ECE: Konstanz contra Singener „Köter“
Die Stadt am Hohentwiel plant mit dem ECE-Center am Bahnhof einen Konsumtempel, der mit rund 16 000 Quadratmetern Einkaufsfläche das Konstanzer Lago nahezu in den Schatten stellt. In Teilen der Singener Bevölkerung und des Einzelhandels gilt das überdimensionierte Projekt als höchst umstritten und auch die Konstanzer Politik klettert, allerdings aus anderen Gründen, angriffslustig und säbelrasselnd auf die Barrikaden.
Vergangene Woche beschäftigte das ECE-Vorhaben sowohl den Konstanzer Wirtschafts- als auch den Haupt- und Finanzausschuss. Einig war man sich in der Hoffnung, dass das Regierungspräsidium in Freiburg im Rahmen eines Raumordnungsverfahrens das ECE in der geplanten Größe ablehnen wird. Wenn nicht, dann biegen die Konstanzer wohl auf den Klageweg ein. Dessen Ausgang aber ist höchst ungewiss.
Die Stadt Singen hat zur Bekräftigung des ECE ein Gutachten eingeholt, in dem behauptet wird, das Einkaufszentrum beeinträchtige weder das städtebauliche Gefüge noch die Funktionsfähigkeit der Innenstadt. (Was die ECE-Kritiker völlig anders sehen, man lese dazu die angehängten Texte, die bislang auf seemoz dazu erschienen sind.) Außerdem sei nicht zu erwarten, so das Singener Gutachten weiter, dass aus dem Umland unverhältnismäßig viel Kaufkraft abgezogen werde. Das sehen die Konstanzer naturgemäß völlig anders und präsentieren ihrerseits gleich zwei Gutachten, (darunter eines vom Büro Acocella aus Lörrach) in denen, sollte das ECE in der beabsichtigten Größe genehmigt werden, allerlei Horrorszenarien an die Wand gemalt werden.
„Das Wettrüsten darf nicht unendlich weitergehen“
Natürlich würde in einem erheblichen Ausmaß Kaufkraft aus Konstanz abgezogen und auch Arbeitsplätze seien in Gefahr, wenn die Einkaufskarawanen – vorrangig aus der benachbarten Schweiz – sich plötzlich Richtung Singen bewegten und dort ihre Einkäufe tätigten. Vertreter des Konstanzer Einzelhandels und der Konstanzer Gastronomie blasen kräftig mit in dieses Horn und fordern in ihrer Stellungnahme „Gemeinsam für Konstanz“ eine „erhebliche Reduktion“ der ECE-Verkaufsfläche. Außerdem verlangen sie ein „regionales Einzelhandelskonzept“, denn „das Wettrüsten darf nicht unendlich weitergehen“.
Das sahen die Mitglieder des Wirtschafts- und Haupt-und Finanzauschusses ähnlich. Bei vielen Beiträgen waberte dick aufgetragener Lokalpatriotismus durch den Ratssaal. Konstanz sei durch das ECE als „Einkaufsstadt und Oberzentrum bedroht“, mahnte Oberbürgermeister Uli Burchardt und eine Mehrheit stimmte ihm zu. „Wir sind das Oberzentrum“, erklärte Uni-Rektor Ulrich Rüdiger ebenfalls mit Nachdruck, aber Konstanz müsse mehr mit seinen Vorzügen wuchern, um diesem Anspruch auch gerecht zu werden. Zwar sei Singen als untergeordnetes Mittelzentrum „kein Köter“, der Konstanz „nur ans Bein pinkelt“, aber „wenn wir den Köter schon wegtreten wollen, dann bitte mit Selbstbewusstsein“, so Rüdiger. Das werden die Singener sicher gerne hören.
Wer hat die Kreuzlinger und Singener zum Lago gefragt?
Schlussendlich geht es bei dieser Debatte vorrangig um Kapitalinteressen, und zwar auf beiden Seiten. Darüber täuschen auch die Flötentöne angeblicher Besorgnis um hiesige Arbeitsplätze nicht hinweg. Einer der letzten Tangos um die Verteilung der fettesten Hinterschinken beim Tanz um das goldene Umsatzkalb torkelt über die Tanzfläche. Und wenn von Konstanzer Seite mit Blickrichtung Singen dazu aufgefordert wird, das „Wettrüsten“ zu beenden, dann darf man getrost von Heuchelei sprechen. Wer hat denn mit dem Wettrüsten begonnen? Richtig, der Startschuss dazu fiel in Konstanz mit dem Lago. Hat man damals die benachbarten Kreuzlinger gefragt, wie sie dazu stehen? Nein. Heute geht der Kreuzlinger Einzelhandel am Krückstock. Nicht nur, aber auch wegen der Lago-Konkurrenz. Hat man damals die Bedenken des Singener oder Radolfzeller Einzelhandels berücksichtigt? Ebenfalls nein. Nun wundert man sich, dass auch andere vom noch großen Kuchen mehr abhaben wollen als einige karge Krümel, die das Konstanzer Oberzentrum seinen Nachbarn bislang zugestanden hat.
Die Singener sollten sich sehr gut überlegen, ob sie sich mit dem ECE einen Gefallen tun. Wenn ja, dürfen sie unter anderem damit rechnen, dass auch sie im Verkehr ersticken, wie es seit Jahren in Konstanz der Fall ist, wenn die Einkaufshorden aus nah und fern ihre Blechkarawanen in Gang setzen, um auf engstem Raum ihren Kaufrausch auszuleben. Gutachter Donato Acocella, seit geraumer Zeit mit Aufträgen aus Konstanz gut versorgt, hat zur Verkehrsproblematik eine durchaus gewöhnungsbedürftige Meinung. Für ihn steht fest: „Je mehr Verkehrsprobleme, desto besser geht es der Stadt. Wenn Sie keine Verkehrsprobleme haben, bekommen Sie andere Probleme“.
H. Reile
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Wachstum über alles:
https://www.youtube.com/watch?v=MTSitlFXEX8
Man kann Singen/Hohentwiel von Konstanz aus nur bedingt empfehlen, wie diese Industriestadt im Hegau ihre Einzelhandels-Wirtschaftskraft zu entwickeln hat. Oder anders gesagt: wie nicht! In diesem Zusammenhang kann ich die „Angst“ aus Konstanz grundsätzlich nicht begreifen. „Angst essen -bekanntlich – Seele auf“! Und Konstanz hat doch „eine überaus bemerkenswerte Seele“. Die aus der Tiefe ihrer mittelalterlichen Geschichte hervor gegangene „Konzilsstadt“ ist heute zu einem regionalen und überregionalen Zentrum angewachsen, das wirtschaftlich und kulturell-geistig (Bildungsstadt) einen bemerkenswerten Stand ausweist. Die Stadt ist daher beliebt, lebt von ihrer erstaunlichen Vielfalt: Von der geschäftigen, linksrheinischen Altstadt über das Seeufer (mit den vielen Bädern – nicht nur thermal!), dem neuen rechtsrheinischen Seerheingebiet (gegenüber die Hochschule HTWG!), bis hinauf zur Universität auf dem Giessberg und hinüber zur Mainau, gar mit der grossen Fähre von Staad nach Meersburg, mit der kleinen von Wallhausen nach Überlingen. Zudem glänzen in der südlichen Nachbarstadt Kreuzlingen die Parks am See, darüber die Berge. Soweit das solide Gerippe zur Stadt in einem kleinen Auszug. Durch eine gesunde wirtschaftliche (!) und kulturelle Entwicklung entstand und entsteht eine lebendige Vielfalt, die die Vorzüge der Stadt täglich bestätigt.
Zu „Kreuzlingen“ wäre zu bemerken, dass die Probleme der Nachbarstadt (ca. 22’000 Einwohner, davon über 5000 Deutsche, insgesamt über 50 Prozent „Ausländer“ – ohne Stimmrecht!) ziemlich hausgemacht sind, sei es durch eine ungenügende Weiterentwicklung des Zentrums in den vergangenen 20-30 Jahre, und derzeit besonders durch den (demokratischen?) „Nacht-und-Nebel-Entscheid“ der SNB, der Schweizerischen Nationalbank. Letzteres betrifft alle Grenzorte: von St. Margrethen bis Basel. Solche Entwicklungen sind übrigens von Zeit zu Zeit ein bekanntes Phänomen an Grenzen. Konstanz hat das auch schon anders erlebt. Aktuell profitiert wiedermal die Stadt.
Es ist jedoch nicht so, dass keine „Konstanzer Baustellen“ vorhanden wären! Einige sind sogar unmittelbar „einzelhandelsrelevant“ (wenn schon „Singen“ diesbezüglich im Fokus steht). Grosse Aufgaben liegen so zum Beispiel in der Verkehrslenkung und in der genügenden Parkplatzbeschaffung im Bereich Individualverkehr. Das ist alles bekannt. Ebenso die sich zum Teil ergebenden, „haarsträubenden“ Situationen (stünde Singen wohl erst noch bevor!). Diese Fragen sind für Konstanz dringend zu beantworten. Wobei das Thema „fließend“ immer wieder zu optimieren ist. Es gibt keine endgültigen Antworten. In diesem Zusammenhang steht auch die weitere Ausbildung des Öffentlichen Verkehrs zu Land und zu Wasser wesentlich zur Diskussion.
Besonders im letzteren Zusammenhang ist zu erörtern, wie weit der Verkehr auf dem Wasser, der so treffend für Konstanz ein neues, attraktives (Wasser-!) „Zeichen“ bedeuten könnte, vielleicht in den Städtischen Verkehrsbetrieben zu verankern wäre. Es ist Fakt, dass etwa die neuen Hotels und Restaurants mehrheitlich rechtsrheinisch ans Wasser gebaut wurden, oder noch gebaut werden. Ebenso das kommende „Bodensee Forum Konstanz“, das derzeit ausgebaut wird. Zudem steht an der rechtsrheinischen Autobahnabfahrt wassernah bereits ein grosses Park&Ride-Gelände zur Verfügung. Es wird an Bedeutung gewinnen, um den Verkehr in die Innenstadt nicht noch weiter anwachsen zu sehen. Der Verkehr auf dem Wasser müsste einfach geregelt sein, zu den gleichen Bedingungen, wie bei den Stadtbussen.
Vorstellbar sind schnelle, einfach konstruierte Linienboote (etwa ab Stromeyer, über 3-4-5 Landestege am Seerhein, bis zum innenstadtnahen Stadthafen). Aber auch 1-2 zusätzliche, einfache Fähren sind denkbar (die Stadt hat hier sogar Erfahrung im Bereich Rheinhallenbad-Pulverturm, einer längst abgewickelten Fähre!). Es gibt noch weitere Möglichkeiten der geregelten wasserverkehrstechnischen Erschliessung (Seestrasse, Thermalbad, Konstanzer-Kreuzlinger Ufer), usw. Durch ein solches Verkehrsangebot bekäme die Stadt ein noch grösseres, attraktives „Wasserprofil“.
Die Frequenz nach und von Konstanz wird derzeit durch den Weiterbau der B33/neu (endlich!) wohl noch eine Steigerung erfahren. Und von St.Gallen her rollt bald zweistündlich eine Schnellbahn an. Auch der Flugplatz kann vielleicht wirtschaftlich, „kongresslich“, touristisch und privat – bei einen „gewissen Ausbau“! – zu Attraktivitätssteigerung der Stadt etwas beitragen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Zuzug in die Stadt wohl anhält. Daher ist dem Wohnungsbau besondere Beachtung zu schenken – für alle Schichten! Diese Aufgabe hat aber mit dem angedeuteten „Problem Singen“ wenig zu tun.
So schliesst sich denn der Kreis, ob Konstanz bei allfälligen „Singemer Entscheiden“ grundsätzlich leidet. Ich meine: Nein!