Engagiert und widerspenstig: Wer wars? (43)
Die energische Propagandistin
Als sie mit siebzehn das erste Mal aufs Rednerpodest stieg, schnürte ihr die Angst fast den Hals zu. Als sie mit dreiundzwanzig den ersten Artikel für die „Arbeiterzeitung“ schrieb, verlangte das denselben Mut. Nur drei Jahre war die spätere Parlamentsabgeordnete zur Schule gegangen, von Rhetorik und Rechtschreibung hatte sie keine Ahnung. Doch sie wusste genau, wovon sie sprach. Und das spürten die Menschen.
1869 als letztes von fünfzehn Kindern in eine bitterarme Wiener Weberfamilie hineingeboren (nur fünf überlebten), hatte sie das blanke Elend kennengelernt. Der Vater trank und schlug, und als er starb, musste die Siebenjährige mitanpacken: barfuß im Zimmermannsabfall Heizspäne sammeln, für ein paar Kreuzer Näharbeiten erledigen, bei der „gnädigen Frau Herzogin“ um Almosen bitten. Sie wurde gedemütigt, verlacht, ausgenutzt. Und hatte ständig Hunger.
Mit zehn saß sie in dunklen Werkhallen, häkelte Tücher, zwölf Stunden am Tag, mit wehen Fingern und gebeugtem Rücken. Schuftete in der Bronze- und der Korkindustrie, wurde krank, verlor die Arbeit. Doch so verzweifelt sie auch war, eines gab sie nie auf: das Lesen. Sie verschlang alles – Kitschromane, deutsche Klassiker, Geschichtsbücher – und erzählte weiter, was sie gelesen hatte. Auch als sie die „Arbeiterzeitung“ entdeckte, das Zentralorgan der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP), in dem es um elende Leben wie das ihre ging und darum, wie man sich daraus befreien könnte. Innerhalb kurzer Zeit war sie eine der populärsten PropagandistInnen sozialistischer Ideen.
1893 übernahm sie die Redaktion der zwei Jahre zuvor gegründeten „Arbeiterinnen-Zeitung“, mischte beim erfolgreichen Streik der Appreturarbeiterinnen mit (dem ersten organisierten Frauenstreik Wiens), trotzte den Genossen eine Quote für weibliche Delegierte auf Parteitagen ab, rief einen Bildungsverein für Gewerkschafterinnen ins Leben sowie ein proletarisches Frauenkomitee, an dem die männerdominierte SDAP ab 1918 nicht mehr vorbeikam. Und saß – natürlich – auch diverse Male im Gefängnis, unter anderem wegen „Herabwürdigung der Ehe und Familie“.
Wer war die auch in Konstanz bekannte, 1939 verstorbene Frauenrechtlerin und Sozialistin, die mit den Marx-Töchtern zusammenarbeitete und deren Mutter nach einem Besuch von Friedrich Engels und August Bebel enttäuscht über die vermeintlichen Heiratskandidaten schimpfte: «So Alte bringst du daher!»?
Text und Bildcollage: Brigitte Matern
Die Auflösung erscheint am kommenden Montag.