Integration: Eine Herkulesaufgabe für beide Seiten

Teil 1

Anne Mühlhäußer ist Stadträtin der Freien Grünen Liste (FGL) im Konstanzer Gemeinderat und als Lehrerin täglich mit den Problemen benachteiligter Kinder mit und ohne Fluchthintergrund konfrontiert. Wir haben mit ihr über ihre Erfahrungen mit der Integration vor allem geflüchteter Kinder und Jugendlicher gesprochen. Welche Probleme zeichnen sich derzeit ab und was muss getan werden, um diesen Kindern (und ihren Eltern) eine menschenwürdige Zukunft zu ermöglichen?

Sie sprachen jüngst im Gemeinderat von Schwierigkeiten bei der „Beschulung“ geflüchteter Kinder.
Ich bin Lehrerin an der Säntisschule. Die Säntisschule ist eine Schule für Kinder, die sozial oder emotional behindert sind, die sich also nicht anders verhalten können, als sie es tun. Zusätzlich arbeite ich ein bis zwei Stunden pro Tag in internationalen Klassen an der Geschwister-Scholl-Schule und helfe dort bei der Inklusion, indem ich als zweite Lehrerin an Unterrichtsstunden teilnehme.

Um wie viele Kinder und Jugendliche handelt es sich?
An der Geschwister-Scholl-Schule gibt es vier internationale Klassen mit insgesamt etwa 100 Schüler*innen. Das sind zur Hälfte Kinder mit Eltern aus Italien oder vom Balkan, die in ihren Heimatländern wie Bulgarien oder Rumänien keine Arbeit finden.

Die andere Hälfte sind Flüchtlingskinder aus Kriegs- und Bürgerkriegsländern wie Syrien, Irak und Afghanistan. Diese Schüler*innen sind überdurchschnittlich verhaltensauffällig. Viele halten eine normale Unterrichtsstunde gar nicht durch, und sie haben keine Selbstkontrolle und Impulssteuerung. Ich habe heute ein afghanisches Kind auf die eine Seite neben mich gesetzt und auf die andere ein syrisches Kind, das drei Jahre lang auf der Flucht war. Es ist unheimlich schwierig, solche Schüler*innen zu einem Arbeiten zu bewegen, wie wir es gewohnt sind. Wenn sie den Impuls zu reden haben, reden sie sofort los.

In welchem Alter sind diese Schüler*innen?
Sie kommen in der fünften Klasse an die Geschwister-Scholl-Schule, das Gros ist 12 bis 15 Jahre alt.

Welchen Bildungshintergrund haben diese Schüler*innen?
Die meisten Eltern haben keinen akademischen Hintergrund, sie haben Schuhe verkauft oder Brot gebacken, manche waren Landwirte. Viele dieser Kinder gingen nur selten zur Schule, weil sie zum Beispiel auf dem Feld helfen mussten. Es musste einfach etwas zu essen her. Einige waren drei Jahre in ihrer Heimat in der Schule und dann die nächsten drei Jahre auf der Flucht. Hier in Deutschland kommen sie in die 6. oder 7. Klasse, aber ihnen fehlt natürlich sehr viel. Immer mehr werden als E-Schüler*innen klassifiziert, das heißt als Erziehungshilfe-Schüler*innen, für die das Schulamt ein sonderpädagogisches Bildungsangebot genehmigt. E-Schüler*innen können zu uns an die Säntisschule kommen, wo wir extrem kleine Klassen und einen anderen Stundenplan haben.

Verstärken sich Verhaltensauffälligkeiten der Schüler*innen mit der Aufenthaltsdauer in Deutschland oder werden sie mit der Zeit einfach nur besser erkannt?
Zuerst sind sie von den Erfahrungen auf der Flucht und dem neuen Land total geschockt, aber das alles bleibt erst mal unter dem Deckel. Sie sind froh, dass sie überhaupt irgendwo landen konnten, dass sie ein Bett haben, dass es genug zu essen gibt, dass keine Bomben mehr fallen. Die Verhaltensauffälligkeiten entwickeln sich dann im Lauf der Zeit.

Hängt das auch mit der Wohnsituation in den Unterbringungen zusammen?
Nicht nur, aber die Wohnsituation verschärft die Probleme natürlich. Ich kenne eine Familie mit fünf Kindern in der Steinstraße, die quasi zu siebt in einem Zimmer wohnt. An Hausaufgaben und Konzentration ist unter solchen Umständen gar nicht zu denken. Außerdem ist in solchen Einrichtungen die Nachtruhe oft gestört, gerade wenn im Ramadan das halbe Haus nachts lebt.

Welche Rolle spielen Sprachprobleme?
Deutsch ist eine komplett andere Sprache als Arabisch oder Farsi, und viele tun sich damit sehr schwer. Natürlich gibt es ein paar Sprachbegabte, die sehr schnell vorankommen. Aber für viele ist das ein großes Problem. Allein die Schrift ist eine Herausforderung, denn wir schreiben ja von links nach rechts, während in arabischsprachigen Ländern von rechts nach links geschrieben wird. Viele Kinder malen die Buchstaben regelrecht und sind damit natürlich sehr langsam. Das heißt nicht, dass diese Kinder dumm wären, sondern sie stehen einfach vor einer Herkules-Aufgabe.
Kommunikationsprobleme gibt es außerdem mit den Eltern, da brauchen wir manchmal eine/n Dolmetscher*in.

Bereitet die Lehrer*innen-Ausbildung auf diese Probleme vor?
Es wäre sehr hilfreich, wenn es ein Aufbaustudium „Interkulturelle Kompetenz“ gäbe. Ich hatte beispielsweise in einer Inklusionsklasse ein Kind mit zwei promovierten Eltern, das dringend Hilfe brauchte, aber die Eltern wollten nichts zulassen. Eine Kollegin mit Auslandserfahrung sagte mir dann, dass das Hilfsangebot für ein arabisches Akademiker-Paar einen verheerenden Gesichtsverlust bedeutete. Hätte ich vorher gewusst, dass sie meine Angebote gar nicht annehmen können, wäre es für mich leichter zu akzeptieren gewesen. Da wäre eine entsprechende Aus- oder Fortbildung sehr hilfreich.

Wir haben auch Kinder aus Osteuropa, etwa Bulgaren oder Rumänen, die wir anders unterrichten müssen, denn sie erwarten oft einen ganz klassischen Drill, sie erwarten klare Ansagen, klare Grenzen und härtere Strafen. Wir arbeiten ja nicht mehr nach der schwarzen Pädagogik, sondern eher schon antiautoritär, aber das finden die nur pillepalle.

Pädagogische Konzepte und Angebote für Lehrer*innen, die wirklich greifen, gibt es also nicht?
Vermutlich gibt es da schon irgendwo mal einen Tag zu interkultureller Kompetenz an irgendeiner PH, aber das reicht nicht. Grundsätzlich muss sich unsere gesamte Gesellschaft darauf einstellen, interkulturell zu agieren. Eine meiner Schülerinnen wird z.B. gezwungen, mit zum Schwimmen zu gehen, aber sie ist Muslimin und will sich nicht ausziehen. Was soll das? Sie soll hier Mathe, Deutsch und Englisch lernen, damit sie später ein gutes Leben hat, und dazu muss sie nicht schwimmen können.

Was müsste sich an den Schulen ändern? Sind die deutschen Schulabschlüsse ein geeignetes Ziel für ausländische Schüler*innen mit Fluchthintergrund?
Ich würde die Abschlüsse nicht in Frage stellen, denn sie sind gesamtgesellschaftlicher Konsens. Außerdem sind meine Schüler*innen ungeheuer stolz, wenn sie einen Abschluss erreicht haben, das ist ja ein echtes Ziel für sie. Eine osteuropäische Schülerin war zeitweise kriminell und depressiv, weil sie gar nicht hier sein wollte, und ich musste sie quasi zum Hauptschulabschluss tragen. Aber als sie ihn hatte, war sie so etwas von stolz! „Jetzt kann ich leben, jetzt kann ich eine Ausbildung machen!“ Dieses System hat sich in meinen Augen ebenso bewährt wie das duale System danach mit Ausbildung und Berufsschule.

Was müsste sich dann ändern?
Man müsste mit zwei Lehrkräften in einer Klasse arbeiten. Vielleicht muss man dafür Stunden reduzieren, also nur anderthalb statt drei Stunden Biologie in der Woche unterrichten. Die Schüler*innen sind derart unterschiedlich, dass man eigentlich sogar eine 1:1-Betreuung bräuchte, so verschieden sind die Schüler*innen und deren Voraussetzungen.

Man müsste also deutlich mehr Personal einstellen …
Ja, unbedingt.

Wie sind die schulischen Erfolgsaussichten derzeit?
Es gibt immer wieder Flüchtlingskinder, die in die Realschule kommen. Wir müssen den Schüler*innen klarmachen, dass Lehrer*innen in Deutschland nicht mit dem Rohrstock vor der Klasse stehen, sondern dass sie sich selbst motivieren müssen, dass sie die Hausaufgaben von sich aus machen müssen, wenn sie den Abschluss haben wollen. Wir müssen ja erst einmal vermitteln, wie man hier einen Abschluss schafft und wie man später an eine Lehrstelle kommt.

Da wächst also nicht eine Generation heran, die für das deutsche Bildungs- und Arbeitswesen verloren ist?
Nein. Sie gewöhnen sich an das deutsche Bildungs- und Gesellschaftssystem. Wir sind bemüht, jeden, der es irgendwie schaffen könnte, zum Hauptschulabschluss zu bringen. Aber die Werkrealschule an der Geschwister-Scholl-Schule wird jetzt ja geschlossen, und die meisten Schüler*innen aus internationalen Klassen sind dort an der Werkrealschule, die einfach einen Superjob macht.

Wie stehen denn die Chancen für mehr pädagogisches Personal?
Total schlecht. Die Landesregierung sieht nichts ein, das muss selbst ich als Grüne sagen. Ich weiß nicht, ob sie’s nicht besser wissen oder ob sie’s nicht wissen wollen. In Berlin und Schweinfurt gibt es schon Schulen, die eine Doppelbesetzung mit zwei Lehrkräften für solche Klassen durch geschickte Stundenpläne hinkriegen. Das bräuchte es in allen internationalen und Werkrealschulklassen permanent.

Wagen Sie eine Prognose?
Das Unterrichten überhaupt wird nicht einfacher werden, und zwar in allen Schultypen. Die Schüler*innen können sich immer weniger konzentrieren: Zu wenig Bewegung, zu viel Zucker, zu viele elektronische Ablenkungsmöglichkeiten. Ich hatte schon deutsche Schüler*innen, die gar nicht mehr in die Schule gekommen sind, weil sie bis morgens um fünf oder länger im Internet gezockt haben. Dann sagen mir andere, dass sie gar nicht krank, sondern sogar in diesem Augenblick online sind. Das wird noch eine ziemlich brisante Geschichte werden.

Das Gespräch führte O. Pugliese

Der zweite Teil des Interviews folgt morgen.