Engagiert und widerspenstig: Wer wars? (65)

Die selbstlos Eigensinnige

„Aber die ist ja verrückt!“, soll Charles de Gaulle, Chef der Exilregierung in London, ausgerufen haben: Den Vorschlag der Philosophin, eine Formation Krankenschwestern direkt an der deutsch-französischen Front einzusetzen, hielt er für absurd. Auch ihre Bitte, für eine Sabotageaktion gegen die deutsche Besatzung in Frankreich eingeteilt zu werden, wurde abgelehnt. Dass sie manuell ungeschickt war und sehr schlecht sah, empfand sie selbst aber nicht als Hindernis.

Die sich da selbstlos in den Kampf gegen Unterdrückung stürzen wollte, war 1909 in Paris zur Welt gekommen. Der Vater, ein Internist, neigte dem Anarchismus zu, die Mutter fühlte sich der Nächstenliebe verpflichtet. Auch die Tochter – sie litt zeitlebens unter einer schwachen Gesundheit und heftigem Dauerkopfschmerz – engagierte sich früh für die Unterprivilegierten, sammelte Spenden, wurde Mitglied einer „Gruppe für soziale Bildung“ und der Liga für Menschenrechte.

Als sie 1931 in der Provinz ihre erste Stelle als Philosophielehrerin antrat (den Großteil des Gehalts gab sie Bedürftigen), galt sie bald als „rote Jungfrau“. Sie saß im Vorstand der Grundschullehrergewerkschaft, hielt Bildungskurse für ArbeiterInnen ab und marschierte in vorderster Reihe mit, als die Arbeitslosen auf die Straße gingen. Von KommunistInnen hielt sie hingegen wenig, die Oktoberrevolution bewertete sie als Revolution der Funktionäre, die Sowjetunion als oppressiven Staat.

Viel mehr interessierte sie die Arbeitswelt. Um den Gründen für soziale Unterdrückung auf die Spur zu kommen, ließ sie sich 1934 – inzwischen Verfasserin viel gelesener politisch-philosophischer Schriften – vom Schuldienst beurlauben. Obwohl ihre Konstitution es kaum erlaubte, wollte sie am eigenen Leib erfahren, was Fabrikarbeit aus dem Menschen machte. An eine Revolution der Werktätigen glaubte sie danach nicht mehr.

Nach einem kurzen Einsatz in der Kolonne Durruti 1936 im Bürgerkriegsspanien und einer langen Flucht vor der deutschen Wehrmacht gelangte sie 1942 schließlich nach England, wo sie auf einen Auftrag der Résistance hoffte. Die Exilregierung gewährte ihr jedoch nur einen Bürojob. 1943 starb sie, nicht mehr willens oder fähig zu essen, mit nur 34 Jahren.

Wer war die eigensinnige Gottsuchende, deren Herz, so Simone de Beauvoir, „imstande war, für den ganzen Erdkreis zu schlagen“, und in der Heinrich Böll „eine zweite Rosa Luxemburg“ erahnte?

Text und Collage: Brigitte Matern

Die Auflösung erscheint am kommenden Montag.