Die hundsordinäre Politik der Abschiebung

seemoz-RomaZwei Texte in einem Artikel zu einem Thema: Abschiebung aus Konstanz. Zunächst protestieren Schulsozialarbeiter/innen in einem Offenen Brief gegen die Abschiebung von Kindern, die sie bislang betreuten. Dann denkt Ernst Köhler über zwiespältige Reaktionen auf Flüchtlinge hierzulande nach  

Offener Brief der Schulsozialarbeiter/innen der Geschwister-Scholl-Schule Konstanz zur nächtlichen Abschiebung mazedonischer Roma-Flüchtlinge in der Nacht vom 20. auf den 21. Mai 2014

Sehr geehrte Damen und Herren,

in der Nacht von Dienstag, dem 20. Mai, auf Mittwoch, den 21. Mai, wurde die in der Flüchtlingsunterkunft in der Konstanzer Steinstraße untergebrachte sechsköpfige Familie von Vater und Ehemann Ahmet O. gegen 2:00 Uhr morgens von Poli­zeikräften aus dem Schlaf gerissen, mitgenommen und über den Flughafen Stuttgart nach Mazedonien abgeschoben. Zahlreiche persönliche Gegenstände, wie z.B. Spiel- und Schulsachen der 4 Kinder im Alter zwischen 7 und 13 Jahren musste die Roma-Familie unter dem extremen polizeilichen Zeitdruck zurücklassen.

Zur Situation der Familie von Ahmet O. wie auch generell zur Praxis des Abschiebens von Roma-Flüchtlingen nach Mazedonien bzw. in andere Staaten möchten wir – als durch die Abschiebung eines unsere Schule besuchenden Kindes unmittelbar betroffene Schulsozialarbeiter/innen der Geschwister-Scholl-Schule – hiermit klar Stellung beziehen.

Zunächst gehen wir davon aus, dass die Bundesrepublik Deutschland als demokrati­scher, in Artikel 1 des Grundgesetzes zur Achtung der Menschenrechte verpflichteter Rechtsstaat, die Ver­pflichtung hat, die Würde aller auf ihrem Staatsgebiet sich aufhaltenden Men­schen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, Religion, politischer Überzeu­gungen oder ihrer Vermögenslage, „zu achten und zu schützen“. Flüchtlinge sind Menschen, die ihre Heimat in Not verlassen haben, um Verfolgung, Diskriminierung sowie oftmals bitterer Armut zu entgehen, und die bei uns nach Schutz, Hilfe und den Möglich­keiten eines besseren Lebens suchen. Die Aufnahme, Unterstützung und der Schutz dieser Menschen sollte einer zivilisierten, humanen Gesellschaft ein tiefes Bedürfnis sein. Wie die jüngsten Ereignisse in Konstanz gezeigt haben, sieht die deutsche Realität anders aus.

Kinder werden nachts aus dem Schlaf gerissen, traumatisiert, und müssen aus Gründen staatlicher Raison jenes Land verlassen, in welches sie sich mustergültig integriert haben und wo sie Freunde und Anerkennung gefunden haben. Nicht zuletzt haben bis dato mehr als 1000 Bürgerinnen und Bürger des Landkreises eine Petition für den Verbleib der von Abschiebung bedrohten Roma-Familien im Landkreis unterzeichnet und damit ein Zeichen der Solidarität gesetzt. Die durch die Abschiebung vom 21. Mai sichtbar gewordene, menschenverachtende Praxis deutscher Staatsorgane klagen wir scharf an. Wir verurteilen sie, denn sie ba­siert auf der Entwürdigung und Entrechtung unschuldiger Menschen, deren einzige „Schuld“ darin besteht, nicht die hiesige Staatsbürgerschaft zu besit­zen, um in den Genuss eines dauerhaften Bleiberechts zu kommen.

Dabei ist auch die Lage der Sinti und Roma in Mazedonien – und nicht nur dort – äußerst prekär und bedenklich. Nach uns vorliegenden Informationen wurde eine im Februar 2014 aus Konstanz nach Mazedonien abgescho­bene, ebenfalls aus dem mazedonischen Ort Bitola stammende, Roma-Familie aufgrund ihrer ökonomischen Mittellosigkeit und staatlicher Gleichgültigkeit unmittelbar obdachlos und dem Vater ein unsäglicher Pro­zess gemacht wegen „Verunglimpfung des mazedonischen Staates“ durch seinen Asylantrag in Deutschland. In einem rechtskräftigen – und ironischerweise den Asylantrag des Vaters inhaltlich dadurch voll bestätigenden – Urteil wurde der völlig verarmte Vater ferner zu einer aberwitzigen Geldstrafe von 1500 Euro verurteilt, der er freilich nicht nachkommen kann – wodurch die Wahrscheinlichkeit einer Inhaftierung und einem daraus sich ergebenden Auseinanderreißen der Familie droht. Ähnliche Repressalien und ähnliches Elend drohen nun auch der Familie von Ahmet O.

Als Schulsozialarbeiter/innen, die ihre Arbeit als ethisch fundierte Menschenrechts­-Profes­sion verstehen, protestieren wir entschieden gegen diese verantwortungs­lose und entwürdigende Art des Umgangs mit geflüchteten Menschen. Die an unserer Schule betroffene Schülerin war gut integriert, sie wurde von heute auf morgen aus der Klassengemeinschaft gerissen und jeder Möglichkeit beraubt, sich zu verabschieden. Weiteren Mitschülern/innen droht ein ähnliches Schicksal, sie leben in stetiger Angst und Ungewissheit. Es hätte durchaus sinnvolle und humane Alternativen zu dieser staatlichen Gewalt gegen unschuldige Menschen gegeben – mindestens die Bearbeitung der Klage der Familie gegen ihren Ablehnungsbescheid. Sie wurden nicht genutzt, weil offensichtlich das Schicksal unschuldiger Menschen vor der bürokratischen Sachlogik eines staatlichen Gewaltapparates nicht zählt oder jener Sachlogik untergeordnet ist. 

Da wir glauben, dass alle gesellschaftlichen Institutionen keinen Selbstzweck darstellen, sondern einzig und allein all jenen Menschen zu dienen haben, welche durch ihr Handeln die betreffende Gesellschaft bilden, fordern wir jeden Menschen, der diese Zeilen liest, dazu auf, sich immer und überall für das Recht geflüchteter Menschen einzusetzen. Ein staatlicher Gewaltapparat, der derart inhuman handelt, hat jede Berechtigung verloren und verlangt nach Veränderungen und friedlichem Widerstand aller demokratischen, kritischen Bürger.

In Solidarität mit der abgeschobenen Familie und allen anderen Menschen, die durch Flucht ihre Heimat verlassen mussten.

Konstanz, den 27.05.2014
Susanne Wagner, Sabrina Bosch, Hans-Peter Büttner
Schulsozialarbeiter/innen der Geschwister-Scholl-Schule Konstanz

Kurzes Gespräch über Abschiebung

Gemeint ist hier ein Zwiegespräch mit uns selbst. Denn in Flüchtlingsfragen sind wir ziemlich gespalten – sind wir zwei oder mehr. Ein innerer Dialog ist da jederzeit möglich, vielleicht eine ganze Diskussionsrunde im Innenraum unserer multiplen Persönlichkeit. Sogar mit echtem Schlagabtausch – hart, aber fair.

Was sagen wir uns zum Beispiel, wenn uns Pro Asyl mit dem folgenden Befund konfrontiert: „Wer hier bloß die Armut der Roma beklagt, der bagatellisiert bereits, denn der faktische Ausschluss eines großen Teils der Roma von Arbeit, medizinischer Versorgung und Unterstützungsleistungen nimmt das Ausmaß einer Existenzbedrohung an. Wenn Roma nicht wissen, wie sie ihre Kinder am nächsten Tag ernähren sollen, womit sie ihre Behelfshütte im Slum beheizen und wo sie die ‚Zuzahlung’ für ein wichtiges Arzneimittel hernehmen sollen, dann ist das nicht Armut im Sinne eines mittel- und nordeuropäischen Sozialstaats…Die Armut vieler Roma in den Staaten des Balkans ist demgegenüber akut, gesundheitsbedrohend und lebensgefährlich.“ (Einstufung von Serbien, Mazedonien, Bosnien und Herzegowina als „sichere Herkunftsländer“, 4.April 2014) Unsere erste Reaktion mag sein: Aber es ist keine politische Verfolgung. Auf die Unterscheidung zwischen Verelendung – sei sie auch umfassend und lebensvernichtend –  und Verfolgung im engeren Sinne möchten wir ungern verzichten. Gehört diese Unterscheidung nicht zur begrifflichen Grundausstattung eines jedes denkenden und geschichtsbewussten Deutschen?

Aber die Flüchtlingshilfe – und Menschenrechtsorganisationen legen gnadenlos nach. Alle, soweit man sieht, sprechen hier mit einer Stimme. Ihr Kernargument lässt sich so zusammenfassen: Wenn es um die behördliche Entscheidung für oder gegen das Aufenthaltsrecht eines individuellen Flüchtlings in Deutschland geht – und nach unserem Verfassungsrecht gibt es immer nur den Einzelfall – ist der Begriff der politischen Verfolgung zu eng, zu restriktiv. Den ganz großen Menschenrechtsverletzungen wie Folter als Staatspraxis; Massenflucht, Massenvertreibung etwa im Kontext eines innerstaatlichern Krieges wie heute in Syrien; Rassenverfolgung wie etwa in Indien, der größten Demokratie der Welt; Exzesse religiös motivierter Gewalt muss in Asylrechtsverfahren ein weiteres hartes Auswahlkriterium an die Seite gestellt werden: die sich aus mehreren „kleineren“ Menschenrechtsverletzungen – jede einzelne in internationalen, von der Bundesrepublik unterzeichneten  Dokumenten klar definiert, aber für sich allein noch nicht ausschlaggebend –   „kumulierende“, verdichtende, zusammenballende Zerstörung einer sozialen und oft genug auch physischen Existenz.

Das ist heute eine, wenn nicht die flüchtlingspolitische Hauptforderung. Die Roma stehen in ihrem Fokus. Sie sind in Europa das exemplarische Opfer dieses Typs von „synergetisch“ funktionierender Gewalt gegen wehrlose Menschen. Es handelt sich um Millionen von Menschen. Es handelt sich um die größte Minderheit unseres Kontinents. „Strukturell“ möchte man die Gewalt gegen sie nicht unbedingt nennen, dazu sind zu viele benennbare, persönlich verantwortliche Akteure an ihr beteiligt: Politiker, Parteiideologen, Intellektuelle, hohe und niedere Beamte, Rassisten aus dem einfachen Volk.

Da kann einen schon ein Gefühl der Bedrängnis und Überforderung überkommen. So etwas wie eine ehrliche Panik unter Bürgern, gerade wenn dieser Bürger zuhört und den Flüchtlingshelfern in ihrem Blick auf die Welt folgen möchte. Oder wie man auch sagen könnte: Wenn der Bürger über Anstand und über so etwas wie ein Gerechtigkeitsgefühl verfügt. Die ganze Welt können wir nicht retten. Der Satz glimmt in jedem von uns. Und er muss nicht für Gleichgültigkeit und Egoismus stehen. Brauchen wir also nicht letztlich doch die Abwehr, die Abschreckung im Vorfeld der Abwehr, wie sie unser Staat für uns organisiert? Konkret gesprochen; brauchen wir nicht doch die schnellen, schematischen, verfassungswidrigen Bescheide des Bundesamtes für Migration und  Flüchtlinge – zusammen geschustert aus immer den gleichen Textbausteinen? Mit der Liberalisierung des Visa-Regimes der EU für die Länder des Westbalkans kommen immer mehr Menschen aus Südosteuropa zu uns. Das ist eine Tatsache.

Aber ehe wir unsere schwierige, unschlüssige, halb zerrissene Persönlichkeit fluchtartig verlassen, bitte noch eine Sekunde Aufmerksamkeit. Im Hinterkopf, im Rückzugsbereich unserer komplexen Innerlichkeit, macht sich noch eine kleine, eher leise, aber unangenehm zähe Stimme bemerkbar. Sie ist nicht so leicht zum Schweigen zu bringen. Sie ist der Geist, der stets verneint. Der auch unsere eigenen Ängste ungerührt und respektlos auf ihre reelle Berechtigung, auf den möglichen politischen Kleinmut, auf die Hysterie in ihnen abklopft – etwa auf die Tour: Hätten wir also heute gar nicht mehr die Entscheidungsfreiheit, den Handlungsspielraum für einen Rechtsstaat? Sondern nur noch für einen Rechtstaat, der sich selber so nennt?  Der sich selber für einen ausgibt?  Mit anderen Worten: Reicht es  in Deutschland – einem der reichsten, wirtschaftlich stärksten Länder der Erde – unter dem Druck der Migration nur noch für einen Staat, der ganz ordnungsgemäß und legal, mittels parlamentarischer Demokratie, die verbrieften Menschenrechte von Tausenden Menschen verletzt?  Egal, welche Parteien-Konstellation gerade am Ruder ist – oder was hätte sich für die Roma zum Beispiel in Baden-Württemberg unter Rot-Grün geändert?  Wie soll man angesichts dieser kolossalen, flächendeckenden, parteiübergreifenden Ununterscheidbarkeit überhaupt noch erkennen, dass auch die Flüchtlingspolitik in unserem Land nur eine hundsordinäre Politik ist – kein „Sachzwang“, kein Diktat der „Staatsräson“ – und morgen durch eine ganz andere ersetzt werden kann.[modal id=“19250″ style=button color=default size=default][/modal]

Autor: Ernst Köhler