Die verschwiegene Lebenshälfte des Friedrich Schmieder

Mitte August erinnerte der „Südkurier“ an Dr. Friedrich Schmieder und würdigte ihn als einen „Vorreiter der neurologischen Rehabilitation“. Schmieder wäre dieser Tage 100 Jahre alt geworden. Die nach ihm benannten Kliniken genießen einen hervorragenden Ruf. Doch Karrieren, die vor allem in den dreißiger Jahren des 20.Jahrhunderts starteten, weisen oft Schattenseiten auf, die man später gerne unter den Tisch hat fallen lassen. So auch hier.

Ein kurzer Blick in die Archive hätte genügt, um ein vollständiges und auch angemessenes Bild des Jubilars zu zeichnen. Der 1911 geborene Friedrich Schmieder trat schon im Mai 1933 in die NSDAP ein, war außerdem Mitglied des NS-Studentenbundes, des NS-Dozentenbundes und des NS-Ärztebundes. Aber seine NS-Vergangenheit holte ihn erst sehr viel später ein. Das Konstanzer Stadtmagazin „Nebelhorn“ hatte einen nicht unwesentlichen Anteil daran, dass im Sommer 1983 auch in Konstanz die Frage gestellt wurde: „Hat Dr. Schmieder eine Nazi-Vergangenheit?“

Wenige Monate zuvor war in der ZEIT ein Artikel von Ernst Klee erschienen, in dem der bekannte Publizist und Buchautor nachweisen konnte, dass Schmieders medizinische Karriere in der Heidelberger „Euthanasie-Abteilung“ begonnen hatte. Das „Nebelhorn“ kooperierte mit Ernst Klee und berichtete als einziges Presseorgan im Landkreis Konstanz ausführlich über Schmieders berufliche Anfänge. Damals schon hielt sich die Tageszeitung vor Ort lange aus der Debatte über den prominenten Mediziner und hoch angesehenen Mitbürger heraus, dem 1979 das Bundesverdienskreuz Erster Klasse verliehen worden war. Nachstehend ein Artikel aus dem „Nebelhorn“, der in der Septemberausgabe 1983 erschien und weit über Konstanz hinaus für viel Aufregung sorgte.

„Es traf ein minderwertiges Gehirn“

Seit einigen Wochen ermittelt die Heidelberger Staatsanwaltschaft gegen Prof. Rauch, den ehemaligen Gerichtsgutachter im Jürgen Boock-Prozess. Nachdem bekannt wurde, dass Rauch an der Nazi-Euthanasie in Heidelberg beteiligt gewesen ist, nahm man ihn aus dem Verfahren heraus. Bei ihren Ermittlungen wird die Heidelberger Staatsanwaltschaft auch auf den Namen Schmieder stoßen, denn Rauch und Schmieder wurden extra für „Sonderaufgaben“ von der Wehrmacht frei gestellt. (Aktennotiz am 19.9.1942: „Die drei Ärzte Dr. Rauch, Dr. Wendt, Dr. Schmieder sind nebenamtlich für uns in der Forschung Heidelberg tätig und bekommen eine Entschädigung von RM 150.- monatlich.“) Diese „Forschungsabteilung“ wurde auf Anordnung der „Kanzlei des Führers“ gegründet. Der Auftrag war eindeutig: Tötung von Behinderten, Vernichtungsaktionen an psychisch Kranken.

Professor Carl Schneider, Leiter der Heidelberger Forschungsstelle, umschrieb das Hauptarbeitsfeld seines Privatassistenten Schmieder so: „Die Konstitutionstypen der exogenen Krampferkrankungen einschließlich der Hirnverletzten des Krieges“. Gemeint ist damit ein vermeintlicher Zusammenhang von körperlicher Konstitution und Krankheitssymptomen. In der „Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie“ veröffentlichte Schmieder einen Aufsatz mit dem Titel „Die Photographie in der Psychiatrie.“ Diesem Schriftstück sind Nacktaufnahmen von Patienten mit folgenden Bildunterschriften zugefügt: „Schwachsinnige, 160 cm groß…“ oder: „Idiot von 96 cm Größe…“.

Widerspenstige oder unruhige Patienten wurden z.B. im Chloräthylrausch abgelichtet oder durch die Verabreichung von Morphium für die Aufnahme betäubt. Über Franz Wolf, einen Mitarbeiter Schmieders in Heidelberg, urteilte Jahrzehnte später das Landgericht Hagen: „Wolf hatte in Hadamar und später in Heidelberg die zur Tötung bestimmten oder vorgesehenen Kranken für sogenannte wissenschaftliche Zwecke zu photographieren“.
Schmieders Chef, Carl Schneider, holte sich „interessante Fälle“ aus anderen Anstalten nach Heidelberg, ließ sie dort untersuchen (photographieren gehörte auch dazu) und dann verlegen. In einem Brief vom 18.1.43 heißt es: Die Verlegungen sollen (….) nach dem Eichberg erfolgen, mit der ausdrücklichen Anweisung, die Gehirne an uns zu geben“. ( In der rheinhessischen Anstalt Eichberg wurden Kinder und Erwachsene mittels Spritzen und Tabletten getötet. Deren Hinterbliebenen bekamen in der Regel die Nachricht, ihre Angehörigen seien an einer Lungenentzündung gestorben).

Friedrich Schmieder, erst kürzlich über seine Heidelberger Tätigkeit und den Sinn seiner Photoarbeiten befragt: „Ich kann mich nicht erinnern, dass wir den klassischen Idioten unter den photographischen Aufnahmen hatten“. Ergänzend fügte er noch hinzu: „keine erkennbar Schwachsinnigen“. Desweiteren bestreitet Schmieder immer noch, Sinn und Zweck der Forschungsabteilung gekannt zu haben, auch von den Gehirnen habe er nichts mitbekommen. Haltlos wird diese Behauptung, wenn man in einem Brief des Eichberger Direktors Mennecke, datiert vom 16.Juni 1942, liest: „Mit den beiden Professoren, den Herrn Assistenten Dr. Rauch, Dr. Wendt und Dr. Schmieder unsere Eichberger Gehirne eingehend angesehen….“. Eine Woche später bittet Mennecke Prof. Schneider: „mir Herrn Schmieder (…..) auf den Eichberg zu schicken, damit ich mit ihm an Ort und Stelle die Einrichtung unserer Photoarbeiten in den Reichsausschußfällen bespreche“. Damit waren damals die zur Tötung anstehenden Fälle bei der Kinder-Euthanasie gemeint.

Bereits 1936 befasste sich Dr. Schmieder mit Gehirnschädigungen. Das Thema seiner Doktorarbeit lautete: „Das Geburtstrauma im Fragenkreis des Erbgesundheitsgerichts Köln“. Darin untersuchte Schmieder die Sterilisationspraxis. Auf Seite 42 dieser Doktorarbeit liest sich das z.B. so: „Die Familie macht nicht den Eindruck, als ob sie wertvolles Erbgut in sich trage, direkte psychische Anormalitäten lassen sich aber nicht nachweisen.“ In einem anderen Fall hat Doktorand Schmieder angesichts der geistigen Fähigkeiten der Familie („Die Mutter macht einen beschränkten Eindruck, der Vater ist Gelegenheitsarbeiter“) keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Unfruchtbarmachung zugelassen, da es, „falls überhaupt ein Trauma vorgelegen hat, ein minderwertiges Gehirn traf“.

Quelle: Nebelhorn Juli/August und September 1983

Nach den Artikeln in der ZEIT und im Nebelhorn erklärte Friedrich Schmieder mehrmals, er habe keine Ahnung gehabt, was in Heidelberg vor sich ging, da die Krankenmorde geheim gehalten wurden. Erst nach Kriegsende habe er davon erfahren. Seinen Kritikern warf er vor, sie wollten ihn, „durch Jahrgang und Beruf bedingt, zum Sündenbock für menschenverachtendes Denken und Handeln vor 40 Jahren“ machen.

Im März 1984 leitete die Staatsanwaltschaft Heidelberg ein Ermittlungsverfahren gegen Schmieder und zwei weitere Ärzte der ehemaligen Forschungsgruppe um Carl Schneider ein. Auch hier bestritt Schmieder vehement, von den Krankenmorden etwas gewusst zu haben. Das Verfahren gegen die drei Beschuldigten wurde zum Erstaunen vieler Prozessbeobachter nach rund zwei Monaten eingestellt, da, so das Gericht, die erhobenen Vorwürfe gegen die Ärzte nicht zu belegen seien und auf Gerüchten basierten. Dabei gab es etliche Zeugen, die erklärten, dass auf dem Eichberg Patienten getötet wurden und Heidelberger Ärzte und Pfleger davon auch Kenntnis hatten.

Willi Dreßen, damals noch Leiter der Ludwigsburger Zentralstelle, die sich um die Aufklärung von NS-Verbrechen verdient macht, konnte die Entscheidung des Gerichts nicht nachvollziehen. Für ihn war es „schwer verständlich, dass unter diesen Umständen den drei Ärzten entgangen sein soll, worum es bei ihrer Arbeit in der Forschungsabteilung ging“. Für völlig unglaubwürdig hielt Dreßen die Behauptung der Beschuldigten, nichts von den nationalsozialistischen Verbrechen an Kranken gewusst zu haben.

Autor: H.Reile