Eine ganz besondere Art von Schmerz

Warum es schwierig ist, über Alltagsrassismus zu sprechen, was die Black Lives Matter- Bewegung (BLM) verändert hat, und ob es in Konstanz weniger Alltagsrassismus gibt als andernorts, darüber sprach ich mit vier Mitgliedern von BLM Konstanz am 27. Januar per Zoom. Einen Tag später entbrannte in deutschen Medien eine Debatte um die „Z“-Soße und im Anschluss auch darüber, wie privilegierte, weiße Menschen über Rassismus sprechen.[1] Eins ist klar: Rassismus ist für viele Menschen eine Alltagsroutine, und Rassismus als ein komplexes Problem zu erkennen, zu verstehen und zu verbannen, bleibt noch ein langer, gesamtgesellschaftlicher Prozess.

„Rassismuserfahrungen kennen wir [BPoCs][2] alle, das ist eine ganz besondere Art von Schmerz, der lässt sich nicht vergleichen damit, dass jemand zu dir ‚Arschloch‘ oder, ‚du bist doof‘ sagt.

Abla Chaya: Warum ist es in Deutschland schwierig, „angemessen“ über Alltagsrassismus zu sprechen?

Serena: Dieses Unverständnis und diesen Unglauben gegenüber Rassismus finde ich sehr schwierig. Es wird so getan, als könnte es das in Deutschland gar nicht geben. Rassismus wird dann verharmlost mit Sätzen wie: „Das ist ja gar nicht so schlimm“ oder er wird als Witz verpackt, nach dem Motto: „Mein Humor ist halt schwarz“. Es gibt hier einfach eine gewisse Ignoranz und die erkennt uns das Recht ab, dass uns das betrifft. Zudem wird uns damit auch oft gesagt, wie wir uns zu fühlen haben.

Glorianne: Es ist schwierig, weil Alltagsrassismus nicht in Grenzen gehalten wird. Er wird nicht klar definiert oder die Definitionen werden nicht gehört. Gerne hätte ich so eine Liste mit Definitionen, ab wann Dinge als rassistisch gelten, die ich den Menschen einfach hinhalten könnte. Wenn du eine Person mit ihrem rassistischen Verhalten konfrontierst, dann musst du dich meistens noch dafür rechtfertigen. Diese Menschen sehen nie ein, dass das was sie gemacht oder gerade ausgesprochen haben, rassistisch war. Das ist für mich sehr, sehr, schwierig.

Abla Chaya: Ihr habt letzten Sommer BLM Konstanz gegründet und zwei sehr beachtliche Demonstrationen organisiert. Welt- und deutschlandweit sind hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen, um auf Rassismus aufmerksam zu machen. Ist seitdem eine breitere Aufklärung oder Sensibilisierung für dieses Thema spürbar?

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Serena: Seitdem kommen auf jeden Fall viel mehr solche Gespräche über Rassismus auf mich zu.

Glorianne: Mir geht es ähnlich. Seit BLM habe ich das Gefühl, die Leute betrachten mich als deren Erklär-Lehrerin, zu der sie jederzeit gehen können, um sie zu fragen, ob etwas rassistisch ist oder ob man das oder jenes machen kann. Sie fragen auch: „Wann fühlst du dich angegriffen?“ Ich find`s cool, dass sie sich interessieren und etwas ändern wollen an ihrem Verhalten, aber ich bin nicht dafür verantwortlich. Es fehlt eine Institution, die Verantwortung dafür übernimmt, dass die Menschen aufgeklärt werden. Zum Beispiel sollten sich die Schulen verantwortlich fühlen. Damals war ich ja auch noch Schülerin und teilweise kamen sogar meine Lehrer:innen auf mich zu und fragten: „War das jetzt schon verletzend für dich?“ Solche Fragen gehen einfach gar nicht. Das ist nicht unsere Aufgabe.

Abla Chaya: Hat BLM euren Blick auf die eigenen Alltage verändert?

Serena: Mir fallen viel mehr Sachen auf, als davor, die ich jetzt als rassistisch bezeichnen würde. Früher hat mir einfach der Hintergrund gefehlt.

Glorianne: Einige der Sachen, die ich da in meiner Rede erwähnt habe [bei der BLM-Demonstration in Konstanz] wurden am nächsten Montag in der Schule aufgegriffen. Gefühlt jede:r Lehrer:in, in jedem Unterrichtsfach hat das zum Thema gemacht. Da wurden Dinge von mir zitiert, wie ein Erlebnis bei der Arbeit, bei dem ich mit dem „N“-Wort bezeichnet wurde. Das war kein gutes Gefühl. Ich will nicht sagen, dass die Leute darauf rumgetrampelt haben, aber sie haben mich und meine Erfahrung thematisiert und benutzt, um sich selbst etwas zu erklären. Ich habe dazu nichts gesagt, weil ich nicht wusste, wie ich ihnen erklären soll, dass ich das nicht will.

Abla Chaya: Das klingt sehr nach Doppelbelastung: du erlebst Rassismus und sprichst es an, sollst dich dann noch rechtfertigen und deine Mitmenschen darüber aufklären?

Glorianne: Ja, das ist eine Doppelbelastung. Und ich glaube seit BLM spüren das sehr viele Schwarze Menschen.[3]

Jean Pierre: So geht es mir oft, das sind so ganz krasse Gegensätze. Beispielsweise werde ich in Diskussionsrunden für Rassismen zur Verantwortung gezogen. Dann muss ich diese Situationen [rassistische Vorfälle] auch noch entfalten und entknoten. Oder ich werde zu Diskussionen befragt, wie zu der Sache mit der „M“-Apotheke“,[4] in der Wessenbergstraße. Oft wollen fremde Menschen mit mir diskutieren, warum da ein „M“ auf der Fassade ist und woher das „M“-Wort kommt, als ob ich die Figur dort aufgestellt oder gesagt hätte: „Die muss man jetzt wegen Rassismus entfernen“.

Abla Chaya: Krass. Einerseits wird euch oft die Expertise für eure eigenen Rassismuserfahrungen abgesprochen, andererseits erlauben sich Menschen, eure Geschichten beliebig zu nutzen oder erwarten, dass ihr per Abruf Stellung nehmen sollt, als müsstet ihr diese strukturellen, gesellschaftlichen Missstände unter Beweis stellen.

„Du wirst zur Ware, du wirst auch zu einem Konsum-Produkt.“

Linda: Es gibt da eine Kontinuität, ich sage mal sehr, sehr vorsichtig, zwischen George Floyd und dem, was gerade beschrieben wurde. Diese Geschichten haben natürlich sehr unterschiedliche Schweregrade, aber sie verselbstständigen sich. Bei George Floyd haben wir das auf social media gesehen: diese Stelle, wie er auf dem Boden lag und am Sterben war. Sein sterbender Körper ist mittlerweile historisch geprägt. Den kriegst du auch nicht aus diesem Kontext raus. Diese Dynamik hast du auch, wenn du etwas persönliches preis gibst, es ist unglaublich anschlussfähig, selbst an diese Emotionen wird angeknüpft.

Abla Chaya: Ist das eine besondere Form von rassistischer Respektlosigkeit?

Linda: Judith Buttler beschreibt es unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Betrauerbarkeit: Wer wird betrauert und wer nicht? Sie sagt: betrauerbare Körper müssen sich immer in einem gewissen, normierten Rahmen bewegen, beziehungsweise als normiert betrachtet werden, um eben betrauerbar zu sein. Das heißt, wenn du jetzt zum Beispiel eine Black-Trans-Person bist, die nicht nach diesen normativen Ansätzen eingeordnet wird, dann wird die nicht betrauert, weil sie eben nicht reinpasst. Bei Schwarzen Männern hast du das eher, weil es zu ihnen eine ganze Geschichte gibt und sie immer ins gleiche Muster fallen: du hast es bei Martin Luther King gesehen, vielleicht auch bei Anton Wilhelm Amo[5]. Nach dem Mord an einem jugendlichen Schwarzen in Ferguson, durch einen Polizisten, wurde das medial in vielen Filmen rezipiert, die diese Körper anschlussfähig machen. Frauen fallen da meist unter den Tisch, genauso wie nicht heterosexuelle Menschen.

Abla Chaya: Macht und Deutungshoheit spielen eine große Rolle dabei, das Sprechen über Alltagsrassismus zu erschweren. Wenn beispielsweise Lehrer:innen auf eure Kosten rassistische Phänomene zu erklären oder eben auch zu verwässern versuchen, wiederholen sie damit hegemoniale Diskurse? Ist das ein Preis, den Schwarze Menschen immer wieder bezahlen müssen?

Linda: Ja, du wirst zur Ware, du wirst zu einem Konsum-Produkt. Das stellt sich dann vor deine Biografie, mehr oder weniger. Du bist dann nur noch das Eine, womit du identifiziert wirst. Wie bei dem Fußballspiel von Paris Saint Germain in Istanbul: der Schiedsrichter bezeichnete den Schwarzen Trainer als „N“, anschließend fand er tausend Ausreden, warum er ihn jetzt so genannt hat, anstatt einfach nur „Trainer“ zu sagen.

„Es ist für uns auch sehr wichtig, dass wir eine Sprache finden, um das Erlebte zu kanalisieren.“

Linda: Wir sollten nicht immer in die Rolle gedrängt werden, weiße Menschen aufklären zu müssen. Wir Betroffenen erhalten dazu auch keine Bildung, beispielsweise von der Schule. Es ist für uns auch sehr wichtig, dass wir eine Sprache finden, um das Erlebte zu kanalisieren. Für das Gefühl und die Erfahrung muss ja eine Sprache bereitgestellt werden. Jean Pierre, du hast gemeint, du musst sehr viele von deinen Erfahrungen alleine mit nach Hause nehmen und dann sitzt du damit da und weißt nicht, was tun. Kannst du in Sprache umwandeln, was du empfindest bei so etwas [rassistischen Anfeindungen]? Findest du Worte, mit denen du das auffächern kannst?

Jean Pierre: Oh, ja. Wir kennen ja diese Situationen, in denen du mit einer Sache konfrontiert wirst und da musst du halt schlagfertig sein. Man lernt irgendwann mit solchen Situationen umzugehen. Ich kontere gerne direkt, damit das Gegenüber gleich weiß, wie blöd er oder sie eigentlich ist und zum Nachdenken reanimiert wird. Manchmal funktioniert es, manchmal haben sie einfach den Knall nicht gehört. Das sind dann einfach dumme Menschen.

Linda: In einem Empowerment-Training habe ich gelernt, dass die Gefahr groß ist, den Bezug zu sich selber und zu dem, was diese Erfahrung mit einem macht zu verlieren, wenn man immer auf den „Gegner“ eingeht. Ich glaube, solange wir keine Sprache dafür haben, bleibt Rassismus immer auch ein Trauma. Das kann irgendwie nicht versachlicht werden. Im Prinzip sind das hundertfache Erfahrungen, die wir machen und die nicht aufgearbeitet sind, weil wir darüber nicht richtig reden können.

Abla Chaya: Jahrzehntelang war der Begriff „Rassismus“ tabuisiert. Generationen von BPoCs, die als Kinder und Jugendliche rassistische Erfahrungen gemacht haben, konnten nicht ausdrücken, was ihnen widerfahren ist, weil es dafür keine „anerkannte“ Bezeichnung gab. Um das Phänomen Rassismus als solchen zu benennen, musste lange gekämpft werden.

Linda: Genau das ist auch Teil meiner Erfahrung. Rassismuserfahrung kennen wir [BPoCs] alle, das ist eine ganz besondere Art von Schmerz, der lässt sich nicht vergleichen damit, dass jemand zu dir „Arschloch“ oder „du bist doof“ sagt. Das ist eine ganz eigene Erfahrung. Erst durch mein Studium habe ich Begriffe gefunden, um das Ganze in einen Diskurs zu verwandeln. Da konnte ich das Erlebte reflektieren und in meine Biografie integrieren und dann war es aufgearbeitet nach ein paar Jahren. Das ist für mich eine Form von Traumatherapie durch Sprachverarbeitung. Dass wir keine Sprache dafür haben, ist definitiv ein strukturelles Problem.

„Diese Frage wird dann immer auch noch als ‚Neugierde‘ verpackt und als nicht-rassistisch abgetan.“

Abla Chaya: Das perfide am Alltagsrassismus ist ja auch, dass er einfach zu jeder Zeit auf dich einprasseln kann. Du selbst kannst es nicht steuern. Menschen, die eigentlich das Problem sind, machen dir unnötig Probleme und entscheiden, wann und wie sie das tun.

Jean Pierre: Also ich hatte mal einen ganz brisanten Fall, Ende der 1980er Jahre. Da war ich während des Seenachtsfest auf dem Klein Venedig-Gelände mit dem THW im Einsatz.  Eine Schankbude bot ein Weizenbier-Cola-Gemisch an und bezeichnete das mit dem „N“-Begriff. Einer aus unserer Gruppe hat sich stark gemacht und ist zum Betreiber hin, er möge die Tafel bitte abhängen, weil es einfach unangemessen rassistisch sei. Die Reaktion war klar: Es hieß schon immer so und das könne er nicht einfach ändern. Mein Kollege hat so lange mit ihm diskutiert, bis er die Tafel umänderte. Im Prinzip war ich indirekt davon betroffen, ich wusste ja nicht, dass er jetzt sofort darauf lospirscht und mich in „Schutz“ nimmt. Ich wusste auch gar nicht, wie ich jetzt darauf reagieren sollte, vielleicht war ich damals auch zu jung? Ich konnte es nicht einordnen, fand ich es toll, hat es mich verletzt?

Serena: Die Frage: „Woher kommst du?“ ist auch so ein Thema. Das fragen mich Leute mitten auf der Straße, Leute, die ich gar nicht kenne. Sie würden doch nie auf die Idee kommen, auf blonde Menschen mit blauen Augen zuzugehen, um sie zu fragen woher sie kommen. Weil halt angenommen wird, sie seien aus Deutschland, dabei könnten sie genauso gut aus Schweden sein oder was weiß ich. Diese Frage wird dann immer auch noch als „Neugierde“ verpackt und als nicht-rassistisch abgetan.

Abla Chaya: Diese Frage begleitet mich schon mein ganzes Leben. Sie kommt so harmlos und subtil daher. Dabei kostet es sehr viel Kraft, sie nicht an sich ran zu lassen oder den Menschen das rassistische Moment dieser Frage zu erklären. In öffentlichen Diskursen wird anhand dieser Frage das Thema Alltagsrassismus gerne auch ins Lächerliche gezogen oder es wird relativiert à la: „Wir haben doch auch viel schlimmere Probleme“.

Serena: Das würde ich auf jeden Fall als Ignoranz abstempeln. Andere dumme Sprüche wie: „Du kannst bestimmt super tanzen“, nerven natürlich auch. Aber dieses „Woher-kommst-du“ wird selbst unter Freunden diskutiert. Das ist anstrengend, weil ich weiß, dass sie es zwar verstehen wollen aber nicht verstehen können, weil sie es halt nicht erleben.

Linda: Auch PoCs untereinander stellen sich diese Frage. Das ist eine Ebene von internalisiertem Rassismus. Die eigene so genannte Herkunft wird stärker identifiziert, je mehr man von der dominierenden Mehrheitsgesellschaft grundlegend ausgeschlossen ist. Das sollte auf beiden Seiten dekonstruiert werden. Im Prinzip ist man doch deutsch.

„Ich habe natürlich sehr viel Positives erlebt, aber eben auch sehr viel Negatives.“

Abla Chaya: Jean Pierre, auf Instagram hat BLM Konstanz Rassismen beschrieben, die du in deinem Arbeitsalltag erlebt hast. Magst du davon erzählen?

Jean Pierre: Ich war Omnibusfahrer bei der Stadt Konstanz, vor mir gab es wohl schon mal einen Schwarzen Busfahrer. Aber ich war nach langer Zeit wieder der Erste und war natürlich auch sehr präsent. Ich habe unheimlich viel Positives erlebt, aber eben auch viel Negatives. Am schlimmsten waren eigentlich die Grenzübergänge. So manch ein Schweizer war ein bisschen negativ auf mich eingestimmt, da hat man dann gemerkt, dass sie schon ziemlich rassistisch sind.

Abla Chaya: Die Zöllner?

Jean Pierre: Ja, die Zöllner, also die Fahrgäste auch, aber vor allem die Zöllner. Seit 1928 gibt es bereits den grenzüberschreitenden ÖPVN. An diesem einmaligen Tag fuhr ich die Linie 908 von Konstanz in die Schweiz, hinterm Lago senkten sich die dafür vorgesehenen Grenzpoller. Außerhalb der Haltestelle baten circa ein halbes Dutzend Schweizer Zollbeamte um einen Zustieg in den Omnibus. Sie sind direkt auf mich zu gekommen und haben um mich herum einen Kreis gebildet und wollten meine Papiere: Ausweis, Führerschein, das volle Programm. Ich war der Fahrer und hatte zwanzig Fahrgäste im Bus, von denen wollten sie nichts sehen. Das war so richtig mies. Ich war wie vor den Kopf gestoßen. An dem Tag habe ich noch normal weitergearbeitet und bin dann am nächsten Tag in das Fahrdienstbüro und habe die Situation geschildert: „Hey, als Chauffeur bin ich ein Aushängeschild der Stadtwerke Konstanz. Solche Vorkommnisse verbiete ich mir künftig während der Arbeitszeit. In meiner Freizeit bin ich gerne dazu bereit, das Zollamt aufzusuchen und all meine Dokumente zur Ansicht zu hinterlegen“. Die Reaktion war eher spärlich, unter anderem hieß es: „wer weiß, was in diesem Zusammenhang die Vorgeschichte war“ und was die Zollbeamten dazu bewegte mich so bloßzustellen. Damit war das Thema erledigt, aber ich habe mich künftig geweigert, den 908er zu fahren, diesen Schweizer Dienst habe ich mit Kollegen getauscht. Es gab noch viele Beispiele: Komisch war auch, wenn bei außergewöhnlichen Vorfällen die Polizei dazukommen musste, beispielsweise wenn ein Fahrgast sein Recht auf Beförderung verloren hat. Einige der Polizisten waren eher unmotiviert bis gelangweilt, anstatt sich um den eigentlichen Fall, den störenden Fahrgast, zu kümmern.

Abla Chaya: Was hättest du dir damals von deinem Arbeitgeber gewünscht?

Jean Pierre: Wir haben Verkehrsmeister, die zu jeder Zeit, wie bei Verkehrsengpässen oder Baustellen zur Unterstützung des Linienverkehrs, vor Ort sein können. Ich hätte mir gewünscht, dass sie auch bei Konflikten vorbeikommen. Da hätte man so manch einen Fall beruhigt strafrechtlich verfolgen können. Als Zusatz: ab 21:00 Uhr musste man früher vorne in den Omnibus zusteigen und unaufgefordert seinen Fahrschein zeigen oder lösen, aber aufgrund zunehmender Gewalttaten und dadurch resultierender Personalausfälle sieht man jetzt davon ab (…) Klar gab es viele dieser Fragen, wie „woher kommst du“ oder „wieso sprichst du so gut Deutsch?“ Bei Konfrontationen kam es oft so betont: „SIE SPRECHEN ABER GUT DEUTSCH.“ Da verdrehe ich die Augen und wehre mich halt, indem ich genauso blöde Fragen stelle. Und wenn es mir zu massiv wird, dann bringe ich den Vergleich zum Dritten Reich. Das schockiert oft, da kommt dann ganz schnell: „Ich bin doch kein Nazi“. „Oh doch“, sage ich dann, „wenn du dich mir gegenüber so benimmst, dann schon.“ Meistens kommt dann dieses: „nimm es nicht persönlich, das war ja nur ein Scherz“. Aber man hat dann seine Ruhe.

„Ich wünsche mir auf jeden Fall, dass dem Thema mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird und dass sich die Verantwortlichen weiterbilden.“

Abla Chaya: Welchen Umgang mit Alltagsrassismus würdet ihr euch von einer offenen Stadtgesellschaft wünschen?

Serena: Vielleicht würden antirassistische Schulungen für Lehrer:innen und Schüler:innen helfen. Schlussendlich kann ich es nicht bewerten, weil es sie ja nicht gibt. Schön wäre auch, wenn im Unterricht BPoC-Autor:innen vorkämen, vorgestellt und gelesen würden, vielleicht würde das ein gewisses Verständnis wecken.

Linda: Grundsätzlich ist Bildungsarbeit wichtig, in alle Richtungen. Die Aufarbeitung aller verschiedener Geschichten, die BPoCs an diese Gesellschaft heften, wäre auch eine Art von so genannter „Integration“. Wir haben eine Kolonialgeschichte und wir haben viele Schwarze deutsche Akteur:innen in der Geschichte. Sie müssen aber aus einer Vergessenheit wieder hervorgeholt werden. Das ist im Rahmen von Empowerment und einer eigenen Identitätsbildung von großer Wichtigkeit und es könnte identitätsstiftend wirkend; mit der gesamten Gesellschaft.

Glorianne: Ich wünsche mir auf jeden Fall, dass dem Thema mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird und dass sich die Verantwortlichen weiterbilden. Damit meine ich nicht uns PoCs, wir sind nicht verantwortlich. Die Menschen sollen lernen, dass sie unsere Erfahrungen nicht klein reden sollen und bei manchen Themen können sie einfach nicht aus eigener Erfahrung sprechen. Das heißt, sie müssen verstehen lernen, dass sie manchmal halt auch kein Mitspracherecht haben. Es macht mich verrückt, wenn weiße Menschen mir in meine Erfahrungen reinreden.

Abla Chaya: Zum Beispiel wenn sie definieren, was rassistisch ist und was nicht?

Glorianne: Genau. Von der Stadt wünsche ich mir, dass sie sich eingesteht, manchmal rassistisch zu sein. Dieses Abstreiten und dieses Rechtfertigen macht es nur noch viel schlimmer. Der erste Schritt wäre, Fehler zu akzeptieren. Irgendwie fehlt hier der Wille, Dinge besser machen zu wollen. Ich weiß, die Stadt hat keinen Einfluss auf den Lehrplan, trotzdem denke ich, könnte sie zum Beispiel Workshops anbieten für die Schulen. Und da fällt mir noch unser Herr Oberbürgermeister ein. Ich habe das Gefühl, alles was mit BLM zu tun hat, interessiert ihn nicht im Geringsten. Er wurde von uns mehrfach auf Postings hingewiesen, auch als es um die OB-Wahl ging. Wir haben ihm zig Möglichkeiten gegeben sich zu äußern, einen Schritt auf uns zuzumachen, er hat nichts davon genutzt. Das zeugt für mich einfach von Ignoranz. Es zeigt mir, dass er ein weißer privilegierter Herr ist und seine Wähler scheinen auch nicht betroffen zu sein, deswegen interessiert er sich noch weniger dafür. Ich meine, der OB steht ja für die Stadt und wenn ihn das nicht kümmert, ist das schon ein gewaltiges Problem.

Linda: Hier passt der Begriff des „Unpolitischen“ sehr gut. Durch seine Passivität bleibt er unpolitisch, das ist immer eine Positionierung mit dem Status Quo. Das heißt, wir denken, dass er eigentlich mit der Situation, so wie sie ist, sehr zufrieden ist. Da treffen einfach white privilege und eine totale Ignoranz aufeinander.

Glorianne: Dadurch entsteht ein Gefühl, als würden wir gegeneinander arbeiten. Würde er sich einfach mal mit uns austauschen, könnten wir hier vielleicht auch etwas voran bringen in Sachen Antirassismus. Er hat sich nicht ein einziges mal in einem Post solidarisch gezeigt.

Linda: Um hier auch mal das Forum der Kulturen (sic!) aufzugreifen [gemeint ist das Internationale Forum]. Sie haben bei einer Sitzung beschlossen, dass die Stadt genug gegen Rassismus und für Antidiskriminierung macht. Da hatte ich schon den Eindruck, dort herrscht diese Haltung: „Ach darüber müssen wir ja auch noch reden“, als wäre Rassismus ein beiläufiges Thema. Gleichzeitig gibt es diese Dynamik, wenn es wirklich wichtig ist und es uns betrifft, werden wir einfach nicht gefragt: Es wird über uns, nicht aber mit uns gesprochen. Das ist auch so eine koloniale Kontinuität: Menschen mit Macht und Kapital entscheiden, was mit den „Anderen“ passieren soll. Wir als politische Bewegung sind diesen Machtstrukturen ausgesetzt.

Jean Pierre: Die Leute sind irgendwie satt und sagen: „Oh schon wieder dieses Rassismus-Zeug, ich bin doch nicht rassistisch“ und so weiter. Der Mensch ist halt oft auch ein primitives Tier. Ich weiß nicht, ob ein Außenstehender das jemals begreift, dass er uns halt auch Schmerz zuführt oder dass er sich jetzt halt unrecht verhält. Der ist jetzt ganz wo anders: erstmal hat er die Pandemie und wenn die weg ist, dann kommen die Flüchtlinge, die überall auf Heimat oder ein warmes Zuhause warten, „die muss man auch noch bekämpfen“, dann kommt noch die und jene Problematik. George Floyd, das ist schon lange weit weg. Das hat sich ja nicht von selber geklärt, ich glaube, da sind viele noch nicht angekommen. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben.

Linda: Ich wünsche mir grundsätzlich mehr Forschung und deren Anerkennung zu dem Thema, wie: Welche Zusammenhänge gibt es zwischen Rassismus, Traumata und Sprache, wie werden Schwarze Menschen repräsentiert, welche koloniale Kontinuität gibt es und wie können wir uns davon befreien? Eine wissenschaftliche Aufarbeitung und Reflektion der Institutionen wäre auch wichtig, das sind Fragen wie:  wer hat welche Ämter inne, wie beispielsweise im Forum der Kulturen (sic!), wer ist dafür aus welcher Perspektive überhaupt geeignet, also welche Subjektpositionen sind vertreten und nicht welche Abschlüsse die Personen haben, das ist übelst wichtig. Das sind doch zentrale Themen. Klar brauchen wir Aufklärung, aber weiße Menschen nur aufzuklären, kann nicht die einzige Lösung sein. Dann haben wir aufgeklärte weiße Menschen in allen Positionen, das ist cool, aber halt nicht das Ende vom Lied.

Abla Chaya: Ich danke euch für das Gespräch.

Bild: Demonstration von Black Lives Matter am 13. Juni 2020 in Konstanz (Quelle: Privat)


[1] Siehe: https://www.youtube.com/watch?v=r45_9wvbDoA

[2] BPoC oder BIPoC, aus dem US-amerikanischen: B für Black, I für Indigenous, PoC für People of Color; gemeint sind alle Menschen, die potentiell von Rassismus betroffen sind.

[3] „Schwarz“ groß geschrieben ist eine politische Selbstbezeichnung, von und für Menschen mit Rassismuserfahrungen, es ist keine Bezeichnung der Hautfarbe.

[4] Um rassistisch diskriminierende Begriffe nicht endlos zu wiederholen werden sie mit ihrem ersten Buchstaben abgekürzt, die meisten Menschen wissen welche Worte gemeint sind.

[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Anton_Wilhelm_Amo