Deutlich mehr Flüchtlinge nach Dettingen
Die Flüchtlingszahlen explodieren, der Winter naht und tausende Menschen suchen weiter ihr Heil in der riskanten Flucht nach Deutschland. Flüchtlingspolitik heißt darum, schnell irgendwie zu reagieren, um Menschen zu retten. Das Landratsamt wird daher in der Tennishalle in Dettingen 300 Menschen unterbringen, wie auf der Gemeinderats-Sitzung am Donnerstag bekannt wurde. Zu diesem Thema deshalb im Anschluss auch ein Redebeitrag aus dem Gemeinderat von Holger Reile.
Auch zwischen den Wahlen ändert sich die personelle Zusammensetzung des Gemeinderates immer wieder einmal, wenn ein Ratssessel etwa aus persönlichen Gründen neu besetzt werden muss. Der jüngste Neuling, der in der Sitzung am Donnerstag angelobt wurde, ist in Wirklichkeit gar nicht so neu, sondern ein politischer Wiedergänger (natürlich im besten Sinne): Roland Wallisch ersetzt bei der FGL Charlotte Dreßen, die sich ganz ihrer Familie und ihrer aufreibenden Berufstätigkeit als stellvertretende Leiterin der Gemeinschaftsschule widmen will.
Unter Protest
Mittlerweile hat man sich in Sachen Flüchtlingsunterbringung daran gewöhnt, dass heute nicht mehr gilt, was gestern noch ganz sicher schien, und so sorgte denn eine Mitteilung von Oberbürgermeister Uli Burchardt zu Beginn der Sitzung weder im zahlreich erschienenen Publikum noch bei den versammelten Gemeinderätinnen und -räten für ein unüberhörbares Aufstöhnen: Der Landkreis, zuständig für die Erstunterbringung in Konstanz eintreffender Flüchtlinge, wird die Tennishalle in Dettingen, die er jüngst gekauft hat, statt wie geplant mit 120 Flüchtlingen nun mit 300 Flüchtlingen belegen.
Uli Burchardt betonte, dies sei eine Entscheidung allein des Landratsamtes, bei der die Stadt Konstanz nicht mitzureden habe. Er jedenfalls könne eine Belegung in dieser Größenordnung nicht gutheißen und nehme sie nur „unter Protest“ zur Kenntnis. „Diese Entscheidung trage ich nicht mit!“
Dettinger Ortsvorsteher „schockiert“
In seiner Eigenschaft als Dettinger Ortsvorsteher zeigte sich Roger Tscheulin (CDU) schockiert von diesen neuen Zahlen und der Informationspolitik des Landrates und nannte die Folgen für Dettingen (die Folgen für die Flüchtlinge erwähnte er bezeichnenderweise nicht) „inakzeptabel“. Er kündigte an, „das werden wir keinesfalls so hinnehmen“, denn immerhin entsprächen 300 Flüchtlinge einem Zehntel der Einwohnerschaft von Dettingen, er sagte aber nicht, was er dagegen zu tun gedenkt – natürlich weiß auch er als alter Hase der Lokalpolitik, dass es keine Entscheidungsspielräume gibt und die Konstanzer für einmal nichts mitzubestimmen haben. Mal sehen, was sich bei der nächsten Kreistagssitzung am heutigen Montag tut und ob dann die Hunde, die jetzt ein wenig knurrten, tatsächlich versuchen werden, den Landrat auch zu beißen.
Das Landratsamt seinerseits steht angesichts der Flüchtlingszahlen und der massiven Wohnungsnot in Konstanz unter erheblichem Druck, aber man mag sich nicht ausmalen, wie sich die Flüchtlinge fühlen werden, wenn sie womöglich 2 Jahre lang in Dettingen mit 300 Leidensgenossen in einer Halle leben müssen – sie brauchen jedenfalls dringend einen Sozialpass und/oder kostenlosen Zugang zum öffentlichen Nahverkehr.
Wahrscheinlich wird man sich daran gewöhnen müssen, dass solche Zustände – verstärkt durch eine über viele Jahre verfehlte Wohnungspolitik, die das Wohnen nicht mehr als Teil der öffentlichen Daseinsfürsorge für wirtschaftlich Schwächere verstand und inbrünstig daran glaubte, dass es der Markt schon richten wird – dass dies also bald der Normalzustand werden dürfte, und zwar für Flüchtlinge wie für ihre Nachbarn. Und das in ganz Konstanz, in allen Stadtteilen, wie manche Politiker nicht müde werden zu betonen.
Außer vielleicht dort, so denkt sich der Normalbürger, wo die Leute mit richtig Zaster und den rechten Beziehungen sitzen. Wetten?
O. Pugliese
„Was ist uns eigentlich die Rettung von Menschen wert?“
In der Debatte um die Unterbringung von Geflüchteten auf der letzten Gemeinderatssitzung hat der LLK-Stadtrat Holger Reile in einem Redebeitrag auf die Ursachen hingewiesen, die gegenwärtig weltweit 60 Millionen Menschen zur Flucht zwingen. Insbesondere benannte er die deutsche Verantwortung für Kriege und Wirtschaftskrisen unter anderem im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika. Der Beitrag im Wortlaut:
„Bislang hat sich gezeigt, dass die Hilfsbereitschaft auch der Konstanzer Bevölkerung enorm ist. Allen, die sich für Flüchtlinge engagieren, gebührt somit allergrößte Anerkennung. Wir müssen damit rechnen, dass noch mehr zu uns kommen werden – hier stehen Bund, die Länder und vor allem die Kommunen vor einer gewaltigen Aufgabe. Das kürzlich geänderte Asylrecht hilft uns da nicht weiter, im Gegenteil, es verschärft die Lage. Auch meterhohe Stacheldrahtzäune – weder in den Köpfen noch an den Grenzen – werden nicht verhindern, dass noch mehr Menschen bei uns und in anderen europäischen Ländern Schutz suchen. Machen wir uns alle doch bitte nichts vor: Wir würden genauso handeln, wenn unsere Heimat in Schutt und Asche läge.
Ein weiterer Punkt: Milliardenbeträge in dreistelliger Höhe wurden bereitgestellt, um Banken zu retten. Was, liebe Anwesende, ist uns eigentlich die Rettung von Menschen wert? Und ja, nun sind wir mit einer Situation konfrontiert, an der wir nicht ganz unschuldig sind: Deutsche Waffenlieferungen tragen zu Massenmord und Verwüstung bei, füllen die Kassen von Heckler und Koch und anderen, die vom weltweiten Elend profitieren. Man möchte die Kriegsursachen bekämpfen, heißt es nun – aber mit hohlen Phrasen und Absichtserklärungen allein ist es nicht getan. Wir sollten auch nicht vergessen, dass wir – entweder direkt oder indirekt – mit daran beteiligt waren, vor allem den Nahen und Mittleren Osten zu destabilisieren. Erinnern Sie sich noch an den verantwortungslosen Satz eines deutschen Politikers, der behauptet hat, unsere Freiheit würde auch am Hindukusch verteidigt?
Und wir sollten uns auch nicht wundern, wenn der nordafrikanische Gemüsehändler den oft todbringenden Weg über das Meer sucht, weil er gegen den Billigimport aus Europa nicht konkurrieren kann – genau so wenig wie der Betreiber einer kleinen Hühnerfarm in Ostafrika, das ebenfalls von europäischen Fleischimporten überhäuft wird – und auch die westafrikanischen Fischer, deren Fischgründe von weltweit agierenden Fangflotten geleert werden, und diesen Opfern der skrupellosen und menschenverachtenden Globalisierung – TTIP lässt nachhaltig grüßen – gar nichts anderes übrig bleibt, als ihr Glück oder wie man das auch immer nennen mag, in anderen Ländern zu suchen. So gesehen haben auch wir eine moralische Verantwortung, der wir uns nicht entziehen können und auch nicht entziehen dürfen. Ich hoffe und bin mir eigentlich auch sicher, dass die Konstanzer Bürgerschaft weiterhin Flagge zeigt und mithilft, die Situation zu meistern, denn ohne ihre Unterstützung geht es nicht.
Ein Wort noch zum Schluss: Wie die meisten von Ihnen wissen, werden mittlerweile einige aus unserer Ratsmitte mit dem Tode bedroht, weil sie sich für die Belange von Flüchtlingen einsetzen. Ein völlig untragbarer Zustand. Vor allem auch deswegen, weil die Hemmschwellen niedergetrampelt werden, ein enthemmter und mordlüsterner Pöbel grölend durchs Land zieht und Flüchtlingsunterkünfte in Brand setzt.
Dagegen müssen wir gemeinsam angehen, denn auch hier im Landkreis formieren sich Rassismus und zynische Menschenverachtung – wie den fast durchweg widerlichen Äußerungen im Netz unschwer zu entnehmen ist. Ich vermute, es ist an der Zeit, an einen Aufruf zu erinnern, der vor Jahren in einer ähnlichen Situation bundesweit die Runde machte: Er nannte sich: Der Aufstand der Anständigen.“
Holger Reile