„Eisenbahner im Widerstand – Vergessene Gegner des NS-Regimes“

Ohne die Reichsbahn hätte die Wehrmacht den Zweiten Weltkrieg nicht führen können, ohne sie hätten die Nationalsozialisten nicht Millionen Menschen in die Konzentrations- und Vernichtungslager transportieren können. Dass es aber auch mindestens mehrere hundert Eisenbahner-Gewerkschafter gab, die dagegen Widerstand leisteten, ist heute weitgehend vergessen. Hermann G. Abmayr füllt diese Erinnerungslücke mit seiner SWR-Dokumentation „Eisenbahner im Widerstand – Vergessene Gegner des NS-Regimes“, die am 11. Oktober 2022 erstmals ausgestrahlt wird.

Eisenbahner waren auch in der Bodensee-Region aktiv am Widerstand beteiligt

Wenn sich auch die große Mehrheit der Eisenbahner dem NS-Regime nicht widersetzte, gab es doch eine Reihe von bisher kaum erforschten gewerkschaflichen Widerstandszellen. Abmayr porträtiert Eisenbahner, die versuchten, die Kriegsmaschinerie durcheinander zu bringen.

Reichsbanner-Gruppe „Gau Württemberg“ mit Karl Molt (mit Fliege links hinter dem späteren SPD-Vorsitzenden Kurz Schumacher)

Einer von ihnen war der Stuttgarter Feinmechaniker Karl Molt (1891-1978). Als hauptamtlicher Bezirksleiter des Einheitsverbandes der Eisenbahner hatte er sich um die Belange seiner Kollegen gekümmert. Im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, dem 1924 gegründeten Wehrverband zum Schutz der Weimarer Republik, hatte er zusammen mit Kurt Schumacher, dem späteren SPD-Parteivorsitzenden, bis zur Machtübergabe an das NS-Regime versucht, die radikalen Feinde der Demokratie zurückzudrängen. Als dies misslang, nahmen die Nazis bereits ab Mitte März 1933 sukzessive alle Gewerkschaftsführer und Oppositionellen in „Schutzhaft“ –  viele von ihnen im extra dafür errichteten KZ Heuberg – und zerschlugen die Gewerkschaftsbewegung. Der fortan steckbrieflich gesuchte Karl Molt konnte zunächst untertauchen und sich dann im Oktober 1933 noch in die Schweiz absetzen. Von dort aus baute er mit Unterstützung der Internationalen Transportarbeiterföderation (ITF) vor allem unter dem Telegraphenpersonal entlang der Linie Stuttgart, Ulm, Heilbronn, Tübingen bis zur Grenze ein Netz von Vertrauenspersonen auf, das Nachrichten, illegales Material und Flugschriften beförderte. Einer der Übergabeorte für das von Kurieren geschmuggelte Material war die Konstanzer Loretto-Kapelle. Dorthin kam auch häufig der Friedrichshafener Fridolin Endraß, einer der wichtigsten Mitstreiter Molts.

Fridolin Endraß (1893–1940) arbeitete im Reichsbahnausbesserungswerk in Friedrichshafen, einem der, wegen der nur dort vorgenommenen Wartung der Maybach-Diesel-Triebwagen,  wichtigsten Einrichtungen der Reichsbahn. Der parteilose, aber der SPD nahestehende Endraß engagierte sich von Friedrichshafen aus aktiv im gewerkschaftlichen Widerstand der Eisenbahner in Süddeutschland. Er beteiligte sich an der Weitergabe von Informationen über Arbeitsbedingungen bei der Reichsbahn und Truppenbewegungen. Er verfasste Berichte über Details der Aufrüstung in den Betrieben von Dornier und den Zeppelinwerken, die er an Molt weiterleitete. Von einem Spitzel verraten, wurde Endraß am 21. Juli 1938 festgenommen. Am 25. November 1939 verurteilte ihn der in Stuttgart tagende Volksgerichtshof wegen „Landesverrats in Tateinheit mit Vorbereitung zum Hochverrat“ zum Tode. In der Berliner Hinrichtungsstätte Plötzensee wurde das Urteil vollstreckt.

Gedenktafel für Fridolin Endraß in FriedrichshafenIm April 1998 wurde in Friedrichshafen der Fridolin-Endraß-Platz eingeweiht, im Jahr 2014 eine Gedenktafel zu seinen Ehren enthüllt. An das Wirken von Karl Molt hingegen, der verhaftet wurde, aber fliehen konnte und den Zusammenbruch des NS-Regimes untergetaucht in der Schweiz erlebte, erinnert in Stuttgart heute noch immer nichts.

Aktive Widerstandskämpfer und stille Helfer auch andernorts  

Karl Molt und Fridolin Endraß sind aber lediglich zwei der von Abmayr porträtierten Eisenbahner, die Widerstand gegen das NS-Regime leisteten. Er erzählt von stillen Helfern wie dem Bahnshofsvorsteher Sebastian Imhoff  in Wildpark nahe Stuttgart-Heslach, der, obwohl selbst Mitglied der NSDAP, die Jüdin Else Eberle verbotenerweise versteckte. Er erzählt auch von erfolgreichen Sabotageakten der Eisenbahner in den besetzten Gebieten. So gelang einer Widerstandsgruppe der französischen Eisenbahner-Gewerkschaft im August 1943 ein Anschlag auf den wichtigen Rangier- und Wartungsbahnhof  Dijon-Perrigny, einen der größten Eisenbahnknotenpunkte im von der Wehrmacht besetzten Nordostfrankreich.
Sieben von ihnen bezahlten ihren Einsatz mit dem Leben. Sie starben im Innenhof des  Stuttgarter Landgerichts unter dem Fallbeil. Erst seit Ende Januar 2019 wird dort der an ihnen im Namen des deutschen Volkes begangenen Verbrechen erinnert.

Abmayr lässt in seiner sehr sehenswerten Dokumentation Nachfahren, Gewerkschafter  und Lokalhistoriker zu Wort kommen. Er zeigt historische Fotos und rare Filmaufnahmen wie jene über Eisenbahner im heutigen Tschechien, die einen Zug mit KZ-Häftlingen mehrmals aufhielten und damit vielen Menschen das Leben retten konnten. Diese weitgehend unbekannten Geschichten ordnet der Berliner Geschichtswissenschaftler Professor Siegfried Mielke, der auch die Fachbegleitung der Dokumentaion übernahm, in den aktuellen Stand der Forschung ein.

Der SWR zeigt die 45-minütige Dokumentation „Eisenbahner im Widerstand – Vergessene Nazi-Gegner“ am Dienstag, 11. Oktober 2022, um 23.30 Uhr.
Die zweimal 30-minütige Langfassung wird am 18. und 25. November 2022 jeweils um 13.35 Uhr in der SWR-Sendereihe Eisenbahn-Romantik ausgestrahlt.

Sabine Bade

(Teaserfoto: SWR-Doku, Foto  „Reichsbanner“: Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) der Friedrich-Ebert-Stiftung,6/FOTA046625, Volker Schober), Gedenktafel Endraß: Sabine Bade)