ECE-Gutachten und Singens GemeinderätInnen: Denn sie wissen sehr wohl, was sie tun

Ärger und Skandal in der Stadt: Oberbürgermeister Bernd Häusler wird nimmer müde klarzustellen, dass die Stadt Singen alle Gutachter selbst bestellt und bezahlt habe. Es gibt auch keinen Grund, dies anzuzweifeln. Wie „neutral“ Berater, Gutachter und ihre Gutachten indes sind, ist ein anderes Thema.

Und dass es u. a. nach der GVV-Pleite dazu seitens der BürgerInnen unterschiedliche Meinungen und etliche Zweifel gibt, ist kaum verwunderlich. Ebenso wenig verwunderlich sind auch kursierende Mutmaßungen darüber, dass vielleicht einige EntscheiderInnen die Gutachten nicht richtig gelesen oder verstanden hätten. Eine Kritik, auf die inzwischen etliche Gemeinderäte äußerst entrüstet und dünnhäutig reagieren, indem sie Aktive der „Für-Singen“-BI öffentlich beschimpfen. Allerdings: Eine gründliche Lektüre der sehr umfangreichen Gutachten (www.in-singen.de/Einkaufszentrum-Innenstadt.560.html) legt viel eher die Schlussfolgerung nahe, dass diese sehr wohl gelesen und mehr noch, sogar verinnerlicht wurden. Eine dreistufige Strategie lässt sich dabei herausfiltern:

Stufe 1: Singen als Handelsstandort ist alternativlos; folglich muss jede auch noch so kleine Chance für dessen Stärkung genutzt werden.

Zuerst kommt die Warnung, dass sich niemand auf seinen Lorbeeren ausruhen dürfe: In Singen spiele zwar „der produzierende Sektor noch eine wesentliche Rolle. Gleichermaßen ist Singen auch als Einzelhandelsstandort stark. […] Singen ist wegen seiner Stärke in Gewerbe und Handel jedoch auch stärker als durch Verwaltung und Dienstleistung geprägte Städte von konjunkturellen Schwankungen abhängig.“ Eine Stadt wie Singen habe also gar keine Alternative – sie müsse jede Entwicklung mitmachen, die auch nur eine Chance für die Stärkung ihrer Position als Handelsstandort erkennen lasse.

Stufe 2: Die Existenz als Handelsstandort ist akut bedroht.

Ein Schreckensszenario wird von den Gutachtern aufgebaut: Es drohe ein Bedeutungsverlust für die Stadt. Ergo lässt sich daraus für die Leser der Gutachten (gemeint sind hier die Gemeinderäte) folgern: Natürlich wäre dann auch jeder „Repräsentant“ der Stadt von diesem Bedeutungsverlust betroffen. Singen könne wieder zum Dorf werden, dann wäre es aus mit der „aufstrebenden Hegaumetropole“.

Weshalb sei die Stadt existenziell bedroht? Akut bedroht sei der bisherige Einzelhandel. Zum einen durch das Internet: „Den Beratungs- und Informationsverlust, den die jahrzehntelange Substitution von Personal durch Fläche verursacht hat, macht das Internet inzwischen in manchen Branchen mehr als wett. Viele Kunden sind heute, wenn sie ein Geschäft betreten, besser über die Ware informiert, die sie kaufen wollen, als das Verkaufspersonal. Dadurch ist bereits in den vergangenen Jahren einer der wesentlichen Vorteile des stationären Einzelhandels gegenüber dem Distanzhandel, nämlich die Beratungsqualität, als Alleinstellungsmerkmal verloren gegangen.“

Die Begründungen und Feststellungen sind überwiegend schwammig formuliert und lassen ausreichend viele Hintertürchen offen für die Ausrede, dass man es ja auch nicht so sicher habe vorhersehen können (z.B. „Viele Kunden“, „Oft“, „Nach weit überwiegender Einschätzung der Fachwelt“). Da wäre einmal zu hinterfragen, wie groß der Anteil solcher Kunden denn ist? Überhaupt nicht hinterfragt wird auch die Qualität der Information im Internet – hier wird einfach vorausgesetzt, dass jeder potentielle Kunde in der Lage ist, nicht auf Falschinformationen hereinzufallen. Oder meinen die Gutachter etwa, solche gäbe es im Internet gar nicht?

Dass die Gutachten einfach nur die vergangene Entwicklung fortschreiben, kann eine kritische Einschätzung durchaus möglicher zukünftiger Entwicklungen nicht ersetzen (wie seinerzeit das Platzen der dot-com-Blase). Dass der Online-Handel, z.B. durch Vertrauensverlust aufgrund der explodierenden Kriminalität im Internet, auch drastisch zurückgehen könnte, wird nicht in Betracht gezogen. Zweifel, ob Online-Shopping noch über Jahre hinweg vom In-Image des Innovativen und Fortschrittlichen zehren kann, dürfen gar nicht erst aufkommen.

Alle Gutachten gehen von einer Fortschreibung der vergangenen Entwicklung mit unendlichem Wachstum aus – somit auch von weitgehend unveränderten Kräfteverhältnissen der bestehenden Anbieter- und Konsumentenstruktur. Sie haben zwar die Veränderungen der Demografie und eine weitere Zunahme des Online-Handels im Blick – nicht aber mögliche Veränderungen durch politische Krisen, Machtverschiebungen oder durch Umweltprobleme in den Produktionsländern mit Folgen für die gesamte Weltproduktion. Auch die Veränderungen, die sich für eine Wirtschaftsstruktur ergeben, wenn ein Vielfaches mehr an Buch-Geld existiert als die „verfügbare Erde“ an realen Anlagemöglichkeiten bietet, lässt sich mit derart vereinfachten Modellen, wie den hier verwendeten, nicht abbilden. Dass aber nicht einmal ein Gedanke daran verschwendet wird, zeigt, dass es nur um ein sehr kurzfristiges Ziel geht: Mit dem bestehenden Center-Modell nochmals Profit zu machen.

Zum anderen gehen alle Annahmen von einem mindestens gleichbleibenden Ungleichgewicht der Lebensqualität der von Strukturwandel betroffenen Menschen aus – die Einteilung in Gewinner und Verlierer sei als selbstverständlich hinzunehmen. So sollten Luxusbedürfnisse unbedingt befriedigt werden: Ein Defizit des bisherigen Singener Handels sieht man daher im Fehlen populärer Marken, welche die „stark markenorientierten jüngere Kundschaft“ nur in Mono-Label-Stores erhalten könne, also müsse es solche auch in Singen geben.

Bei der Einschätzung der Auswirkungen des Online-Handels auf den Einzelhandel werden neben der höheren Informationsqualität des Online-Handels zu seinen Waren, „mit der der stationäre (Fach-)Einzelhandel oft nicht Schritt halten kann“, auch „die immer kürzeren Lieferzeiten der logistisch gut organisierten Paketdienste“ betont – Arbeitszeiten und -bedingungen der „Paketsklaven“ werden als selbstverständlich hingenommen. „Handel ist eben Wandel“, so das Gutachten … Das wäre in einer Handelsvolumenanalyse ja vielleicht noch hinzunehmen, aber diese Gutachten sollen eine Entscheidungshilfe für die Bürgervertreter sein und betreffen „ihre Bürger“.

Stufe 3: Solche kritischen Fragen braucht man gar nicht zu stellen, denn ein Retter, der sicher genug Macht und Mittel hat, sich erfolgreich allen zukünftigen Herausforderungen zu stellen, ist ja bereit, sich um Singen zu „kümmern“ und seine Existenz als Handelsmetropole zu sichern.

Der „Frequenzrückgang“, der jetzt schon zu spüren sei, läge an den nicht zukunftsfähigen Händlern und könne längerfristig zum Absterben der Stadt führen. Da der inhabergeführte Einzelhandel meist keine Nachfolger finden würde und die meisten Händler ohnehin zu wenig Finanzmittel hätten, um jene exklusive Einkaufsumgebung bieten zu können, die ihre verwöhnte Kundschaft in Zukunft von ihnen erwarten werde, könnte nur ein potenter Investor Singen noch vor dem Untergang retten. Dieser Wohltäter habe sich glücklicherweise auch schon gefunden und biete Singen die Lösung aller heutigen und zukünftigen Probleme an: ein neues, hochmodernes, „architektonisch zeitloses“ Einkaufsquartier. Und das bekomme die Stadt Singen auch noch ganz umsonst! Wo bleibt da die Vorsicht und die Überlegung „Was nix koscht, isch au nix“!?

Droht ein Handelskrieg?

Gutachter und Berater haben den Entscheidungsträgern die Erkenntnis gebracht, dass sie sich danach über andere Probleme keine Gedanken mehr zu machen bräuchten. Dies würde den ohnehin stattfindenden Strukturwandel im Handel möglicherweise zwar vielleicht beschleunigen und Opfer fordern, aber der Untergang des heute bestehenden Einzelhandels sei jedenfalls – auch ohne ECE – unvermeidlich.

Verstärkt wird dieses Horrorszenario noch durch die vorgeblichen Aufrüstungspläne der Nachbarstädte. Es wird kein friedlicher Wettbewerb dargestellt und schon gar kein Gedanke an ein symbiotisches – u. a. ressourcen-schonendes – Miteinander innerhalb einer Region verschwendet, nein, es soll ein Handelskrieg werden: Jede Stadt muss glauben, dass sie ohne ein Center nicht überleben kann. Ein sicherer Gewinner ist damit auf jeden Fall der Center-Entwickler: Er verkauft mehr „Rüstungsgüter“. Kalkuliert er auch noch richtig, betreibt er nach dem Städtekrieg als jeweils einzig überlebender Handelsplatz genauso viele Center, wie ausreichen, alle Einwohner zu versorgen – und hat damit das Monopoly gewonnen.

Wenn die Entscheidungsgremien der Stadt dieses Szenario als reale Gefahr verinnerlicht haben (wie in Singen bereits geschehen) und die „Markthoheit“ aus Angst vor einem drohenden Bedeutungsverlust an das „Flaggschiff“ ECE übergeben haben (was geschehen wird, wenn beim Bürgerentscheid am 17. Juli eine Mehrheit der SingenerInnen für das Center stimmt oder die Nein-Stimmen am Quorum scheitern) hat die Stadt ihren Einfluss auf die Entwicklung des Handels weitestgehend aufgegeben.

Was bedeutet das für die „Normalbürger“ der Stadt?

Neben der stillschweigenden Akzeptanz eines mindestens gleichbleibenden Ungleichgewichts der Lebensqualität für die von Strukturwandel betroffenen Menschen wird ein zweites Ziel ebenfalls erreicht – als Kollateralschaden für die Bürger und von diesen kaum beachtet – nämlich die weitere Privatisierung und damit der Verlust öffentlichen Raumes (konkret eines Teils der Thurgauerstraße und des der Stadt noch gehörenden Zollareals). Im Gegensatz zu den „alten“ Händlern kann sich der „öffentliche Raum“ nicht bemerkbar machen – der Bürger bemerkt den Verlust erst, wenn es zu spät ist.

Gutachten zu lesen und die Prophezeiungen der Berater zu verinnerlichen, heißt deshalb noch lange nicht, sich mit der Materie kritisch auseinandersetzt zu haben. Wer sich die Mühe gemacht hätte, die ECE-Center-Entwicklungsgeschichte einiger anderer Mittelstädte zu recherchieren, hätte leicht feststellen können, dass die aufgebaute Drohkulisse von Singens Untergang aus dem Standard-Drehbuch der ECE-Projektierer stammt.

Dieter Heise