Der Klimablog (109): Ein Geschenk Gottes?

Seit das Bundesverkehrsministerium unter Volker Wissing (FDP) den EU-weiten Ausstieg aus dem Verbrennerantrieb torpediert, ist wieder von den E-Fuels die Rede. Dabei weiß niemand, ob synthetischer Sprit überhaupt energiearm erzeugt werden kann – und was für Auswirkungen auf Mensch und Natur er hat. Die aktuellen Debatten erinnern stark an eine fatale Entwicklung vor langer Zeit.

Vor hundert Jahren trafen Gesundheitsbehörden und viele Wissenschaftler:innen eine kolossale Fehlentscheidung, die in ihrer Konsequenz Millionen Menschen das Leben kostete, die Kriminalität erhöhte und eine ganze Generation verdummte. Die Rede ist vom Beschluss, dem für Verbrennungsmotoren benötigten Benzin bleihaltige Zusätze beizumischen. Und obwohl seit vorletztem Jahr weltweit verbleites Benzin aus dem Straßenverkehr verbannt ist, wird Blei noch immer in Flugbenzin verwendet – auch am Konstanzer Flughafen.

Wie konnte es dazu kommen, dass trotz der bekannten Gesundheitsgefahren von Blei der Zusatz zugelassen wurde – und im Flugbenzin noch immer zugelassen ist? Welche Lehren können wir daraus ziehen – auch für heutige Debatten? Hier nun eine Zeitreise in die US-amerikanischen 1920er Jahre und zu einer Debatte, die in vielerlei Hinsicht an heutige Diskussionen erinnert.

Klopfen im Motor …

Benzinmotoren des frühen 20. Jahrhunderts hatten ein Problem, das als Klopfen bekannt ist. Beim Komprimieren im Kolben entzündete sich das Benzin häufig vor der eigentlichen Zündung – mit der Folge, dass die Motoren unrund liefen, schneller kaputt gingen und sehr laut waren. Nach fünf Jahren Forschung gelang dem General-Motors-Chemiker Thomas Midgeley der Durchbruch. Er entdeckte, dass die Zugabe geringer Mengen an Tetraethylblei das Klopfen verhinderten (siehe dazu beispielsweise diese Werbung aus dem Jahr 1954).

Kurz nach der Entdeckung bildeten General Motors, DuPont (eine der größten Chemiefirmen der Welt) und Standard Oil (der damals global größte Erdölkonzern) die Ethyl Corporation, um den neuen Wundertreibstoff zu vermarkten. Allen Beteiligten war klar, dass sie mit klopffestem Benzin den Markt der Zukunft dominieren würden.

Es gab nur ein Problem: Es war auch damals schon  seit langer Zeit bekannt, dass Blei extrem giftig ist. Im Körper wird Blei in den Knochen eingelagert, schädigt das Nervensystem, beeinträchtigt die Blutbildung, schädigt Leber und Niere und kann Krebs verursachen.

… und im Körper

Eines der berühmtesten Opfer einer Bleivergiftung war übrigens – rund hundert Jahre früher – der Komponist Ludwig van Beethoven: Er hatte eine Schwäche für mit Bleiacetat gesüßten Wein. Die hohen Bleimengen, die er dabei aufnahm, werden heutzutage als wichtiger Faktor für seine Schwerhörigkeit und Taubheit angeführt.

Aber auch Thomas Midgeley, der Entdecker, hatte die Giftigkeit von Blei bereits am eigenen Leib erfahren. Er handelte sich während seiner Forschung eine Bleivergiftung ein und musste alle öffentlichen Auftritte erst einmal absagen. Sich des Risikos wohl bewusst, wusch er sich trotzdem ein paar Jahre später in einer Pressekonferenz demonstrativ die Hände mit verbleitem Benzin, um die Ungefährlichkeit seines Produkts zu beweisen.

Dass die drei Konzerne den Namen Ethyl Corporation wählten (und das Wort Blei mieden), war also kein Zufall. Jede Assoziation mit Blei sollte vermieden werden.

Frühe Warnungen

Dennoch warnten direkt nach der Einführung von verbleitem Benzin führende Wissenschaftler vor den Gesundheitsrisiken und forderten toxikologische Untersuchungen. Dass Blei giftig ist, stand außer Frage. Die große offene Frage aber war: Wie viel Schaden konnte das bisschen Blei anrichten, das dem Benzin beigemischt war?

Auf Nachfrage des Leiters der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde antwortete Thomas Midgeley für die Ethyl Corporation, dass die gesundheitlichen Auswirkungen sehr gründlich betrachtet wurden. „Auch wenn keine experimentellen Daten ermittelt wurden“, sei man sich sicher, „dass die durchschnittliche Straße so bleifrei sein wird, dass es unmöglich ist, Blei zu detektieren.“

Trotz dieser Antwort konnte bereits von Anfang an beobachtet werden, dass von verbleitem Benzin durchaus Gefahren ausgehen. Zahlreiche Beschäftigte starben in Laboren und Fabriken durch Bleikontakt oder entwickelten Halluzinationen. In einer Fabrik wurden innerhalb von zwei Jahren 300 Fälle von Bleivergiftungen bekannt. Die Fabrik bekam fortan den Beinamen „Schmetterlingshaus“, denn zahlreiche Arbeiter:innen hatten Halluzinationen von Insekten: „Die Arbeiter pausierten während der Arbeit oder in einem Gespräch und starrten intensiv in den Raum und schnappten nach etwas, das nicht da war“, schrieb die New York Times im Jahr 1925.

Verbot erst nach ein paar Toten?

Sowohl diese Vorfälle als auch die allgemein giftige Natur von Blei lösten eine intensive Debatte aus, in der es auch darum ging, ob es Aufgabe der Industrie sei sicherzustellen, dass ein Produkt sicher ist. Oder ob das eine Aufgabe von Gesundheitsexpert:innen und den Behörden ist. Ein Wissenschaftler schrieb in einem Brief an das Gesundheitsamt: „In der Vergangenheit war die offizielle Position, dass nichts verboten werden darf, bis bewiesen ist, dass es einige Menschen umgebracht hat. Ich vertraue darauf, dass in der Zukunft, insbesondere in Angelegenheiten wie dieser, die Position sein wird, dass eine Substanz wie Tetraethylblei nicht zum allgemeinen Gebrauch freigegeben wird, bis bewiesen ist, dass sie harmlos ist.“

Die nicht abreisende Kritik führte schließlich dazu, dass die Gesundheitsbehörden in Kooperation mit der Ethyl Corporation und auf Ethyls Kosten eine toxikologische Studie vornahmen. Doch bald stellte sich heraus, dass die Macht in der Beziehung zwischen dem gigantischen Ethyl-Konzern und der Behörde fast vollständig auf Seiten Ethyls lag. Dies äußerte sich in eine Reihe von Bedingungen, die Ethyl diktierte und letztendlich zum (wegen zahlreichen Studienfehlern heftig kritisierten) Ergebnis führten: „Nicht giftig.“

Die Durchmischung von Industrie und Wissenschaft blieb auch in den Jahren danach bestehen und verhinderte eine objektive Einschätzung. Diese Gemengelange zeigte sich beispielsweise in der Person Emery Hayhurst. Der Chemiker des Gesundheitsamtes Ohio machte sich für die Einführung von Bleibenzin stark, galt in der Öffentlichkeit jedoch als respektable neutrale Instanz. Was der Öffentlichkeit nicht bekannt war: Hayhurst stand als Berater auf Ethyls Gehaltsliste.

Die Aktualität der damaligen Argumente

Trotz der schieren Übermacht der Industrie blieben die Bleigegner:innen bei ihrer Kritik, untermauert von nicht abebbenden Berichten von vergifteten Arbeiter:innen (die die Industrie stets zu unterdrücken versuchte und immer auf individuelles Fehlverhalten der Beschäftigten zurückführte). Die Zweifel an der Ungiftigkeit wurden so groß, dass einige Bundesstaaten schließlich für einige Monate den Verkauf von Bleibenzin ganz untersagten.

Den vorläufigen Gipfel erreichte die Debatte 1925 mit der Einberufung einer Konferenz, zu der beide Seiten eingeladen wurden. Die Argumente, die damals vorgebracht wurden, sind auch heute noch aktuell und erinnern an fast jede umweltpolitische Debatte unserer Zeit.

Auf der einen Seite standen die Industriechemiker:innen und Ingenieure von DuPont, GM und Standard Oil, die vor allem ausführten, dass Bleibenzin essentiell für den industriellem Fortschritt Amerikas sei, dass jede Innovation Risiken enthält und dass Bleibenzin „ein Geschenk Gottes“ sei, das man nicht schon deswegen verbieten könne, weil in manchen Experimenten ein paar Tiere sterben und in anderen nicht.

Auf der anderen Seite verwiesen Gesundheitsexpert:innen darauf, dass Blei als Gift bekannt ist, das seine Wirkung langsam entfaltet, sich im Körper anreichert und daher es nicht in die Umwelt gelangen dürfe. Und die betonten, dass Menschenleben höher zu werten seien als der industrielle Fortschritt. Ein Professor der Uni Yale prognostizierte im Rückblick sehr korrekt, dass sich „Bleivergiftungen so heimtückisch verhalten, dass verbleites Benzin überall und in großen Mengen benutzt werden wird, bevor der Öffentlichkeit und der Regierung die Gefahr bewusst wird.“

Profitable Verzögerung

Die Konferenz endete mit einem vermeintlichen großen Sieg der Bleigegner:innen. Es wurde eine Kommission aus Universitätsprofessoren eingesetzt, die damit beauftragt war, die Giftigkeit von Bleibenzin erneut zu untersuchen. Bis zum Ergebnis dieser Untersuchung wurde die Produktion von Bleibenzin eingestellt. Die Gegner:innen feierten die Entscheidung als großen Erfolg, denn sie drehte die Beweislast zum ersten Mal um und legte das Urteil in die Hände von unabhängigem Personal.

Doch die Euphorie verflog schnell. Denn die Kommission legte bereits ein halbes Jahr später das Ergebnis ihrer Untersuchung vor, die allerdings auf Basis einer geringen Teilnehmerzahl und eines kurzen Zeitraums (sechs Monate) erfolgte: Sie habe keine negativen Gesundheitsauswirkungen feststellen können. Gleichzeitig betonte die Kommission jedoch, dass bei großflächiger Verwendung eine deutlich größere Bevölkerung deutlich länger und je nach Verkehrsentwicklung auch deutlich größeren Dosen von Blei ausgesetzt sei.

Sie sah ihr Ergebnis daher nur als Zwischenergebnis, das mit weiteren Studien bestätigt werden musste. Dieses wichtige Detail ging jedoch in der Folge unter. Hängen blieb die Botschaft: „Bleibenzin ist nicht giftig.“ Und da das ja nun bewiesen war, sollten die Steuerzahler:innen nicht mit weiteren unnützen Studien belastet werden. Diese Aufgabe wurde wieder dem Konzern Ethyl Corporation übertragen, der in den Jahren danach – Wunder über Wunder – bestätigten konnte: „Bleibenzin ist nicht giftig.“

Das Ergebnis dieser Geschichte war, dass sich in den kommenden Jahrzehnten weltweit verbleites Benzin als wichtigster Benzinkraftstoff durchsetzte und so nahezu die ganze Weltbevölkerung hohen Dosen an giftigem Schwermetall ausgesetzt wurde. Bis sich die Erkenntnis über die schrecklichen Gesundheitsfolgen durchsetzte, sollten noch viele Jahrzehnte vergehen und Millionen Menschen, insbesondere Kinder, einen hohen Preis zahlen.

Konstanzer Flugplatz, wo noch verbleites Benzin im Einsatz ist

Naiv und technologiefeindlich?

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Es gab zur damaligen Zeit keine eindeutigen Beweise, dass Bleibenzin giftig war. Das machte die Diskussion schwierig. Dennoch prognostizierten die Gegner:innen von verbleitem Benzin recht akkurat die Gefahren. Demgegenüber stand ein naiver industrieller Fortschrittsgedanke, dem der Großteil der damaligen Wissenschaftler:innen anhing. Die Gegner:innen von Bleibenzin wurden als rückwärtsgewandte, technologiefeindliche Menschen dargestellt. Das erinnert auch an heutige Debatten.

In der Europäischen Union liegt mitterweile die Beweislast für die Ungefährlichkeit von Produkten beim Hersteller. Laut der REACH-Verordnung der EU muss beispielsweise die Chemieindustrie die Sicherheitsrisiken aller Chemikalien einschätzen und darlegen, wie der sichere Umgang mit den Chemikalien erreicht werden kann. Allerdings stellten im letzten Jahr Wissenschaftler:innen fest, dass die Hersteller einerseits auch nicht annähernd hinterherkommen, die Auswirkungen heutiger Chemikalien zu bewerten. Und dass andererseits mit den inzwischen nicht mehr überprüfbaren neuen Chemikalien die planetare Grenze überschritten wird (siehe dazu auch das folgende Video von FFF Konstanz).

Dabei wurden aus dem Bleidesaster – siehe den Einsatz von verbleitem Benzin in Sportflugzeugen – immer noch nicht die nötigen Lehren gezogen.

Text: Manuel Oestringer von der Klima-Blog-Redaktion.
Bilder oben: Pixabay / Ethyl-Schild: Plazak, CC BY-SA 3.0_wikimedia / aktuelles Benzinfass aus dem Jahr 2010: IbaAirportjf9319_15. CC BY-SA 3.0, wikipedia.commons / Konstanzer Flugplatz: Carsten Steger, CC BY-SA 4.0, commons.wikimedia

Der Klima-Blog (hier die 109. Ausgabe) wird von Aktivist*innen von Fridays for Future Konstanz verfasst. Sie entscheiden autonom über die Beiträge. Frühere Artikel und Blogs finden Sie HIER.