Die Nostalgie der Birnbäume

Minimalistisch elegant präsentiert sich der im Frauenfelder Saatgut Verlag erschienene Fotoband der Fotografin Simone Kappeler. Die Farben von Einband und Schmutzseiten reichen von einem hellen, teilweise gelblichen Rot bis zu einem dunklen Violett und zeigen kaum erkennbar einen Baum. Alle übrigen 62 im Buch von Birnbäumen versammelten Aufnahmen – von den 300 bis 400 von Kappeler über die letzten zehn Jahren mit einer vierzig Jahre alten Kamera abgelichteten –, die das Buch versammelt, sind Schwarzweiß-Fotografien. Im Mittelpunkt steht die nostalgische Schönheit dieser mitunter absterbenden oder aber in voller Blüte, im Blust stehenden Bäume vom Seerücken bis zum Oberthurgau. Die letzten Solitäre ihrer Art, was ihnen, respektive den Aufnahmen ihre Aura verleiht.

Es handelt sich ausschließlich um selten gewordene Hochstammbäume. Denn in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden auf Anordnung der Eidgenössischen Alkoholverwaltung schweizweit Millionen von Hochstammbäumen gefällt, für deren Erträge eine Abnahmegarantie bestand, und durch niederstämmige, ertragreichere Apfelbaumkulturen ersetzt, die heute das Landschaftsbild prägen. Apfelbäume sind, muss man wissen, wesentlich ertragreicher und kostengünstiger als Birnbäume. Und vermutlich ging es nicht nur um höhere Erträge, sondern auch um die Eindämmung des staatlich geförderten Schnapskonsums.

[the_ad id=“87862″]Die 144 Seiten des Buchs sind nicht nummeriert, ganz so als wolle man keinem der abgebildeten Bäume, von denen manche über hundert Jahre alt sind, einen Vorrang vor einem anderen einräumen. Dazu stehen am Schluss vier persönliche Kommentare der Fotografin, abgeschlossen von einem kurzen Nachwort. Als Vorwort dient ein Auszug aus dem Buch über die «Gebirgsvölker der Schweiz» von Johann Gottfried Ebel, einem Bekannten Hölderlins, aus dem Jahr 1798. Darin schildert er seinen Fußweg von Konstanz in das 30 Kilometer entfernte Arbon. Im Abstand von 24 Schritten stünden «grosse und breitästige(n) Birn- und Apfelbäume(n), unter denen das schönste Getreide wallte». Die Obstbäume brächten den Bauern reichen Nutzen, einen Gewinn von zwischen 30 und 50 Gulden pro Baum und Jahr. Die Mitgift vieler Töchter bestehe einzig aus einer Anzahl Birn- oder Apfelbäume. Solche historischen Hinweise, die ich einem Buch des Thurgauer Autors Stefan Keller (1) entnehme, hätten dem Band trotz seines geglückten Minimalismus vielleicht gutgetan.

Der Bruder der Fotografin, der Filmemacher Friedrich Kappeler, hat vor Jahren ebenfalls Bäume, Apfelbäume und ebenfalls in Schwarzweiß fotografiert, die eine ähnliche Nostalgie ausgestrahlt haben. Vielleicht sind weder Nostalgie noch ihre Sujets ein Zufall. Die Nostalgie ist ein mentales Gegengewicht zur Zersiedelung der Landschaft – obwohl man vielleicht gerade auch die baulichen und landschaftlichen Wüsteneien fotografisch dokumentieren sollte. Andererseits gibt es im Thurgau zwar nach wie vor schöne Landschaften, aber neben ein paar pittoresken Städtchen nur wenige sakrale oder profane Bauwerke von Rang.

Text: Jochen Kelter. Bilder: Simone Kappeler (oben), Jordanis Theodoridis (Porträt Simone Kappeler).

Simone Kappeler, Der Birnbaum. Mit Texten von Johann Gottfried Ebel und Simone Kappeler. 144 Seiten, 62 Duplex-Abbildungen, Fadenheftung, Hardcover, Format: 21 x 28 cm. Verlag Saatgut, Frauenfeld, August 2022. Preis: CHF 49.–. Sonderausgabe mit signiertem Print CHF 300.– hier erhältlich. ISBN 978-3-9525244-5-9. Das Buch ist im Buchhandel oder direkt beim Verlag erhältlich.

Anmerkung
(1) Stefan Keller: Spuren der Arbeit, Zürich (Rotpunktverlag), 2020.