Lernen, wer wir sind…
Ernst Köhlers soeben bei Amazon erschienenes Buch „Lernen, wer wir sind. Blick nach Osten in den Westen“ bietet zwar einen breiten Überblick über die wissenschaftliche Literatur zum Thema Osteuropa nach 1989, trotzdem kann es nicht als Forschungsbericht bezeichnet werden.
Der Autor unternimmt hier vielmehr eine subjektive Annäherung an die Jugoslawienkriege und ihre verheerenden Folgen. Der zentrale Teil des Buches besteht aus Reportagen oder Essays, die im Anschluss an Reisen nach Bosnien und in den Kosovo entstanden sind.
Zu dem Zeitpunkt, als diese Reisen stattfanden, war der Krieg selbst schon vorüber, zurückgeblieben aber war eine verletzte und tief gespaltene Nachkriegsgesellschaft. Eine respektvolle und einfühlsame Annäherung an diese gelingt dem Autor vor allem durch seine Unvoreingenommenheit und sein großes und glaubwürdiges Interesse an echtem Erkenntnisgewinn. Im Zentrum seiner Aufzeichnungen stehen einzelne Menschen, ihre Kriegserfahrungen und Überlebensstrategien. Im Gespräch mit ihnen erweist sich schnell schon als obsolet, was der Besucher aus dem Westen an Erwartungen, Meinungen und Vorstellungen so im Gepäck zu haben pflegt. Köhler gelingt es, den durch vielfältige Begegnungen bedingten Lernprozess so bildhaft zu schildern, dass er auch für seine LeserInnen sinnlich erfahrbar wird.
Neben diesen „Erlebnisberichten“ stehen theoretische Überlegungen; so z.B. die Frage danach, was wohl die zurückhaltende Reaktion des Westens auf die katastrophalen Geschehnissen vor der eigenen Haustür veranlasst haben mag. „In Bosnien und im Kosovo kündigte sich bereits jenes Europa, jener Westen an, der dann die Vernichtung Syriens untätig zulassen wird“, schreibt Ernst Köhler im Vorwort zu seinem Buch.
Als Ursache für diese Untätigkeit macht Köhler ein grundsätzliches Desinteresse am Schicksal der weltgeschichtlichen Peripherie aus, das von Deutschland, Frankreich, England und den USA mit jeweils unterschiedlichen Begründungen bemäntelt werde. Allen gemeinsam sei jedoch der Verweis auf die Notwendigkeit einer Überparteilichkeit, die, so der Autor, den Vorrang des Friedens vor der Gerechtigkeit postuliere. Köhler argumentiert dagegen: „Wenn ich Ungleiches gleich behandle, verschärfe ich die Ungleichheit“.
Auch die gerade in linken Kreisen oft geäußerte Meinung, bei den Balkankriegen habe es sich um einen Bürgerkrieg gehandelt, ist für ihn Symptom einer solchen Gleichmacherei und ergo politischer Eskapismus. Diese Einschätzung belegt er mit zahlreichen Zitaten aus der einschlägigen Fachliteratur, aber auch die persönlichen Gesprächsnotizen kreisen immer wieder um die besondere Verantwortung Belgrads für die Entfesselung des Krieges. Hier sieht Köhler einen Kapitalfehler der internationalen Gemeinschaft, der bis in die Entwicklungen der Gegenwart hineinwirke: dass sie trotz Srebrenica keine Befriedungspolitik verfolgt habe, die zwischen Tätern und Opfern einen Unterschied macht.
Doch warum lautet nun der Titel „Lernen wer wir sind“? Geht es in Köhlers Buch doch um die Anderen, den Osten und nicht vorrangig um uns selbst. Schon im Vorwort weist der Autor darauf hin, dass die Beschäftigung mit den osteuropäischen Krisenherden der 90er Jahre bei ihm eine intensive Selbstreflexion angestoßen habe. Sie durchzieht das Buch tatsächlich wie ein roter Faden. Ursprünglich linker Pazifist, wird Köhler durch die Begegnung mit der bosnischen Nachkriegsrealität mit der dunklen Seite des Verzichts auf militärische Maßnahmen konfrontiert. Anstelle von Vorsicht und Zurückhaltung, wie vom Westen und vor allem von Deutschland propagiert, sieht er hier vielmehr Desinteresse und Verantwortungslosigkeit am Werk.
In einem ebenfalls in der Sammlung enthaltenen Text von 2017 mit dem Titel „Wie wir die Ukraine verraten“ unterzieht er schließlich die Haltung der deutschen Außenpolitik einer kritischen Analyse.
„Über die Lage in der Ukraine seit Anfang 2014 sind wir gut informiert“, schreibt er. Und fährt dann weiter unten fort: „Inmitten unserer ganzen Aufgeklärtheit sind wir aber selber ein Problem. Wir selbst in unserer Gleichgültigkeit gegenüber dem im Innern nach wie vor umkämpften und von außen von einer Großmacht mit Gewalt und Krieg überzogenen Demokratieversuch in einem Nachbarland“.
Während selbst heute, nach der Invasion Russlands in die Ukraine, immer noch hier und da zu hören und zu lesen ist, der Westen habe Putins Sicherheitsbedürfnis nicht ausreichend respektiert und trage deshalb Mitverantwortung für den Krieg, vertritt Ernst Köhler im o.g. Text eine dezidiert andere Position. Er macht das Versagen des Westens vielmehr an mangelnder Unterstützung für die Demokratisierungsversuche der Ukrainer fest und stellt somit letztlich dieselbe Diagnose wie zuvor schon in den Balkankriegen. Nicht zuletzt dieser aktuelle Bezug macht „Lernen, wer wir sind. Blick nach Osten in den Westen“ zur lesenswerten und erhellenden Lektüre.
Amazon – ISBN – 13: 979-8403340472 – 289 Seiten, 19,90 Euro
Text: Hildegard Schneider
Bild: Buchcover Amazon