Die alten Nazis lassen grüssen

Initiative gegen BerifsverboteDer im nahen schweizerischen Ermatingen lebende Schriftsteller Jochen Kelter, während seiner Zeit an der Universität Konstanz selbst Opfer des Berufsverbotes, erinnert an 50 Jahre «Radikalenerlass» in Deutschland und dessen bis heute ausstehende, dringend nötige Aufarbeitung, die auch der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann bisher nicht vorantreiben mag.

Anfang 1972 verfügte die Regierung aus SPD und FDP im Parlament nur über eine knappe Mehrheit, die durch Übertritte von Abgeordneten zur Opposition zu erodieren drohte. Die neue Ostpolitik von Willy Brandt, also eine Annäherung an UdSSR und DDR, sollte auf keinen Fall als Schwäche im Inneren missverstanden werden. Eine alte Methode der Sozialdemokratie, die sie schon nach dem Ende des ersten Weltkriegs, etwa bei der Niederschlagung des Kieler Matrosen- und Soldatenaufstands angewandt hatte. Also knöpfte man sich die Linke vor (Rechte, gegen die man sicher nicht genauso rigoros vorgegangen wäre, gab es zu dieser Zeit nicht in nennenswerter Zahl). Die Bürokratie erfand die Regelanfrage im Öffentlichen Dienst, man überprüfte also nicht einzelne Verdächtige, sondern von 1975 bis 1985 offenbar insgesamt 3,5 Millionen Personen. 1250 Bewerber wurden nicht eingestellt, 250 Beamte entlassen. Zur Beschäftigung im Öffentlichen Dienst, der zu jener Zeit, vor den Privatisierungswellen des Neoliberalismus, ein bedeutender Arbeitgeber war, gab es damals in vielen Bereichen keine private Alternative.

In der Schweizer «Fichenaffäre», die Ende 1989 aufflog (und von der ich ebenfalls betroffen war), war der Sachverhalt ein anderer. Die Registrierung von Verdächtigen (Linke, Asoziale, «Zigeuner») hatte bereits im Jahr 1900 begonnen und betraf zuletzt offiziell etwa 700.000 Personen und Organisationen. Die Bespitzelung wurde von der jeweiligen Kantonspolizei durchgeführt, hatte für einzelne Bürger erhebliche Folgen (keine Weiterbeschäftigung oder Beförderung) und zeichnete sich nicht zuletzt durch amateurhafte Skurrilität von Möchtegern-Detektiven aus («der X stellt sein Velo in der Nähe der DDR-Botschaft in Bern ab»). Auf Druck der Öffentlichkeit wurden den Betroffenen schliesslich ihre stark geschwärzten Akten ausgehändigt. Ich hatte schon vorher beim Justizdepartement meines Kantons um eine Kopie meiner Fiche gebeten. «Wir haben alle Berichte immer nach Bern geschickt, Kopien besitzen wir nicht», hieß es (damit wäre das Thurgauer Justizdepartement wohl die einzige Schweizer Behörde gewesen, die keine Kopien relevanter Vorgänge angefertigt hätte – in Wahrheit waren sie wohl schon im Reisswolf gelandet), «aber der Herr Regierungsrat lässt ausrichten, dass Sie jederzeit zu einer Tasse Kaffee willkommen sind».

Das Berufsverbot in der BRD wurde vor allem im Süden, das heißt in Bayern und Baden-Württemberg, besonders rigoros umgesetzt. Auch an der Universität Konstanz, wo ich als Lehrbeauftragter und wissenschaftliche Hilfskraft mit Examen beschäftigt war, galt der «SchiessErlass», der den Universitäten als Camouflage die Überprüfung all ihrer Mitarbeiter/innen auferlegte. Innenminister Schiess war ebenso wie Ministerpräsident Filbinger («der schreckliche Jurist», der noch angesichts der absehbaren deutschen Kapitulation 1945 Todesurteile verhängt hatte), Mitglied der NSDAP gewesen. Mich erreichte das Beschäftigungsverbot 1974. Mir wurde die Mitgliedschaft in Organisationen vorgeworfen, die weder verboten waren noch überhaupt Mitgliederlisten führten: dem Sozialistischen deutschen Studentenbund (SDS), einer linken Studentenorganisation, in Vietnam- und Chile-Komitees (es war die Zeit des amerikanischen Vietnamkriegs und von Pinochets Militärputsch gegen den gewählten chilenischen Präsidenten Salvador Allende) sowie in Lehrlings- und Schülergruppen.

Heute, zum 50. Jahrestag des Radikalenerlasses ist viel die Rede von der breiten Unterstützung und dem Widerstand gegen das Berufsverbot, Streiks und Versammlungen auch an «meiner» Universität. Ich habe davon nichts mitbekommen. Vielleicht hatte ich den Kopf woanders. Unterstützung wurde mir verbal nur von meinem Institut und von meinem akademischen Lehrer zuteil, dem weltbekannten Ordinarius für Romanistik, der erst in den achtziger Jahren als hochdekorierter Offizier der Waffen- SS enttarnt wurde: Hans Robert Jauß. Ein Mitglied der kommunistischen Partei DKP sagte mir: Manchmal trifft der Imperialismus sogar die Richtigen.

Wir nahmen zu dritt einen jedweder Linkslastigkeit unverdächtigen Anwalt, einen CDU-Mann. Aber er war eben auch Jurist und verzweifelte fast. Es gelang ihm nicht, einen Prozess zu erreichen, in dem auch unsere Seite gehört worden wäre. Das Kultusministerium stellte sich auf den Standpunkt, es handele sich um einen internen Verwaltungsakt, nicht um eine justiziable Angelegenheit von öffentlichem Interesse. Nach etwa zwei Jahren gaben wir auf. Im Jahr 1977 wurde das Verbot gegen mich und andere ungefähr gleichzeitig aufgehoben. Das Ziel war ja erreicht: Die Beschuldigten hatten ihre Beschäftigung verloren oder Arbeit und Wohnort gewechselt, ich war in der Schweiz geblieben, wo ich seit schon acht Jahren lebte, und beschloss, nie wieder in das Land der Täter zurückzukehren. Fünf Jahre später habe ich ein einziges Mal darüber geschrieben (1).

Im Jahr 2011 wurde in Baden-Württemberg nach 58 Jahren schwarzer, also von der CDU geführter Landesregierungen mit Winfried Kretschmann zum ersten Mal ein Grüner zum Ministerpräsidenten gewählt. Ich schrieb ihm in einem offenen Brief, ich erwarte nach seiner Ankündigung eines «neuen Stils» der Offenheit und Bürgernähe keine Entschuldigung für das nicht entschuldbare Vorgehen einer Vorgängerregierung, wohl aber eine Aufarbeitung. Kretschmann war einst wie ich vom Berufsverbot bedroht gewesen, aber dann doch als Gymnasiallehrer angestellt worden. Der Journalist Andreas Müller von der Stuttgarter Zeitung hat als erster mit meiner Erlaubnis meine unter Verschluss liegende Akte wie auch die von Winfried Kretschmann eingesehen und darüber einen langen Artikel geschrieben (2). Meine Akte umfasste offenbar vier Seiten, die von Kretschmann das Zehnfache. Die Antwort auf meinen Brief liess anderthalb Jahre auf sich warten. Als sie endlich eintraf, stand da zu lesen, dass Beamte jederzeit aktiv für die demokratische Ordnung einzustehen hätten, «war und ist korrekt». Dass ich Angestellter und keine Beamter war, schien ihn nicht zu interessieren und von so etwas wie einer Entschuldigung keine Spur. Nun waren also auch die Grünen im Nachfolgestaat des Nationalsozialismus angekommen, als den sich die Bundesrepublik bezeichnet. Ansonsten müssten die damaligen Vorfälle zum 40. Jahrestag des Erlasses wissenschaftlich aufgearbeitet werden. Das wäre 2012 gewesen. Jetzt, zum 50 Jahrestag liegt eine solche Aufarbeitung noch immer nicht vor.

Text: Jochen Kelter, Bild: Initiative gegen Berufsverbote

(1) Ein deutsches Lied, ein deutsches. In: kürbiskern, Nr. 1/1982, S. 122-127.
(2) Rückblick mit und ohne Zorn, Stuttgarter Zeitung, 26.12.2014.

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