Der Klima-Blog (90): Am Abgrund, Teil 1
Es ist schon eine Weile her. Aber manche erinnern sich vielleicht noch an die Zeit, als auch aus Konstanz viele Umweltaktivist:innen unterwegs waren – zum besetzten AKW-Bauplatz in Wyhl am Kaiserstuhl, zu Anti-AKW-Großdemos in Grohnde und Brokdorf, zu den Schlachten um die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf oder zur Blockade des geplanten Endlagers bei Gorleben. Auch heute gibt es bundesweite Brennpunkte, die Widerstand hervorrufen. Und Aktionen, an denen sich Menschen aus unserer Region beteiligen. Zum Beispiel in Lützerath.
Rechts: Lichter in der Dunkelheit. Blinkend. Rot. Davor: ein Abgrund. Beim ersten Mal hineinschauen erinnert es mit Fantasie noch an eine Berglandschaft – die unterschiedlichen Braun- und Grautöne, die Hügel, die steilen Kanten, der Blick in die unendliche Weite.
Zack, alles weiß-gelb. Mir leuchtet ein Strahler direkt ins Gesicht – Security. Vorbei die Illusion, zurück in das unendliche Grau, zum permanenten Lärm der Bagger. Piep, piep, piep: Synchron zu den rhytmisch blinkenden roten Lichtern der Windräder in der Ferne erklingt das grelle Tönen: Pause angesagt, der Bagger wird kurz ruhiger. Langsam gehen wir zur Kante. Neben uns stehen einige Menschen, manche Arm in Arm, reden leise, trinken ein Bier und starren herunter zum langsam, lärmend laufenden Kohleförderband. Die gierigen Schaufelräder der stählernen Ungetüme in der Tiefe graben sich erbarmungslos weiter. Das ist keine Grube, das ist Mordor.
Wo befinden wir uns? Am Tagebau Garzweiler, vor Lützerath – einem kleinen Dorf in NRW, das derzeit in aller Munde ist. Mitten im Braunkohlerevier Rheinland stehen noch ein paar einzelne Häuschen. Einst war dies ein friedliches, unbekanntes Dörfchen. Nun soll es vom Energiekonzern RWE für die Erweiterung des Kohletagebaus Garzweiler abgebaggert werden. Schon seit 2006 wird das Dorf zusammen mit zwei umliegenden Dörfern umgesiedelt. Obwohl noch einige Gebäude bewohnt sind, begann 2021 der Abriss des Dorfes. Es ist weder das erste noch das einzige Dorf. Insgesamt zwölf Dörfer fielen RWEs gierigen Schaufelrädern schon zum Opfer. Am Rand der Kante erinnert daran ein „Dörferfriedhof“ mit Kapelle. Mit Lützerath knickt die Bundesregierung erneut vor den Profitinteressen des Konzerns RWE ein.
Warum Lützerath?
In Lützerath verläuft die im Pariser Abkommen festgelegte 1,5-Grad-Obergrenze der maximal akzeptablen gobalen Klimaerhitzung! Hierzu ein paar Zahlen: 650 Millionen Tonnen Braunkohle will RWE unter Lützerath hervorholen und verfeuern. Passiert dies, sprengt es das Restbudget zur Einhaltung der 1,5 Grad-Grenze, welches derzeit nur noch bei maximal 47 Tonnen Braunkohle liegt. Noch 300 Millionen Tonnen sind in den aktuell genehmigten Bereichen des Tagebaus förderbar, ohne dass Lützerath zerstört werden müsste.
Einfach gesagt heißt das Folgendes: Würden der Konzern, die Bundesregierung und die NRW-Landesregierung dem Kohleausstiegspfad im Einklang mit dem 1,5-Grad- Budget folgen, könnten die Garzweiler Dörfer erhalten bleiben. Wird hingegen mehr Kohle abgebaut, bricht Deutschland das Pariser 1,5-Grad-Abkommen, das die letzte halbwegs sichere Zone für das Überleben der Menschen darstellt. Oder anders formuliert: Das Abbaggern des Dorfes Lützerath würde das Pariser Abkommen brechen und unsere Existenz aufs Spiel setzen.
Grüne Politik
Trotzdem sprachen sich die schwarz-grüne NRW-Landesregierung und die für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie zuständige Ministerin Mona Neubaur (Grüne) für einen Abriss des Dorfes aus. Was zur Hölle? Auch der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck begründete die Entscheidung zur Abbaggerung damit, dass Deutschland in der aktuellen Notlage die Kohle unter Lützerath brauchen würde. Allerdings stimmt diese Aussage nicht mit einer neuen Kurzstudie („Gasknappheit: Auswirkungen auf die Auslastung der Braunkohlekraftwerke und den Erhalt von Lützerath“ überein; denn diese kommt zum Schluss, dass der Kohleausstieg 2030 trotz der aktuellen Energiekrise machbar bleibt.
Doch damit noch nicht genug. Schon vor einiger Zeit hatte RWE zugesichert, mehr Erneuerbare Energien im Rheinischen Revier aufbauen zu wollen. Schaut man in die Lützerather Gegend, bietet sich einem jedoch ein seltsamer Anblick: Windräder werden für die Erweiterung der Kohlegrube wieder abgebaut. Ihre Demontage steht sinnbildlich für den derzeitigen Kurs einer Politik und einer Industrie, die einst versprochen hatten, die Klimaziele von Paris einzuhalten.
„Hört auf!“
Nun stehe ich also an der Kante, mir all dieser Hintergründe bewusst. Was soll ich tun? Runterspringen: mein erster Gedanke. Aber würde RWE meinen Ehrentod anerkennen und die Kohlebagger stoppen? Nur Leid für Nichts? Den Abgrund runterklettern – und dann? Den Security-Leuten in den Arm fallen und ihnen erklären, warum das unbedingt aufhören muss? Hm, aussichtslos. Schreien? Wir probieren es: „Hört auf Kohlebagger zu fahren!“ Keine Reaktion. Nur wieder dieses Leuchten im Gesicht. Sarkastisch rufen wir: „Auch euch hat Jesus lieb“. Pah, als ob; aber andere Geschichte. Aus der Grube ertönt eine nicht definierbare Antwort, die aber eher beleidigend klingt. Verständlich, was können die einzelnen Security-Menschen dafür? Falsche Adresse des Unglücks.
„Geht damit vor die Ministerien“, weist uns einer zurecht. Ja, irgendwie hat er recht. Trotzdem halte ich nach den vernommenen Antworten erschrocken inne – menschliche Stimmen aus dem Tal des Grauens. Warum überrascht mich das so?
Schluss mit den Kinderspielen, Securities ärgern hilft jetzt auch nicht weiter. Wir werfen noch einen Papierflieger in die Grube: „Wenn ihr Kohle wollt, geht Minecraft spielen!“ und wenden unseren Blick der anderen Seite der Kante zu …
Mehr dazu im zweiten Teil morgen.
Text und Fotos: Ein Mitglied der seemoz-Klimaredaktion, das lieber anonym bleiben möchte (der Name ist seemoz bekannt)
PS: Du willst angesichts der massiven Räumungsgefahr auf dem neusten Stand bleiben, was Lützerath angeht? Verfolge die Echtzeit-Informationen.
Du willst aktiv werden? Hier entlang zur Mahnwache Lützerath sowie zum Bündnis “alle Dörfer bleiben”.