Der 8. Mai in Radolfzell (I)

Der 8. Mai in RadolfzellDer 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung von Krieg und deutschem Faschismus durch die Alliierten. Weit über sechzig Millionen Menschen waren dem Zweiten Weltkrieg und Nazi-Terror zum Opfer gefallen. „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“ lautet daher eine zentrale Losung. Gilt diese Aussage auch noch nach dem 24. Februar 2022, dem Tag des Einmarsches russischer Truppen in die Ukraine? Franz Segbers, Theologe und Singener Kandidat der Linkspartei bei den Landtagswahlen 2021, meint Ja.

seemoz dokumentiert seine Rede, die er auf der Kundgebung „Alle Jahre wieder: Heraus zum 8. Mai“ in Radolfzell vor rund 40 TeilnehmerInnen hielt. In einem zweiten Teil folgt die Rede der VVN-Vertreterin.

Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,

Nie wieder Krieg! Das ist die klare Überzeugung, für die der heutige Tag steht.

Die Lehre dieses 8. Mai lautet: von Deutschland ist unermessliches Leid, Zerstörung und Hass ausgegangen. Die Generation meiner Väter hat ganze Landstriche der Sowjetunion zerstört. Die Ukraine wurde verwüstet, ihre Bewohner ermordet oder als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt. Städte wie Mariupol hat die deutsche Wehrmacht dem Boden gleichgemacht. Nie wieder! Nie wieder!

Meine Generation hat daraus gelernt: Keine Waffen an Länder, die in bewaffneten Auseinandersetzungen stehen. Dieser Grundsatz ist gefallen. Butscha und Mariupol sind nur zwei Städtenamen in der langen Liste jener Städte und Dörfer in der Welt, die man mit den schlimmsten Kriegsverbrechen in Verbindung bringt. Wir haben die Bilder ermordeter Zivilisten in der Ukraine gesehen: vom Fahrrad geknallt, gefesselt, geschändet und gezielt hingerichtet. Einmal mehr erleben wir in diesen Tagen, welch dumpfe Triebe ein Krieg in den Menschen entfesselt. Man wollte ja lange auch nicht wahrhaben, was damals auch die angeblich so ehrenhafte Deutsche Wehrmacht bei ihren Feldzügen gerade in der Ukraine angerichtet hatte.

Keine Frage: Kriegsverbrecher müssen vor Gericht gestellt werden. Sie dürfen nicht davonkommen. Dass in einem Krieg solche Verbrechen geschehen, wundert mich allerdings gar nicht. Der Krieg ist das schlimmste Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Wir glaubten ihn schon auf Dauer in der Mottenkiste entsorgt. Nun ist er wieder da. Wen wundert’s, dass nun auch in unserem Land immer mehr Menschen diesen Gräueln mit militärischer Gewalt ein Ende setzen und mit Panzern und Granaten dreinhauen wollen. Vor acht Wochen waren es gerade noch Stahlhelme, jetzt sind es schwere Waffen. Wo sind wir in acht Wochen?

Die USA haben unwidersprochen das Ziel ausgegeben, für diesen Sieg „Himmel und Erde zu bewegen“ – ein Wahnsinn, der uns in diesem Konflikt der Imperien immer mehr zu einer Kriegspartei macht und einem atomaren Inferno mit großen Schritten näherbringen kann. Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt wird uns alle in den Abgrund reißen. Dann Gnade uns Gott, ein „Dritter Weltkrieg“ wird wohl der letzte sein. Der russische Außenminister Lawrow warnt vor der realen Gefahr eines Dritten Weltkriegs. Ich bin erschrocken darüber, dass die Waffenfreunde des Westens völlig unbeeindruckt von der Gefahr scheinen, als Kriegspartei definiert zu werden und ein atomares Inferno auszulösen.

Sind immer mehr Waffen die Lösung?

Wir leben in Zeiten, wo Militärs warnen und bezweifeln, ob militärische Gegenwehr zum Erfolg führen kann. Und die frühere Friedenspartei fordert schwere Waffen für einen Sieg. Wenn überhaupt, dann nur um den Preis weiteren sinnlosen Blutvergießens auf beiden Seiten, um den Preis verbrannter Erde und unendlichen Leides. Jede weitere Waffenlieferung verlängert die Not und vervielfacht das Sterben. Niemand hier wird ernstlich ein Selbstverteidigungsrecht für die Ukraine in Frage stellen. Die Frage ist nur – sind allein Waffen die Antwort?

Es wird immer offenkundiger: Wenn die Menschheit nicht endlich lernt und politisch durchsetzt, wie man Konflikte human und gewaltfrei regelt, ist ihr Ende nur noch eine Frage der Zeit. Die Kriegsparteien scheinen den militärischen Vorteil zu suchen. Will man wirklich, dass das Schießen jetzt aufhört?

Wir müssen diese Logik der Gewalt sprengen. Noch nie wurde durch Krieg, noch nie wurde mit Waffen Frieden geschaffen. Das ist die Wahrheit. Wir wissen: Die Bevölkerung ist gespalten. Die eine Hälfte unterstützt die wahnwitzige Lieferung schwerer Waffen, die andere ist dagegen. Jede Entscheidung wird Menschenleben kosten, jede Entscheidung hat brutale Konsequenzen! In diesem Zwiespalt bin ich ganz sicher: Mehr Waffen säen auch mehr Krieg. Eine friedliche Lösung braucht Friedensfreunde. Jede weitere Lieferung von Waffen verlängert den Krieg und das Blutvergießen. Je länger der militärische Widerstand andauert, desto mehr zerstörte Städte und Dörfer und noch größere Opfer unter der Bevölkerung. Jede Waffenlieferung rückt eine diplomatische Verhandlungslösung weiter hinaus.

Sagen wir „Nein“ zur Logik der Gewalt und des Krieges. Überall höre ich die Forderung: Mehr Waffen, mehr schwere Waffen. Die Waffenlieferungen werden immer martialischer und immer offensiver befürwortet. Immer schärfere, stärkere, schwerere Waffen werden geliefert. Wir dürfen nicht ausprobieren, wie weit wir gehen können – bis Putin sagt: Das ist der Eintritt in den Dritten Weltkrieg. Sagen wir nein, wenn von Lumpenpazifismus die Rede ist und Gandhi als Knalltüte verächtlich gemacht wird, wie von dem Publizisten Sascha Lobo.

Dass jetzt viele Menschen in ihrer berechtigten Empörung über den brutalen Angriff auf die Ukraine glauben, dass nur mehr Waffen und mehr Aufrüstung helfen können, zeigt schwere Versäumnisse der letzten Jahre und Jahrzehnte auf. Wir haben es nicht geschafft, gewaltfreies Handeln und zivile Konfliktbearbeitung als Alternative zur militärischen Sicherheitslogik populär zu machen. Dabei ist längst belegt: Gewaltfreie Aktionen und ziviler Ungehorsam sind viel wirksamer zum Schutz der Bevölkerung als Militär. Welcher Krieg wurde jemals durch mehr Waffen beendet? Keiner! Es herrscht eine Stimmung vor, sich auf Waffen und immer mehr Waffen zur Konfliktlösung zu verlassen.

Frieden durch „unbequeme“ Verhandlungslösungen

Ich halte es mit Papst Franziskus: Er nennt Waffen eine schwache Lösung. Eine starke Lösung sind Initiativen für Verhandlungslösungen zur Beendigung der Kämpfe. Papst Franziskus appellierte jüngst: „Wir müssen aus dieser Hölle der Zerstörung aussteigen und auch unbequeme Verhandlungslösungen suchen. An Lösungen, die von beiden Seiten mitgetragen werden, führt kein Weg vorbei, wenn das Ziel ein dauerhafter und belastbarer Frieden sein soll.“ Er fragte: Ist ein Nein zu Aufrüstung naiv? Seine Antwort: Nein – weitsichtig.

Die Waffen nieder! Dieser Ruf stammt von der unvergesslichen Bertha von Suttner, damals als „Friedens-Bertha“ verspottet. Sie bringt es mit ihren Worten auf den Punkt: „Keinem vernünftigen Menschen wird es einfallen, Tintenflecken mit Tinte, Ölflecken mit Öl wegwaschen zu wollen. Nur Blut, das soll immer wieder mit Blut abgewaschen werden.“

„Finsternis kann keine Finsternis vertreiben“, so einst der unvergessene Pastor Martin Luther King: „Hass kann Hass nicht austreiben. Gewalt mehrt die Gewalt. Die Kettenreaktion des Bösen muss unterbrochen werden. Sonst stürzen wir in den Abgrund der Vernichtung.“ Als Pfarrer und Theologe erinnere ich an Jesu Wort: „Selig sind, die keine Gewalt anwenden.“ Jesu Mahnung ist vernünftig und klug: „Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der wird durchs Schwert umkommen.“

Jahrelang wurde die Friedensforschung belächelt. Es wurden keine wirksamen Strategien gewaltfreier Verteidigung eingeübt. Deshalb sind jetzt viele ohnmächtig in ihrer Empörung. Sie fordern mehr Waffen. Dabei ist gewaltfreie Aktion die stärkste Waffe. Sie ist keine Kapitulation. Sie ermutigt zum Widerstand gegen den Aggressor. Wir dürfen nicht davon ablassen, auf gewaltfreie zivile Methoden der Konfliktlösung und des Widerstandes zu setzen. Eines ist klar und hat sich erwiesen: Sie sind intelligenter, nachhaltiger und vernünftiger. Deshalb brauchen wir ein Asylrecht für russische und ukrainische Deserteure.

Der Frieden ist die Ultima Ratio, so Willy Brandt in seiner Rede zur Verleihung des Nobelpreises. Weiter: Der Frieden ist kein Zustand, sondern eine Aufgabe. Es wird Zeit für eine wirkliche Zeitenwende. Die Zeitenwende, die wir brauchen lautet: „Nieder mit den Waffen!“ Der Krieg ist sowas von gestern! Und ein Hundert-Milliarden-Programm zur Aufrüstung auch.
Wir müssen den Frieden gewinnen und nicht den Krieg. Das ist die Mahnung, die vom heutigen 8. Mai ausgeht.

Redaktion

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