Die Krise und das (Wahl-)Gesetz

Am 5. Juli ist in Konstanz OB-Wahl. Eigentlich. Denn ob an diesem Sonntag tatsächlich die Bürgerinnen und Bürger an die Urne gerufen werden sollten, darüber gibt es mittlerweile lebhafte Diskussionen. Auch seemoz hatte schon die Frage aufgeworfen, ob die seuchenbedingten Umstände überhaupt einen fairen Wahlkampf zulassen. Doch was sieht eigentlich das Gesetz für eine solche Ausnahmelage vor?

Zu der – wie in einer bisher nicht gekannten Situation zu erwartenden – vertrackten Rechtslage hat sich Simon Pschorr Gedanken gemacht. Der Jurist hält eine Verschiebung für geboten und rechtlich auch möglich. Es handelt sich bei dem vorliegenden Text um einen Kommentar, der die persönliche Ansicht des Autors widergibt.

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Bundesweites Kontaktverbot

Gesetze werden für den Problemfall gemacht, sagen sie einem im Jurastudium immer. Den Normalfall, den bräuchte man gar nicht regeln, das ginge schon von selbst. Was teilweise für das Vertragsrecht noch zutreffen mag, stimmt nicht für weite Bereiche des deutschen Rechts. Besonders im Verwaltungsrecht finden sich viele Regeln für ganz alltägliche Vorgänge – so, wie sie der Beamtin in ihrer Amtsstube immerzu begegnen.

Jetzt darf aber seit dem 17.3.2020 die Beamtin nur noch dann in diese Stube, wenn es sich absolut nicht umgehen lässt. Homeoffice ist an der Tagesordnung. Das Corona-Virus bestimmt aktuell den Alltag, die gegen die Pandemie beschlossenen Maßnahmen stellen sämtliche Selbstverständlichkeiten und Gewohnheiten auf den Kopf. Seit dem 22.3.2020 gilt ein Ansammlungsverbot von mehr als zwei Personen im öffentlichen Raum. Diese landläufig als „Kontaktverbote“ bezeichneten Einschränkungen – die durch weitere Maßnahmen komplettiert werden – greifen tief in unsere Lebensbereiche ein. Die damit einhergehenden Grundrechtseingriffe sind ohne Zahl. In dieser Intensität hat die bundesrepublikanische Gesellschaft eine Beschränkung grundrechtlich geschützter Freiheiten noch nicht erlebt.

Sternstunde des Elfenbeinturms

Dabei ist die Zustimmung in der Bevölkerung für die verfügten und sogar für noch einschneidendere Maßnahmen groß. Die (berechtigte) Angst vor einer noch stärkeren Ausbreitung des Virus‘, vor Ansteckung und Tod, führt dazu, dass so gut wie alle Bedenken hintangestellt werden. Wäre man Zyniker, vergliche man die Corona-Krise mit dem Klimawandel: Der einzige Unterschied ist, dass CoViD-19 schnell und unbarmherzig tötet. Das reicht, damit konsequentes Handeln begrüßt wird, sei es auch rechtlich fragwürdig.

Die Einzigen, die sich an die Krisenakzeptanz noch nicht so richtig anpassen wollen, sind die Verfassungsjuristen. Ich möchte an dieser Stelle keinen Beitrag zur Verfassungskonformität der Eingriffsmaßnahmen selbst verfassen. Dazu haben in den letzten Tagen viele fähigere KollegInnen im Verfassungsblog Stellung bezogen (1). Der berechtigte Grundtenor lautet: Im Grunde können zum Zwecke des Infektionsschutzes vor tödlichen Pandemien auch tiefgreifende Grundrechtseingriffe erfolgen, deren Geeignetheit und Erforderlichkeit im Einzelnen zu erörtern sind. Ob die aktuell angewandten Ermächtigungsgrundlagen (2) wirklich alle Maßnahmen abdecken – gerade das bayerische Vorgehen auf Basis von Allgemeinverfügungen – ist im Einzelnen strittig (3). Was mir an dieser Stelle wichtig ist: Auch der Krisenfall setzt die Geltung von Gesetz und Recht nicht außer Kraft. Besonders die Verfassung greift auch dann, wenn es mal schwierig ist. Die römische Diktatur für den Notfall wollen wir nicht wiederhaben.

Wenn die Rechtsaufsicht mal ein Auge zudrückt

In dem Zusammenhang stören mich zwei Nachrichten der letzten Tage ungemein: In Bayern wird für die Stichwahlen der aktuellen Kommunalwahlen die Pflichtbriefwahl par ordre du mufti angeordnet, während Baden-Württemberg die Kommunalaufsicht anweist, mal nicht so genau auf die Einhaltung der Wahldaten zu achten (4). Wo die Bayern einen Weg außerhalb des Gesetzes gehen und eine einheitliche Linie nach außen kommunizieren, ist die hiesige Variante meines Erachtens noch problematischer: In einem Schreiben vom 19.3.2020 weist der Städtetag Baden-Württemberg auf eine Stellungnahme des Innenministeriums hin, der zufolge eine Rechtsgrundlage für die Absage von Kommunalwahlen – das heißt auch OB-Wahlen – nicht besteht.

Das baden-württembergische Kommunalrecht kennt keine Möglichkeit, Wahlen in Krisenzeiten zu verschieben oder abzublasen. Tatsächlich verpflichtet § 47 Abs. 1 S. 1 Gemeindeordnung dazu, den/die Bürgermeister(in) spätestens einen Monat nach Ablauf der letzten Amtszeit neu zu wählen. Eine Wahl kann gem. § 29 Kommunalwahlgesetz BW durch die Rechtsaufsichtsbehörde nur dann abgesagt werden, wenn sich ein schwerwiegender Rechtsfehler identifizieren lässt, der zu einer Ungültigkeit der Wahl führte. Eine andere Vorschrift haben wir nicht.

Statt also den Kommunen zu kommunizieren: „Liebe Leute, wir haben da ein rechtliches Problem, aber keine Sorge, die Landesregierung sorgt für Abhilfe“, teilt das Innenministerium auf dem Umweg über den Städtetag Folgendes mit:

„Die Rechtaufsichtsbehörde kann tolerieren, dass eine Bürgermeisterwahl, mit deren amtlicher Vorbereitung noch nicht begonnen worden ist, durch die Stadt aufgrund der Corona-Pandemie über den spätestmöglichen Termin gemäß § 47 Abs. 1 GemO hinaus verschoben wird. Die Verschiebung kann für bis zu drei Monate erfolgen, je nach Sachlage im Einzelfall auch länger.“

Das ist skandalös. Diese Äußerung sagt nichts anderes als: Ja, wir wissen, da ist ein rechtliches Problem, aber wir kneifen einfach beide Augen und alle Hühneraugen zu.

Dabei hat die Landesregierung im Ergebnis Recht: Öffentliche Wahlen (die reine Briefwahl eingeschlossen) unter diesen Umständen stattfinden zu lassen, ist Wahnsinn! Nicht nur ist die Ausübung des Wahlrechts in Wahlkabinen eine Selbstgefährdung, die viele Menschen von den Urnen fernhalten würde. Das wäre ungefähr genauso selbstwidersprüchlich, wie die großindustrielle Fertigung mit hunderten Menschen in Maschinenhallen weiterlaufen zu lassen – ach ja, ich vergaß. Das machen wir ja.

Nein, tatsächlich sind Wahlen in der aktuellen Situation eine Farce. Während die Amtsinhaber über alle öffentlichen und privaten Kanäle Erfolgsmeldungen ihres geschickten Krisenmanagements transportieren können, sind KonkurrentInnen faktisch vollständig vom öffentlichen Meinungskampf ausgeschlossen. Ein Wahlkampf ohne öffentliche Versammlungen? Ohne Vorstellung der KandidatInnen? Die Grünen mussten für die Findung ihres präferierten OB-Kandidaten auf ein Online-Seminar ausweichen. Mein höchster Respekt für die tolle Koordination. Aber ich glaube nicht, dass solche Angebote einen echten Wahlkampf von Mensch zu Mensch ersetzen. Das hat mit (verfassungsrechtlich gebotener) Chancengleichheit nichts zu tun. Dazu kommt noch, dass § 10 KomWG (nur) die KonkurrentInnen dazu verpflichtet, Unterschriften zu sammeln. Amtsinhaber können aufatmen. Zwar war Klinkenputzen noch nie so leicht – so viele Menschen waren noch nie auf einmal, auch untertags, zuhause erreichbar. Doch zugleich war Klinkenputzen noch nie so verboten wie jetzt. Von Infoständen oder Wahlkampfveranstaltungen will ich gar nicht reden.

Der Weg, den das Innenministerium geht, ist allerdings inakzeptabel. Da wird sehenden Auges nicht nur Recht gebrochen. Es wird auch noch durch die Blume mitgeteilt, dass jede Rechtsaufsichtsbehörde nach eigenem Gutdünken entscheidet, ob und wie lange eine Verschiebung des Wahltermins toleriert wird. Ganz zu schweigen davon, dass man mit der Vorgabe, der jeweiligen Kommune die Entscheidung über eine Wahlverschiebung zu überlassen, der Willkür Tür und Tor öffnet. Da macht jede Gemeinde, was sie will. Vulgo: Da macht jeder Amtsinhaber, was seine Wiederwahl am Ehesten garantiert. Gerade um so etwas unmöglich zu machen, gibt es die Bindung an Recht und Gesetz. Es wäre jetzt meines Erachtens die Aufgabe des Innenministeriums, eine Änderung der Gemeindeordnung auf den Weg zu bringen. Diese Krise wird nicht die letzte sein, die wir erleben. Wenigstens bei der nächsten wäre es doch gut, mal eine Regelung für den Ausnahmefall zu haben.

Simon Pschorr (Foto: D. Schröder)


Anmerkungen

(1) Aktuelle Empfehlung: https://verfassungsblog.de/allein-im-oeffentlichen-raum/
(2) Man beruft sich auf §§ 28 Abs. 1 S. 1, 2, 32 Abs. 1 IfSG
(3) Siehe dazu https://verfassungsblog.de/whatever-it-takes/)
(4) Das bayerische Vorgehen analysieren die Kollegen Gerster und Michl ausgezeichnet in einem aktuellen Artikel der LTO (https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/corona-bayern-kommunalwahl-stichwahl-anordnung-briefwahl-rechtswidrig/)