Eine Zeitreise auf Rangiergleis 10
In Gedenken an eine von vielen Schandtaten der Nazis im Dritten Reich trafen sich am Freitag 120 Menschen vor der Stele an der Dreifaltigkeitskirche, um an die vor 75 Jahren nach Südfrankreich in ein Internierungslager verschleppten 112 Konstanzer jüdischen Glaubens zu erinnern. An dieses beschämende, qualvolle Szenario der Deutschen Geschichte gemahnen neben der Mahnwache auch zwei Waggons auf Rangiergleis 10.
Petra Quintini von der Konstanzer Stolperstein-Initiative las zusammen mit Schülerinnen und Studentinnen aus Zeugenbriefen der 112 deportierten Konstanzer vor. Gemeinsam zogen die Trauernden dann im Schweigemarsch mit Teelichtern zur Gedenkfeier am Rangiergleis Nummer 10. Tobias Engelsing, Chef der Konstanzer Museen, erinnerte dort an die weiteren 6400 Deutschen, die am 22.10.1940 aus Baden, der Pfalz und dem Saarland in das Lager Gurs in Südfrankreich transportiert wurden.
Vadim Schuhmann vom jungen jüdischen Verein „Jewlike“ beleuchtete in seiner Rede die systematische Entrechtung und Erniedrigung der Juden und den damit einher gehenden Antisemitismus in Deutschland bereits kurz nach der Machtübernahme 1933. Lukas-Daniel Barwitzki, ein studentischer Museums-Mitarbeiter, brachte das antisemitistische Handeln, die systematische Deportierung von Menschen jüdischen Glaubens zunächst in Arbeitslager, dann in Vernichtungslager mit seiner Beschreibung eines „nationalsozialistischen Völkermords“ auf den Punkt; das eindrucksvolle Totengebet des Rabbiners Stern würdigte die 112 jüdischen Konstanzer auf angemessene Art. Der Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde Konstanz bezeichnete die Gedenkfeier als „keine Selbstverständlichkeit“ und bedankte sich bei allen Unterstützenden und Anwesenden. Für ihn sind der nun endlich beschlossene Neubau der Synagoge in Konstanz und die endgültig in Stuttgart unterzeichnete Sicherung der Grabstätten in Gurs bemerkenswerte Meilensteine.
In Engelsings abschließenden Worten appellierte der Museumschef, aus den Fehlern unserer Vorfahren zu lernen, nicht wegzuschauen, sondern hinzuschauen und „das Richtige zu tun“. Insbesondere verwies er auf die Aktualität dieses Themas in Bezug auf die Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten, die unter anderem in Deutschland Sicherheit und Zuflucht suchen. Ganz nach dem Motto der Initiative Stolpersteine „Gegen Vergessen und Intoleranz“ sei die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, auch wenn sie noch unangenehm sein mag, auch bei künftigen Generationen für alle wichtig.
Im Anschluss an die Gedenkfeier konnte man sich auf eine atemstockende Zeitreise in das Jahr 1940 begeben. In zwei der ursprünglich neun originalen Deportations-Waggons, die am 22.10.1940 in Petershausen abfuhren, sind noch bis zum 01.11.Bilder von jüdischen Konstanzerinnen und Konstanzern und deren persönliche Geschichten ausgestellt. Die sehenswerte und eindrucksvolle Ausstellung ist von Dienstag bis Freitag von zehn bis 18 Uhr auf dem Rangiergleis Nummer 10 zu sehen.
Geschichtsunterricht in der Eisenbahn
Vor 75 Jahren wurden 112 jüdische Konstanzer in ein Lager in Gurs deportiert. Ohne jegliche Vorwarnung drangen „Volksmänner“ am 22.10.1940 früh morgens in die Häuser der Konstanzer jüdischen Glaubens ein und machten ihnen deutlich, in einer halben Stunde reisebereit zu sein. Zwei Handkoffer pro Person waren gestattet. Zwei Handkoffer – ein ganzes Leben. Am selben Tag morgens gegen circa zehn Uhr waren alle jüdischen Konstanzer am Güterbahnhof in Petershausen versammelt – unwissend wartend auf das Bevorstehende. Gegen 17 Uhr wurden Alte, Kranke, Junge und Kinder, im Alter von drei bis 92 Jahren, in den Zug verladen, der weder ausreichend Platz für 112 Menschen versprach, noch eine funktionsfähige Toilette besaß und außerdem fürchterlich dreckig war und stank. In Singen wurden weitere Frauen und Männer im Alter von 65 bis 80 Jahren aus dem Altersheim Gailingen verladen. Rücksicht auf Kranke, Taube, Blinde oder Gebrechliche wurde nicht genommen.
Die Fahrt ging weiter durch den Schwarzwald, über Offenburg, durch Freiburg und weiter über die französische Grenze. Im Dunkeln, ohne Trinken noch Essen, und noch immer unwissend über ihr Schicksal ging die Fahrt weiter durch das Elsass. Von Mühlhausen über Belfort, Besançon bis nach Dijon, der damaligen Grenze zwischen unbesetztem und besetztem Frankreich.
In Lyon am Bahnhof wollte ein Pater, einem Zeugenbrief zufolge, den bald Verdurstenden einen Schluck Wasser anbieten. Das wurde im Auftrag von „oben“ nicht gewährt. Mit den Abschiedsworten des Paters „Ihr armen Tröpfe, lebt wohl!“ ging die Fahrt weiter über Toulouse, am 24.10.1940 in den späten Abendstunden kamen die Konstanzer in Oloron-Sainte-Marie an.
Eine weitere Nacht mussten die Verschleppten noch im Zugwaggon ausharren, um am nächsten Morgen ausgeladen zu werden. Nach der zweieinhalb Tage langen Fahrt wurden die Deportierten auf offenen Ladeflächen etlicher LKWs bei strömenden Regen weitere 20 Minuten in das Camp de Gurs transportiert. Männer und Jungen mussten als erste die Wagen verlassen und wurden in herunter gekommenen Baracken auf Strohsäcken und unter erbärmlichsten hygienischen Umständen eingepfercht. Die Koffer blieben im Regen zurück – die Inhaftierten waren ausgeraubt, entrechtet und enteignet.
Einige der Gebrechlicheren und Älteren starben bereits in den ersten Monaten aufgrund Mangelernährung, Kälte oder den unzumutbaren hygienischen Zuständen. Viele der Eingetroffenen wurden im Frühjahr 1941 auf weitere Lager verteilt; der Abtransport der übrigen in Vernichtungslager erfolgte im Sommer 1942.
Beate Fleischhauer/Fotos: nik