rahmen der Energiewende Ruhr testeten lokale Unternehmen, wie ApothekerInnen, BlumenhändlerInnen oder HandwerkerInnen, sieben Monate lang für den kommerziellen Lastenverkehr konzipierte Prototypen. Auch in Berlin gab es vor Jahren schon zahl- und erfolgreiche Testversuche (selbst für Schornsteinfeger – leider noch nicht für Bestattungsunternehmen).
Ein seit 2014 am Thema arbeitendes Team der Zeppelin-Universität Friedrichshafen ( Lea Heinrich +(?) Schulz) waren begeisterte Initiatoren und wissenschaftliche UnterstützerInnen, die bis in die jüngste Zeit das Projekt voranbrachten:
Projektbericht Herne: https://www.zu.de/lehrstuehle/cfm/assets/pdf/Projektabschlussbericht_A0_HELFI_0417.pdf
Baden-Württemberg fördert(e) später Kauf oder Leasing mit 30 Prozent und die Bundesregierung zahlte eine Kaufprämie speziell für große Schwerlasträder. Das Center for Mobility Studies der Zeppelin Universität und die Messe Friedrichshafen luden 2018 Unternehmen und Institutionen ein, neueste E-Lastenräder auf der EUROBIKE kennenzulernen. In Konstanz blieben Ruf und Projekt bis heute scheinbar unbekannt und das fröhliche Fahrradklingeln blieb bei Uli Burchardt und seinen Verwaltungshelden unerhört. Wie gut nur, dass wenn es für den Oberbürgermeister bei der kommenden Wahl um die Wurst geht schnell ein Zukunftsgedanke aus dem Hut oder Tiefschlaf gezaubert werden kann.