ECE: Vom Urknall zum Gesamtkunstwerk
Jetzt ist es soweit: ECE „schlägt auf“ beim Wahlkampf um den Bürgerentscheid pro oder contra 16.000 m²-Shoppingmall. Die bisherige Singener ECE-Befürwortergruppe mutierte zur Bürgerinitiative „Lebendiges Singen“ und präsentierte der Presse diese frohe Botschaft standesgemäß im Bistro des MAC-Museums. Neu aufgestellt wolle sie mit vereinten Kräften aus Politik, Handel und Bürgerschaft ihre Aktivitäten bündeln. Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, da der von ihr so ungeliebte Bürgerentscheid nicht abzuwenden war.
„Lebendiges Singen“ – ob die Namensähnlichkeit mit „Lebendige Stadt“, der Lobby-Stiftung von ECE, „rein zufällig“ ist? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Ist aber auch fast egal, räumten doch die vier lokalen Repräsentanten dieser ECE-Unterstützergruppe – FDP-Stadträtin Kirsten Brößke, Neue Linie-Stadtrat Dirk Oehle, FDP-Mitglied, Ex-Stadtrat und Apotheker Johannes Danassis sowie Fotohändler Reiner Wöhrstein – auf Nachfrage ein, dass ihre Initiative durch den Großinvestor aus Hamburg sowohl finanziell als auch durch professionellen Rat von ECE-Marketing-Experten gefördert werde. Klare Ansage also: WIR können uns das leisten.
Um Kunden, nicht um Bürger geht es
Mit geradezu kindlich wirkender Freude enthüllten die vier Sprecher ihr BI-Logo, gleich in sechs Farben: So bunt wie diese solle auch das Leben in Singen werden, „fröhlich die Menschen, abwechslungsreich die Gastronomie und sicher die Zukunft“. Natürlich nur, wenn die SingenerInnen am 17. Juli ihre einmalige Chance ergreifen und die 140 Mio. €-Investition von ECE nicht zurückweisen … Reiner Wöhrstein präsentierte geballtes Marketing-Know-how mit sonderbaren Inkonsequenzen: Um Kunden, nicht um Bürger gehe es. Und ein Center brauche viele Kunden, damit es lebendig bleibe, damit die Stadt pulsiere. Nächste klare Ansage also – die Bürger sollten keine anderen Ansprüche an ihre Stadt stellen als die Nachfrage nach „Event-Konsum“.
„Singen hat keine Altstadt. Singen liegt nicht direkt am See. Singen ist keine Metropole. Ist nicht mal Oberzentrum. Singen hat keine Attraktionen. Nur nette, freundliche Menschen und ‚Das größte Angebot der Region‘. Singen ist die ‚Einkaufsstadt‘, die ‚Gewinnerstadt‘“, so Wöhrstein. Ja, wie denn nun – „hat Singen“ bzw. „ist Singen“ oder soll es erst durch ECE bekommen bzw. werden? Wenn Singen jetzt schon „ist“ bzw. „hat“, wozu braucht es dann noch ein ECE? Wöhrstein weiter: Das ECE werde „der Urknall, der alle wachrüttle, die Metamorphose, die Stadt werde sich als Gesamtkunstwerk neu erfinden“. Vor einer „Donaueschisierung“ warnte er gar, vor einer Stadtentwicklung wie in Donaueschingen, einer Stadt die sich „nach einer solchen Chance die Finger schlecken würde“. Wohlfühlatmosphäre, Highlights, mehr Strahlkraft auch abends und nachts waren weitere Versprechungen, alle nachzulesen in den Hochglanz-Broschüren der ECE-Werbemaschinerie. Bleiben doch noch Fragen: was bedeuten Hohentwiel, Singens viel gelobte Museen, die Stadthalle, die Färbe heute noch für die Stadt Singen – und ob das heißen soll, die Engener, Radolfzeller, Konstanzer seien weniger nett?
Foodcourt – was ist das?
Doch Singen bekäme ja nicht irgendein ECE-Center, sondern einen ganz neuen Prototyp eines Edelcenters, gab sich Dirk Oehle überzeugt. Was daran so anders sein soll, konnte aber keiner der Repräsentanten so recht erklären. Stadtrat und Recycling-Unternehmer Oehle schwärmte von tollen Handtaschen, die es vielleicht nur in diesem Center geben könnte und Singen dann für seine Handtaschen so berühmt werde, wie die Singener Automeile bekannt sei … Und falls es eine Marke bereits in einem anderen Singener Geschäft gäbe, weiß man auch gleich klugen Rat: Dieses Geschäft solle die Marke dann einfach aus seinem Sortiment nehmen und eine andere anbieten (und wohl einfach auf die Kunden dieser Marke verzichten?).
Auch was unter dem heiß ersehnten, abwechslungsreichen Foodcourt genau zu verstehen ist, bleibt offen. Vielfalt war das Zauberwort: Einen schnellen Fischladen, aber auch eine schicke Sushi-Bar, einen kleinen Coffee-Shop, ein abgeteiltes Restaurant solle, könne, würde es geben – vielleicht – aber das wisse selbst ECE jetzt noch nicht, schließlich gebe es noch keine Mietverträge, weiß die Juristin Kirsten Brößke. Nichts Genaues wissen also auch die Befürworter nicht. Von können, sollen, wollen war allzu oft die Rede, offensichtlich sollten die segensreichen Versprechungen der ECE-Traumfabrik – aus dem Standard-Text-Baustein-Kasten der Promotion-Experten – beindruckend genug sein.
Wer noch zum breiten Unterstützer-Kreis gehöre, blieb eher vage: 400 Unterschriften habe man ja schon letztes Jahr gesammelt, zwei anwesende junge Singenerinnen sollen die Whats-App-Generation und die Erstwählerinnen zwischen 16 und 18 aktivieren. Und mindestens 10 weitere GemeinderätInnen seien mit dabei, darunter auch – wen wundert‘s – ECE-Fan Walafried Schrott (SPD) und die beiden Grünen Dr. Isabelle Büren-Brauch und Sabine Danassis. Erwähnt sei an dieser Stelle, dass nur Dr. Hubertus Both und Dr. Klaus Forster (beide Freie Wähler) sowie Eberhard Röhm (Grüne) bei der Gemeinderatsentscheidung gegen das ECE-Großprojekt gestimmt haben, Monika Leible-Karcher (SPD) enthielt sich der Stimme.
Sachlichkeit und Fairness mahnten die Befürworter noch an, und lieferten gleich selbst eine Kostprobe davon. Angesprochen auf die Rede Manuel Waizeneggers bei der letzten Demo der ECE-kritischen BI „Für Singen“, wetterte Händler-Kollege Wöhrstein, was dieser denke, sei ihm herzlich egal, „dieser Mensch“ argumentiere nur auf einer emotionalen Ebene, ihm fehle jede Sachlichkeit. Und bei der Frage, ob auch die Befürworter eine Demo planen: Nein, sich auf der Straße zu versammeln, um Lärm zu machen und nur dagegen zu sein, sei nicht ihr Niveau. Sie wollen „schick, bunt und mit Sympathieaktionen auftreten, schließlich sei Sommer“.
Warten wir’s ab: einen gesponserter VW-Bus mit Werbe-Logos zu bekleben, ist so wenig ein Ur-Knaller wie Postkarten mit Beitrittserklärung zum „Lebendigen Singen“. Und ob Events zur Fußball-EM bei einem Center-Kritiker eine Metamorphose zum Fan bewirken?… So absolut siegessicher geben sich die Vier doch auch wieder nicht: Ob das Quorum erreicht werde, läge an vielem, u.a. am Wetter, mutmaßt Kirsten Brößke. Auf die Prognose 70 Prozent dafür, 30 dagegen von Dirk Oehle, warnte Wöhrstein schnell, „das Ding“ sei „noch nicht gelaufen“.
Kampf David gegen Goliath
Nein, gelaufen ist es noch nicht. Es werde zwar ein Kampf David gegen Goliath, betont Regina Henke, Sprecherin von „Für Singen“, immer wieder. Und diese BI lässt sich nicht entmutigen, weder von markigen Werbe-Worthülsen, noch von der finanziellen Übermacht des Hamburger Großinvestors und seiner Singener Sympathisanten. Die Center-Kritiker werden ebenfalls mit weiteren, wenn auch wahrscheinlich weniger effektheischenden Veranstaltungen und Aktionen aktiv und überaus lebendig sein. Mit Argumenten für eine Stadt aller BürgerInnen, die nicht nur reduziert werden dürften auf ihre Funktion als schöne, schicke, junge, fröhliche, buntgekleidete, konsumsedierte, shoppingsüchtige, angepasste, Ja-sagende ECE-KundInnen …
Uta Preimesser
Der Auftritt von „Lebendiges Singen“ hat etwas so beklemmend Fröhliches, das mich sofort an die Szenarien erinnert, wie sie George Orwell entworfen hat. Verglichen damit bietet doch selbst Crystal Meth eine grundsolide Ehrlichkeit an.