Demografischer Wandel in Litzelstetten: Aufgaben für die kommenden 20 Jahre
Wie wird Litzelstetten in zwanzig Jahren aussehen? Nicht nur für Statistiker ist diese Frage von Interesse. Auch die Kommunalpolitik ist auf Bevölkerungsvorausrechnungen angewiesen, um frühzeitig mit entsprechenden Maßnahmen reagieren zu können. Dass unser Vorort eine besondere demografische Entwicklung nehmen wird, hatten bereits die Erhebungen aus den letzten Jahren gezeigt. Im Ortschaftsrat präsentierte nun Eberhard Baier aus dem Konstanzer Rathaus anhand frischer Befunde die voraussichtliche Entwicklung von Einwohnerzahl und Zusammensetzung der Bürgerschaft.
Litzelstetten zwischen 1995 und 2020
Bereits die Vergangenheit machte deutlich, dass unser Teilort von weitaus weniger Zuwachs profitieren kann als die Gesamtstadt. Aus unterschiedlichen Aspekten bliebt die Zahl der Einwohner im Dorf seit 1995 weitgehend konstant. In der Kurve sind kaum Schwankungen zu erkennen, was sich auch in der relativen Zunahme zeigt: In den letzten 25 Jahren kamen lediglich 2 % an Bürgern hinzu, währenddessen Konstanz insgesamt um knapp 20 % wuchs. In konkreten Zahlen bedeutet dies, dass Litzelstetten in jenem Zeitraum nur 79 Bewohner hinzugewonnen hat, in ganz Konstanz waren es deutlich über 10.000 Personen. Dieser Umstand ist wesentlich der Frage von erheblicher Diskrepanz in der Ausschreibung von Neubaugebieten und des fehlenden Wohnraums für junge Familien, aber auch ersten Tendenzen einer alternden Gesellschaft zu verdanken. Weitere Ursachen könnten eine zunehmende Nutzung von Gebäuden als 1-Personen-Haushalte, die Mietpreisentwicklung und ausbleibende Flächen auf der Gemarkung Litzelstetten sein, die als Bauland in Frage kommen könnten. Letztlich zeigt die Seitwärtsbewegung in der Litzelstetter Bevölkerungsentwicklung zwar Stabilität, aber keine wachsende Peripherie.
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Methodik der Bevölkerungsvorausrechnung
Um zu möglichst präzisen Zahlen für die Vorausrechnung der Einwohnerschaft zu kommen, erläuterte Eberhard Baier den Ortschaftsräten die Entstehung einer entsprechenden Statistik. Von einem Ursprungsjahr ausgehend (hier: 1995) wird zunächst in Fortschreibungen die Zahl der Geburten und der Verstorbenen berücksichtigt. In weiteren Erhebungszeiträumen wird die Zuwanderung in die Stadt, inklusive der Zuzugspotenziale aus dem Ausland (hier: 2013/2014, 2017/2019), und die Abwanderung nach außerhalb und in der Stadt (hier: 2010 – 2019) erfasst. Aus diesen Daten wird eine Hochrechnung für das Prognosejahr 2040 erstellt, die weitere Faktoren (wie den zu erwartenden Neubau von Wohnraum) einbezieht. Daraus ergeben sich unterschiedliche Szenarien: Wird der Blick vornehmlich auf Geburten und Sterbefälle sowie die Zu- und Abwanderung gerichtet, ergibt sich eine Bevölkerungspotenzialprognose, die von der Annahme ausgeht, dass für jeden Haushalt in Konstanz genügend Wohnraum zur Verfügung steht und damit keinerlei wohnungsmarktbedingte Abwanderung zu erwarten ist. Wird hingehen die Errichtung von Häusern und Wohnungen in den Mittelpunkt gestellt, folgen daraus zwei Baulandprognosen, die einerseits vom optimistischen Fall ausgeht, dass das vorgesehene Neubauprogramm zu 100 % umgesetzt werden kann – im anderen Fall wird vom Erreichen von 2/3 des geplanten Neubaus ausgegangen.
2040: Konstanz wächst, Litzelstetten stagniert
In Konstanz wurden im Zeitraum von 1995 bis 2020 nahezu konstante Geburtsraten sowie Sterbefallzahlen verzeichnet. Zuzüge und Wegzüge klettern beinahe proportional bis 2015, seitdem fallen beide Variablen ab, sodass in den letzten drei Jahren ein leichter Trend zu mehr Wegzügen als zu Zuzügen verzeichnet werden konnte. Für die Bevölkerungsvorausrechnung konnte für die Gesamtstadt Konstanz nun ermittelt werden, dass bis zum Jahr 2040 ein Potenzial zum Wachstum auf knapp 100.000 Einwohner möglich ist. Bezieht man allerdings die Baulandvarianten ein, relativiert sich die Zahl auf 94.379 bis maximal 97.993, was einer Steigerung um 8.047 (+ 9 %) beziehungsweise 11.47 Einwohnern (+ 13 %) entspricht. Zum Vergleich: 2019 hatte Konstanz einen Einwohnerbestand von 86.332 Personen. Für Litzelstetten gehen die möglichen Entwicklungen in der Theorie weit auseinander: Während die Bevölkerungspotenzialprognose bis 2040 einen Anstieg auf 2.400 Einwohner für möglich hält, bremsen die Baulandprognosen die Erwartungen deutlich: Sie gehen bis Mitte der 2020er-Jahre von einem leichten Bevölkerungswachstum aus, im besten Falle auf knapp 4.000 Einwohner. Anschließend markieren die beiden Szenarien einen harten Einbruch der Einwohnerzahlen auf 3.814 bis 3.886 – und liegen damit nur geringfügig höher als die Zahl der Bürger im Augenblick.
Bevölkerungsentwicklung nach Altersgruppen
Ausschlaggebend für diese Berechnungen sind auch die prognostizierten Neubauwohnungen im Ort. Während von 2024 bis 2026 zwischen 26 und 28 zusätzlicher Wohnungen im Jahr ausgegangen wird, sind danach bis einschließlich nach 2040 maximal 1 bis 2 Neubauwohnungen pro Jahr zu erwarten. Wesentlich für den Schub in den kommenden Jahr wird das neue Quartier am Marienweg sein. Mit dem nächstgrößeren Wachstum an Neubauwohnungen ist dann erst wieder ab 2040, beispielsweise in der Raiffeisenstraße, zu rechnen. Besondere Auswirkungen hat die spezielle Situation des Teilortes auf die Zusammensetzung der Bevölkerung: Vergleicht man die beiden Vorausrechnungen aus 2016 von „Häusser“ und aus 2020 von „empirica“, ist bei den Jüngsten bis 2040 eine weitgehende Seitwärtsbewegung zu erkennen. Sowohl die Zahl von unter 3-Jährigen, aber auch die von drei- bis sechsjährigen Einwohnern entwickelt sich in beiden Vorhersagen nur langsam nach unten und dürfte für den Prognosezeitraum auf jeweils 80 absinken. Deutlich markanter sieht der Rückgang bei den sechs- bis zehnjährigen Litzelstettern aus: Bis Mitte der 2020er-Jahre steigt ihr Anteil auf gut 130 Einwohner, um danach kontinuierlich bis auf 110 zurückzugehen. „empirica“ sieht den Abfall dabei weniger drastisch als „Häusser“. Bei den 10- bis 18-Jährigen ist der Rückgang der Bevölkerungszahlen ab 2030 signifikant: Von rund 250 Jugendlichen wird deren Zahl auf etwa 230 in 2040 zurückgehen. In den hohen Altersgruppen zeigt sich ein umgekehrtes Bild: Bei den 65- bis 80-Jährigen nimmt die Zahl von derzeit gut 700 auf über 800 in 2038 zu. Bei den über 80-Jährigen zeigt „empirica“ einen deutlich geringeren Wachstum als noch „Häusser“: Nach dem heutigen Stand wird ihre Zahl von heute 300 bis nach 2040 nicht auf über 400 ansteigen, wie ursprünglich angenommen. Dennoch ist ein massiver Zuwachs auf 380 zu erwarten. Besonders dramatische Zahlen sind für das mittlere Alterssegment anzunehmen: Zwischen 2019 und 2040 wird die Gruppe aus 50- bis 65-Jährigen von 900 auf rund 750 abnehmen, während die der 25- bis 50-Jährigen weitgehend gleichbleibt.
Annahmen der Bevölkerungsvorausrechnung
Für die Bevölkerungsvorausrechnung wurden unterschiedliche Annahmen als entsprechende Grundlage genutzt: Demnach gehen die Empiriker davon aus, dass die Zahl der Weggänge aus Konstanz über die kommenden zwei Jahrzehnte stabil bleiben wird. Eine Ausnahme bilden allerdings die wohnungsbedingten Wegzüge. So stellten sich 2019 etwa 12 Prozent aller Abwanderungen als Umzüge in das städtische Umland oder den Landkreis dar. Auszugehen ist, dass dabei bis 2040 etwa drei Viertel der der Jugendlichen und der 25- bis 40-Jährigen gehalten werden können. Beim Rest der Bevölkerung sind es 33 Prozent. In Richtung umliegender Landkreise wie den Schwarzwald-Baar-Kreis oder in den Bodenseekreis sind 2019 etwa 10 Prozent aller Wegzüge aus Konstanz zu verzeichnen gewesen. Auch in dieser Gruppe sind es künftig besonders junge Menschen, die gebunden bleiben, während das mittlere Alterssegment zu 20 % gehalten werden kann. Bei den Abwanderungen in Richtung Schweiz wird die Hälfte der jungen Menschen zwischen 18 und 25 gebunden bleiben, 20 % sind es unter der restlichen Bevölkerung. Abschließend wird für die Berechnung der Baulandvarianten von der Überlegung ausgegangen, dass in Einfamilienhäusern vor allem Familien mit durchschnittlich 3,8 Bewohnern (davon 1,8 Kinder) wohnen werden – während es in Mehrfamilienhäusern (MFW) zu den bereits genannten „älteren Haushalten“ kommen wird, also dem Bezug von Etagenwohnungen durch einzelne hochbetagte Personen, was zu durchschnittlichen Bewohnerzahlen in MFW von 2,4 Personen mit 0,8 Kindern führt.
Der Ortschaftsrat wird anhand dieser Datenlage damit beginnen, entsprechende Konzepte zu erarbeiten, um auf die Bevölkerungsentwicklung zu reagieren. Im Anschluss an die Präsentation von Eberhard Baier wurden bereits erste Überlegungen ausgetauscht und Maßnahmen angedacht, die in den nächsten Monaten angestoßen werden könnten. Zu fragen ist dabei offenkundig: Welche Konsequenzen sind aus den Zahlen für den Neubau von Wohnraum zu ziehen? Wie kann das mittlere Alterssegment in Litzelstetten gehalten werden? Wie kann angesichts der Zahlen die Infrastruktur und Nahversorgung aufrecht erhalten bleiben? Wie steht es um die Grundschule und Kindertagesstätten? Welche Angebote braucht es für die ältere Generation? Welche Rolle können dabei die Vereine spielen? Wie schaffen wir ein barrierefreies und gleichzeitig familienfreundliches Litzelstetten? Und wie erlangt Litzelstetten mit seinen Diversitäten auch künftig Beliebtheit bei den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen? – All das dürfte unter Beteiligung der Bürgerschaft in den kommenden Jahren diskutiert werden. Wegweisend dabei wird sicher der vom Ortschaftsrat eingesetzte Arbeitskreis „Soziales Miteinander“ sein, der alsbald in die inhaltliche Analyse der Vorausberechnung einsteigen wird. Aber auch die Durchführung von offenen Gesprächsgruppen unterschiedlicher Beteiligter und eine öffentlichkeitswirksame Information und Transparenz, die im Zusammenspiel mit den Erfahrungen aus bereits erfolgreich vollzogenen Partizipationsprozessen ein höchstmögliches Maß an identitätsstiftender Dorfentwicklung bietet, kommen in Betracht. Dabei bleibt der regelmäßige Abgleich mit den aktuellen Statistiken die wichtigste Argumentationsgrundlage.
Dennis Riehle (Foto: J. Geiger)
Unser Dorf steht langfristig vor enormen Herausforderungen: Die neueste Bevölkerungsvorausrechnung, die die Stadtverwaltung dem Litzelstetter Ortschaftsrat im Februar 2021 präsentiert hat, relativiert zwar einige Zahlen im Vergleich zu den Erhebungen vor vier Jahren. Nichtsdestotrotz bleibt der Teilort im Brennglas des „Demografischen Wandels“ verhaften.
Denn auch wenn die Zahl der Hochbetagten etwas weniger stark wachsen dürfte, als es noch in der vorhergehenden Prognose angenommen wurde, ist eine Tendenz klar erkennbar: Während Konstanz in seiner Gesamtheit unter den besten Umständen bis 2040 nahe an den Status von einer Großstadt heranwachsen könnte, sehen die Modelle für den Vorort ein Schrumpfen voraus. Besonders erschreckend dabei: Das mittlere Alterssegment wird einen markanten Anteil an der Einwohnerschaft abgeben.
Das Abwandern und der fehlende Zuwachs an Familien aufgrund des mangelnden Baulands ist dabei ein wesentlicher Faktor, weshalb junge Einzelpersonen (beispielsweise Studenten) einerseits und Senioren über 80 Jahre andererseits zur stabilen Gruppe unter den Litzelstetter Bewohnern gehören, während aber gleichzeitig diejenigen unter 60 wegbrechen. Wir verlieren damit nicht nur qualifiziertes Fachpersonal, das das Gewerbe vor Ort halten würde. Es entspricht auch keiner gesunden Alterspyramide, wenn die Ränder beständig bleiben, aber das Fundament der arbeitenden und die Generationen verbindenden Mitte an Boden verliert.
Die Konsequenz aus den aktuellen Vorhersagen muss daher deutlich ausfallen: Es genügt nicht, in einzelnen Legislaturperioden zu denken. Die Kommunalpolitik darf in der Frage einer angemessenen Schlussfolgerung auf die demografische Entwicklung keinesfalls nur „auf Sicht fahren“. Deshalb braucht es ein Agieren, denn reaktives Handeln und ein Abwarten auf das, was tatsächlich eintreffen wird, wäre in dieser Situation völlig verantwortungslos. Deshalb ist es gut, dass es aus dem Ortschaftsrat wiederholte und ernstzunehmende Bekenntnisse gab, sich dem Jahrhundertthema für Litzelstetten zeitnah zu widmen.
Das Umdenken in dieser Sache hat nun endlich begonnen. Wenngleich die Ausbeute an neuen Baugebieten minimal ist, haben die Verantwortlichen verstanden, dass bezahlbarer Wohnraum im Ort eine wesentliche Stellschraube dafür ist, mitten im Leben stehende Einwohner an Litzelstetten zu binden – und den Zuzug neuer Mitbürger zu fördern. Die Attraktivität Litzelstettens ist bereits durch seine geografische Lage, Vitalität des kulturellen und sozialen Angebots, wirtschaftliche Prosperität, Tourismus und anerkannte Prädikate vorgezeichnet. Dennoch braucht es auch künftig Anstrengungen, die Bedürfnisse der diversitätssensiblen Gesellschaft zu erfüllen.
Neben familienfreundlichen Maßnahmen gehört dazu unter anderem die Erhaltung und der Ausbau von Nahversorgung und Infrastruktur samt Kindertagesstätten und Grundschule, die Sicherung des Gesundheits- und Sozialwesens inklusive der Nutzung von ehrenamtlichen Ressourcen der hier ansässigen Vereine, das Vorantreiben von altersgerechten Wohnformen und dezentraler Pflege nebst Barrierefreiheit im öffentlichen Raum, eine Aufwertung und Überwindung des trennenden Dorfcharakters durch die Umgestaltung der Hauptstraße oder die Ausgestaltung eines differenzierten Freizeitangebots für die unterschiedlichen Altersstufen. Es werden verschiedene Konzepte vonnöten sein, um die Weichen bis 2040 zu stellen – beispielsweise die von der Stadt vorgesehene Verdichtung gewerblicher Strukturen im Ortskern oder der Versuch weiterer Ansiedlung von Wohnbebauung im peripheren Gemarkungsraum. Gleichsam wird man nicht umhinkommen, die sich abzeichnende Entwicklung zumindest in Teilen als unabänderlich zu akzeptieren und auf sie einzugehen.
Wie der Gemeinderat künftig alle politischen Entscheidungen unter den Vorbehalt der Klimaverträglichkeit stellen will, muss Litzelstetten bei jedem Projekt darauf blicken, ob es auch wirklich dem Gedanken eines pluralistischen und nachhaltigen Dorfes – insbesondere in Sachen Altersvielfalt – gerecht wird. Dafür ist es sinnvoll, schon jetzt fachkundige Einwohner, systemrelevante Player, bürgerschaftlich Engagierte, politische Akteure, Verwaltung und außenstehende Ideengeber in einen Prozess des Austausch einzuladen, um sich ein Bild darüber zu machen, wie sie sich ein Litzelstetten in zwanzig Jahren vorstellen. Denn nur, wenn wir uns langfristig auf Zusagen zur Mitgestaltung des Ortes durch die interessierte Bevölkerung verlassen können, wird das identitätsstiftende Miteinander der Demografie den Schneid abkaufen.