Die Augen vor der humanitären Katastrophe nicht länger verschließen

Es mögen wohl um die 200 Leute gewesen sein, die sich auch vergangenen Samstag wieder auf dem Münsterplatz versammelten, um Protest gegen empörende politische Zustände anzumelden. Richteten sich die Demos an den zwei Wochenenden zuvor gegen Rassismus und Polizeigewalt, war Anlass diesmal der von den Vereinten Nationen ins Leben gerufene Weltflüchtlingstag, gedacht als Mahnung vor gesellschaftlichen Verhältnissen, die Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat zwingt.

Dass es sich dabei nicht um bedauerliche aber kaum ins Gewicht fallende Ausnahmeereignisse handelt, wurde den ZuhörerInnen bei der von Amnesty International organisierten Kundgebung auf dem Platz vor dem Münster in ebenso eindrucksvoller wie bedrückender Weise vor Augen geführt. Mehr als 80 Millionen Menschen sind nach offiziellen Angaben der UNO gegenwärtig weltweit auf der Flucht, darunter viele Kinder und Jugendliche. Sie suchen Schutz vor Kriegen oder staatlicher Gewalt, sind Opfer von ethnischen oder religiös motivierten Vertreibungen, fliehen vor Elend oder Umweltzerstörungen.

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SprecherInnen von Amnesty International, der Konstanzer Seebrücke und der Hilfsorganisation Save me machten indes nicht nur auf das Ausmaß des Flüchtlingsproblems aufmerksam, kritisiert wurde vielfach auch die Rolle der Länder des wohlhabenden Nordens, namentlich die Staaten der EU. So kamen die Zustände an den Außengrenzen des europäischen Staatenbunds ebenso zur Sprache wie seine Zusammenarbeit mit den Warlords in Libyen oder die Einstellung der Rettungsmaßnahmen auf dem Mittelmeer.

Bitteres Résumé, das fast alle RednerInnen zogen: Überall an den relevanten EU-Außengrenzen hat sich die Lage Geflüchteter dramatisch verschärft, unabhängig davon, ob sie auf dem Landweg oder über das Meer kommen. An der griechischen Grenze etwa schrecken GrenzpolizistInnen auch nicht vor dem Einsatz von Gummigeschossen und Tränengas zurück. Das individuelle Recht auf Asyl wird nach Gutdünken teilweise oder ganz suspendiert. Ausdruck der humanitären Katastrophe sind die Hotspots auf den griechischen Inseln, wo rund 40.000 Menschen unter schlimmsten Bedingungen in hoffnungslos überfüllten Lagern leben. Ein Drittel dieser Menschen sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.

Der Münsterplatz wurde am Samstag zur Bühne für Menschen, die von einem solchen Los getroffen sind. Mehrere Geflüchtete, die es – im Gegensatz zu vielen – bis hierher geschafft haben, berichteten von den Gründen für ihre Flucht und die damit verbundenen, oft lebensgefährlichen Umstände. So schilderte etwa ein aus dem Iran Geflüchteter, wie staatliche Gewalt und Folter ihn aus seiner Heimat vertrieben hatte. Eine lange Irrfahrt zwischen Angst und Hoffnung, begleitet von Schreckensereignissen wie dem Ertrinken von Leidensgefährten und Polizeiübergriffen. Eine aus Aleppo stammende Syrerin erzählte von Tod und Zerstörung, vor der sie und ihre Familie sich aus ihrem zerbombten Haus retten konnten. Und ein Kurde berichtete vom Krieg, den das türkische Erdogan-Regime gegen sein Volk führt, aktuell im Nordirak. Wie Ende vergangenen Jahres in den Autonomiegebieten Nordsyriens droht auch hier nun vielen BewohnerInnen Tod, Zerstörung und Vertreibung.

Eindringlich appellierten die Betroffenen an die europäische und deutsche Regierungspolitik, die Augen vor dem Elend der Geflüchteten nicht weiter zu verschließen. Harsche Kritik an der Abschottungspolitik zog sich wie ein roter Faden durch fast alle Beiträge. Einhellig forderten die RednerInnen der beteiligten Gruppen, angesichts der humanitären Katastrophe an den EU-Außengrenzen und auf dem Mittelmeer endlich die Türen für Schutzsuchende zu öffnen.

Ins Visier nahmen einige Beiträge indes auch den Umgang der Landes- und Lokalpolitik mit denjenigen, die es bis ins vermeintlich sichere Deutschland geschafft haben. Scharf griffen mehrere RednerInnen etwa die Abriegelung zweier Konstanzer Geflüchtetenunterkünfte durch Bauzäune an. Statt der damit verbundenen Stigmatisierung der Betroffenen seien bessere Integrationsangebote nötig.

Immer wieder zur Sprache kam überdies der Fall Harrison Chukwu. Der Konstanzer nigerianischer Herkunft war vor zehn Jahren aus seinem Geburtsland vor den Bürgerkriegsschrecken geflüchtet, die seinen Bruder das Leben kosteten. Mittlerweile ist er in der Stadt bestens integriert, hat Job und Wohnung und engagiert sich zudem im Café Mondial. Trotzdem will ihn die Landesregierung jetzt abschieben lassen. Dass der zuständige Innenminister Strobl, der offenbar mit einer besonders harten Umsetzung der rigiden Asylgesetze punkten will, mit breitem Widerstand rechnen muss, machte am Samstag der Beifall für die zahlreichen Aufrufe zur Solidarität mit Harrison deutlich.

jüg (Text und Foto)