#Druck.Machen. Von der Auflösung der Welt in Zeiten des Prekären

Auf den Veranstaltungen zum 150-Jahr-Jubiläum des Konstanzer ver.di-Ortsvereins Medien+Kunst wurden viele aktuelle Themen debattiert. Es ging um die Lage der Beschäftigten im Gesundheitswesen, um Migration, um Erinnerung und immer wieder um die moderne Arbeitswelt. Diese hat sich durch Prekarisierung und Flexibilisierung nachhaltig verändert – mit teils massiven Auswirkungen auf die Menschen. Hier ein Rückblick auf einen Vortrag und einen Film.

Anfang Mai analysierte der Soziologe Franz Schultheis im Konstanzer Bürgersaal unter dem Veranstaltungstitel „Vom Proletariat zum Prekariat“ die aktuellen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt. In zahlreichen Studien hatten er und seine Mitarbeiter:innen über Jahrzehnte hinweg die Liberalisierung und Flexibilisierung der Anstellungsverhältnisse und deren Folgen untersucht. Wie wirkten sich diese Änderungen auf die beruflichen Biographien aus? Was änderte sich im Alltag der Menschen, in ihren sozialen Lebenswelten, am sozialen Zusammenhalt?

In seinen Büchern wie „Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag“ (2005)  oder „Ein halbes Leben. Biografische Zeugnisse aus einer Arbeitswelt im Umbruch“ (2010) ließ der Präsident der Stiftung Pierre Bourdieu viele Beschäftigte zu Wort kommen, die über zunehmende Intensivierung der Arbeit, wachsende Isolation, Erodierung der Arbeitsverhältnisse, Mangel an sozialer Anerkennung und eine drastische Ökonomisierung sämtlicher Wirtschaftsbereiche berichteten. Kurzum: Die alten Strukturen, die den Menschen im Beruf wie im Privaten Halt gaben, lösen sich auf. Die neue entgrenzte Wirtschaft hat nicht zu unterschätzende Auswirkungen auf die Lebenswirklichkeit der Lohnabhängigen.

Angst als politisches Instrument

Diese Entwicklung, so Schultheis, habe in den 1990er Jahren eingesetzt – und sei durch die umfassende Umstellung des Arbeitsmarkts infolge der Agenda 2010 von SPD und den Grünen unter dem früheren Kanzler Gerhard Schröder beschleunigt worden: An deren Ende entstand ein explodierender Niedriglohnsektor. Sich als „kranker Mann Europas“ wähnend, ging die Regierung auf die Wirtschaft und deren Interessen zu und nutzte eine vergleichsweise hohe Arbeitslosigkeit und den Vertrauensvorschuss der Gewerkschaften gegenüber der sozialdemokratischen Politik, um die arbeitsmarktpolitische Deregulierung voranzutreiben.

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Leitendes Credo war die Flexibilität, freilich einseitig zugunsten der Unternehmen: Neu geschaffene Ausbeutungsformen wie Leiharbeit, Werksverträge und Ich-AGs untergruben die bis dahin gewohnten unbefristeten Normalarbeitsverhältnisse. Zugleich schuf die SPD-Grünen-Regierung mit der Einführung von Arbeitslosengeld I & II ein perfides Instrumentarium, das die Solidarität minimierte und den Druck auf Arbeitssuchende maximierte.

Dies führte nicht nur dazu, dass Arbeitslose unabhängig von ihrer Qualifizierung jeden Job annehmen müssen. Sondern auch dazu, dass sie die Ersparnisse naher Angehörigen aufbrauchen und/oder die Wohnung wechseln müssen. Zugleich frass sich das Motto „Fordern statt Fördern“ tief in die normativen Fundamente unserer Kultur: Das permanente Ausgesetztsein in Verteilungskämpfe, gepaart mit der öffentlichen und medialen Diffamierung arbeitsloser Personen als Schmarotzer, führt in eine Abwärtsspirale, in der sich solidarische, kollektive und empathische Bezüge immer mehr auflösen. Demgemäß ist „die Würde des Menschen“ nurmehr auf dem dünnen Papier der Verfassung ein ehernes Prinzip.

Die Spirale der Abwertung

Diese Entwicklung traf nicht nur Arbeitssuchende, sondern wirkte sich auf alle Beschäftigten aus. Schultheis zitierte in seinem auch von seemoz e.v. unterstützten Vortrag aus einer Befragung von langjährig Angestellten, die von den Folgen der Deregulierung des Arbeitsmarkts berichteten. So ist heute fast die Regel, dass in den Betrieben unterschiedliche Anstellungsbedingungen bestehen und die Konditionen (Arbeitszeiten, Löhne, Kündigungsschutz u.a.) variieren. Die von der Politik geförderte und von den Unternehmen ausgenutzte Konkurrenz innerhalb der Belegschaften führen zu Konflikten, zu Stress und Misstrauen. Und erschweren die gewerkschaftlicher Organisation – fehlt doch durch die Vereinzelung die Wahrnehmung gemeinsamer Interessen.

Parallel dazu wird die Arbeit durch den technischen Fortschritt immer intensiver und individuell fordernder: Weniger Angestellte müssen mehr produzieren, Unachtsamkeiten haben größere Auswirkungen, dazu kommt die Angst, in das System der Arbeitsagenturen zu fallen. Die physischen und psychischen Belastungen führen also auch dazu, den Kampf für gute Arbeit, das Engagement in den Betrieben, in den Gewerkschaften und Parteien zu erschweren.

Der Teufelskreis

Die Folgen der Individualisierung und der Ausrichtung auf den neoliberalen Zeitgeist wirken bis in das subjektive Selbstverständnis, in das eigene Wertempfinden hinein: Das Perverse an dem System ist, dass es die Beschäftigten im Niedriglohnsektor gegen jene ausspielt, die allein auf staatliche Unterstützungsleistung angewiesen sind. Es erzeugt bei den Armen, die – beeinflusst von einem durch die Öffentlichkeit suggerierten Zerrbild – auf die Ärmsten blicken, einen Absetzungsreflex, der sich in klassizistischen und chauvinistischen Stereotype manifestiert und der sich zugleich reibungslos um xenophobe Narrative erweitern lässt.

Natürlich ist diese Spaltung künstlich, aber sie stabilisiert und reproduziert die beschriebene Arbeitswelt, da aus dieser Absetzung wiederum die unbedingte subjektive Bereitschaft resultiert, selbst Jobs unter schlechtesten Bedingungen anzunehmen, nur um nicht einer oder eine jener zu werden, die ganz vom Staat abhängig sind. Das Gefühl zu vermitteln, etwas Besseres zu sein, war schon immer ein Mittel staatlicher Macht – ausgetragen auf dem Rücken subalterner Minoritäten. Und so sind die Langzeitarbeitslosen Parias unserer Zeit: Anteils- und Stimmenlose, die die Gesellschaft nur im nackten Leben, der bloßen biologischen Existenz, interessieren. Das Desinteresse der Öffentlichkeit gegenüber den Folgen der momentanen Inflation für diese Menschen ist ebenso bezeichnend wie in einem erschreckenden Maße inhuman und unsolidarisch.

Das Prekarisierung der Arbeitswelt hängt folglich, auch wenn dies analytisch getrennt werden muss, mit der Prekarisierung der Sinn- und Handlungswelt der Individuen zusammen: Letztlich geht es um eine Spirale der Entwürdigung, in der die fehlende Anerkennung der Arbeit die Marginalisierungserfahrungen der Einzelnen befördert, und anders herum. Die momentane Besetzung der arbeitsmarktpolitischen Posten wird an diesem Teufelskreis so schnell nichts ändern.

Über bewegende bewegte Bilder

Ken Loachs Spielfilm „Sorry for missing you“, den das Zebra-Kino in Kooperation mit der Konstanzer Mediengewerkschaft kurz nach Schultheis’ Ausführungen zeigte, führt diese problematische Entwicklung und seine strukturellen Ursachen klar vor Augen: In diesem Film aus dem Jahr 2019 geht um ein Paar, das weder Zeit für sich noch für die Erziehung ihrer Kinder hat, und dessen familiärer Zusammenhalt durch diese Spannungen auseinandergerissen zu werden droht.

Beide Elternteile versuchen nicht nur, in der Welt zu überleben, sondern es richtig zumachen: So wollen beide ihre Arbeit auch unter widrigen Umständen so gut wie möglich erfüllen und trotz des beruflichen Stresses ihren Kindern ein vertrautes Heim und einen Schutzraum bieten. Abbie, eine häusliche Pflegerin, verzweifelt daran. Sie will einerseits jeden Patienten sorgfältig, liebevoll und umfassend betreuen, und ist andererseits dem profitorientierten Zeitmanagement und Effizienzimperativ ausgesetzt, der keine Puffer, keine Notsituationen und besonderen Umstände kennt. Ricky wiederum heuert als quasi-selbstständiger Paketbote an und glaubt (zumindest am Anfang) der Erzählung, dass sich Fleiß und harte Arbeit lohne.

Wie seine Frau versucht er, ein Mindestmaß an menschlicher Würde zu bewahren und klammert sich dabei an den Traum eines besseren, eines gesicherten Auskommens. (Auch dies beschreibt die veränderte Wirklichkeit der modernen Arbeitswelt: Wir wollen nicht mehr reich werden, nur die Gewissheit einer abgesicherten Existenz in minimalem Wohlstand haben. Doch das ist genauso illusionär wie die Hoffnung, dass sich ihre soziale Situation im Vergleich zu der ihrer Eltern verbessert.) Der krasse Zeit- und Konkurrenzdruck, die ökonomische Abhängigkeit und unverhältnismäßige Sanktionsmittel bestimmen nicht nur Rickys Arbeit als Paketbote; der immense Stress hat zwangsläufig auch Folgen für das Privatleben: Beide Elternteile sind kaum zu Hause, sind gestresst, abgelenkt und müde. Dies wirkt sich auf die Beziehung und zu ihren Kindern aus. In Zeit der Hochtechnologisierung und Digitalisierung wird die Arbeit für diese Berufsgruppen nicht weniger, sondern quantitativ und qualitativ mehr und greift selbst noch auf das Privatleben über.

Der Film (Drehbuch: Paul Laverty) zeigt die Maschinerie der kapitalistischen Ausbeutung deswegen so eindrucksvoll, weil es keine Schuldigen gibt, sondern sich alle in Strukturen verhalten und in diesen zu Opfern und gleichzeitig zu Tätern werden. In einer Welt der permanenten Gefahr, ins Haltlose abzurutschen, in einer Welt, in der das Gegenüber nur Konkurrent ist oder jemand, der eine:n bloß ausnutzen will, gibt es keine Solidarität, keinen Respekt und keinen Schutz. Es gilt nurmehr das eigene Überleben. Aber ohne das solidarische Einstehen für einander, ohne Vertrauen und letztlich auch ohne die Hoffnung auf eine bessere Welt wird sich nichts ändern an der Misere eines Systems, das allein darauf beruht, Ängste zu schüren, Druck zu erzeugen und Menschen Zwängen und Schikanen in Verhältnissen gegenseitiger Konkurrenz auszusetzen: Ein Widerstand dagegen kann nur dann beginnen, wenn wir verstehen, in welcher Welt wir leben. Und wenn wir Ideen und Vorstellungen entwickeln, in was für einer Welt wir leben wollen.

Text: Tobias Braun
Foto oben: Arno Senoner on Unsplash