Der Klima-Blog (91): Am Abgrund, Teil 2

Im ersten Teil ihrer Reportage aus Lützerath hat unsere Klimablog-Aktivistin über die Hintergründe des Protests berichtet und erstmals über die Kante des Abbaugebiets geschaut. Nun wendet sie sich dem Dorf zu – und dem, was dort so alles passiert.

Ein paar Meter weiter, auf der anderen Seite der Straße, schweift mein Blick auf im Wind wiegende Baumwipfel, auf bunt bemalte Baumhäuser. ,Man könnte denken ein Dorf vor dem Untergang sei tot, grau, trostlos. Totenstill im wahrsten Sinne des Wortes. Doch nein! Wo vermeintliches Recht zu Unrecht wird, ist Widerstand nicht weit. Und hier ist er ziemlich nah: Die Häuser und die Baumwipfel, die sich vor der Gier RWEs noch retten konnten, haben inzwischen neue Bewohner:innen: Lützerath lebt also noch.

“Wenn wir gegen etwas kämpfen, heißt das auch, dass wir für was leben”

Die Aktivisti haben sich dem Kampf gegen die Zerstörung von Existenzen, Natur und Familiengeschichten verschrieben. An den Wänden findet man hier oft krakelig den Spruch „no ones free until everyone´s free“ – niemand ist frei, bis alle frei sind. Und sie alle versuchen, sich auf eine Weise zu organisieren, die die Interessen der Menschen über Profitdenken stellt: hierarchiefrei und bedürfnisorientiert.

Man merkt: Gesellschaftliche Struktur ist in Lützerath keine von außen auferlegte Regel, sondern eine selbst gefällte, inzwischen verinnerlichte Entscheidung. So gesehen ist Lützerath viel mehr als der Kampf gegen Kohle. Es ist ein Kampf, der der Parole „People Not Profit“ gerecht wird. People – das sind die Bewohner:innen, deren Heimat dem nur am Gewinn orientierten RWE-Konzern weichen musste und deren Familien zerstritten sind aufgrund des Profitdenkens eines Großkonzerns. People – das sind aber auch die Menschen im globalen Süden, die seit jeher – wie jetzt auch Lützerath – vom kapitalistischen System ausgebeutet werden. People – das sind wir alle. Lützerath ist ein Kampf für (Klima)Gerechtigkeit!

Plötzlich daheim

Sanfte Gitarrenklänge, der leicht rauchige Geruch der Lagerfeuer, gelebte Freiheit … Vor Ort bleibt mir, während ich zu später Stunde die Flammen des Feuers beobachte, nur eine Frage: Wie hat dieses Dorf es geschafft, dass ich in wenigen Stunden ein Gefühl von Heimat entwickle, das ich noch nie gespürt habe? Ein überwältigendes Gefühl von Sicherheit, obwohl hinter den Barrikaden staatliche Intervention in Form eines riesigen Polizeieinsatzes lauert, der innerhalb weniger Tage alles zerstören könnte? Woher kommt die lange nicht gekannte Lebensfreude angesichts all der Ungerechtigkeit?

Vielleicht weil in Lützi gemeinsame Probleme gemeinsam gelöst werden? Weil man darauf angewiesen ist, sich radikal selbst zu organisieren und ein System zu schaffen, das die heutigen Probleme auslöscht? Ich weiß es nicht. Doch was ich weiß ist, dass dies der Ort für all jene ist, die sich manchmal fehl am Platz fühlen, im Alltag feststecken, sich selbst nicht mehr spüren. Nicht ihr seid falsch, das System ist es, weil es sich nicht an euch angepasst hat. Und das ist nicht gerecht! Hier an der Grube seid ihr was. Hier zählen eure Bedürfnisse, was auch immer sie sein mögen. Hier wird gemeinsam kaputt gemacht, was uns kaputt macht, und aufgebaut, was uns aufbaut. Möge dieser Ort für immer in mir weiterleben, möge ich etwas von dieser Magie im Herzen behalten und in der Lage sein, sie an diejenigen weiter zu geben, die es brauchen.

Lützerath bewegt

Die raue Stimme eines Aktivisten reißt mich aus meinen Gedanken. Er stimmt ein Lied von Annenmaykantereit an: „Und dann denk ich, dass es vielleicht vielleicht für immer so bleibt…“ Das ist der Wunsch nach bedürfnisorientiertem Leben und ich merke, dass dies nicht nur Thema in Nordrheinwestfalen ist. Lützerath bewegt uns alle.

So sitzen wir auf dem weichen Stroh, das Brummen des Baggers verschlingt die letzten Gitarrenklänge am Lagerfeuer … Ich drehe wiederum meinen Kopf, schaue auf den geteerten Weg. Wie sagt man? Krass, wie nah Himmel und Hölle beieinander liegen. Oder Genie und Wahnsinn. Wie auch immer. Genau in diesem Moment wünsche ich mir nichts mehr, als mit allen mir wichtigen Menschen die Straße zwischen Dystopie und Utopie zu laufen, Hand in Hand.

Text und Fotos: Ein Mitglied der seemoz-Klimaredaktion, das lieber anonym bleiben möchte (der Name ist seemoz bekannt)

PS: Du willst auch mal ein bisschen „Utopie-Luft“ schnuppern? Auf nach Lützerath! Ganz legal kann Mensch sich an der Mahnwache aufhalten oder an Dorfführungen teilnehmen.
Bleibe informiert über grundlegende Ereignisse in und um Lützerath (Gerichtsentscheide, Rodungen, Abriss) über die Webseite der Mahnwache Lützerath oder persönlich, indem du deine Maildresse und/oder Telefonnummer schickst an: mahnwache_luetzerath@riseup.net

Die Klima-Blogs werden von Aktivist:innen des bisherigen Konstanzer Klimacamps verfasst. Sie entscheiden autonom über die Beiträge. Frühere Beiträge dieser Reihe finden Sie, indem Sie ins Suchfeld das Stichwort „Klimacamp-Blog“ beziehungsweise (ab Ende Oktober 2022) „Klima-Blog“ eingeben und dann auf „Suchen“ klicken.