Ernstfall Frieden
In seinem Buch „Ernstfall Frieden“ nimmt der Militärhistoriker und Friedensforscher Wolfram Wette ein ganzes Jahrhundert vergleichend in den Blick. Er dokumentiert, was dran ist an dem Märchen, dass Kriege unausweichlich wie Naturkatastrophen über uns hereinbrechen und wie Gottesgerichte erlitten werden müssen. Damit liefert er aus Konstanzer Sicht ganz nebenbei auch beste Argumente dafür, dass es längst nicht genügt, Paul von Hindenburg lediglich die Ehrenbürgerwürde aberkannt zu haben. Schließlich ist Hitler 1933 nicht vom Himmel gefallen.
Offensichtliche, aber oft geleugnete Kontinuitäten seit der Kaiserzeit
Das Leitmotiv des Buches stammt aus einer Rede von Bundespräsident Gustav Heinemann vor Bundestag und Bundesrat am 1. Juli 1969: „Ich sehe als Erstes die Verpflichtung, dem Frieden zu dienen. Nicht der Krieg ist der Ernstfall, in dem der Mann sich zu bewähren habe, wie meine Generation in der kaiserlichen Zeit auf den Schulbänken lernte, sondern der Frieden ist der Ernstfall, in dem wir uns alle zu bewähren haben. Hinter dem Frieden gibt es keine Existenz mehr.“
Was Heinemann (1899-1976) – und noch viele andere mit und nach ihm – in der vom wilhelminischen Geist geprägten Schule lernte und was sich daraus entwickelte, analysiert Wette in 26 Kapiteln; sie bestehen im wesentlichen aus einzelnen Publikationen und Vorträgen aus den Jahren 1993 bis 2016, die zusammen ein geschlossenes Ganzes bilden. Ohne die „Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914“, so auch der Untertitel des Buches, bliebe unverständlich, wie aus dem „Land der Dichter und Denker“ ein Land der Richter und Henker wurde: Es sei „nicht vorstellbar, dass ein großes Volk in wenigen Jahren jene Mentalität entwickelt, die nötig war, um einen erneuten Weltkrieg zu entfesseln und ein bis dahin in der Menschheitsgeschichte beispielloses Ausrottungsprogramm durchzuführen“, schreibt Wette. Und doch ist es passiert. „Insofern ist es unerlässlich zu erforschen, was in der deutschen Geschichte vor 1933, insbesondere während des Ersten Weltkrieges, auf die Barbarisierung der Politik hinweist, und 1933 nicht nur als Bruch, sondern als Konsequenz von zuvor erfolgten Fehlentwicklungen und wachsendem Fehlverhalten zu begreifen.“
Dafür zeigt der Autor die geschickten, von wirtschaftlichen wie von militärisch-machtpolitisch Interessen gesteuerten Manipulationen auf, mit denen das Lostreten des Ersten Weltkriegs (bei einem 1914 für Deutschland vorteilhaften Rüstungsstand) zu einem Verteidigungsfall interpretiert wurde, dem sich das Deutsche Reich nicht habe entziehen können. Diese von Kaiser Wilhelm II. lancierte Verteidigungslüge („Man drückt uns das Schwert in die Hand“) unterstrich dessen „Aufruf an das deutsche Volk“ vom 6. August 1914: „Es muss das Schwert nun entscheiden. Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. Darum auf, zu den Waffen! Jedes Schwanken und jedes Zögern wäre Verrat am Vaterlande. Um Sein oder Nichtsein unseres Reiches handelt es sich.“ Wette zeigt auf, wie in diesem unvorstellbar lang andauernden Blutbad auch im weiteren Kriegsverlauf eine Verschleierungslüge auf die nächste folgte und wie lange Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, der über die von ihm von 1916 bis 1918 geführte Oberste Heeresleitung quasi diktatorisch die Regierungsgewalt ausübte, auf einen „Siegfrieden“ pochte; dass es am Ende auch Hindenburg war, der das Märchen der „im Felde unbesiegten Armee“ erfand und die von ihm erdachte Dolchstoßlegende propagierte: Eine Schuldabwälzung, die den innenpolitischen Einfluss des Militärs ungebrochen sichern sollte.
„Fortan benutzten die deutschen Nationalisten die von Hindenburgs Autorität gedeckte Dolchstoßlegende als innenpolitische Propagandawaffe gegen Sozialdemokraten, Juden und Pazifisten, die Hitler später summarisch als ,Novemberverbrecher‘ diffamierte.“ Wie sehr Vertreter dieses militärischen Ungeists, die vehement gegen das „Diktat von Versailles“ und die „deutsche Wehrlosigkeit“ wetterten, die Weimarer Republik vergifteten und den nächsten Krieg zielgerecht vorbereiteten, zeigt Wette anhand vieler Beispiele auf. Auch, wie sehr gerade die NSDAP spätestens ab den Reichstagswahlen 1930 von der Behauptung der deutschen Unschuld profitierte. Dem von der NSDAP-Fraktion im selben Jahr eingebrachten Gesetzesentwurf unter dem Titel „Gesetz zum Schutze der deutschen Nation“, in dem die Nationalsozialisten forderten, jeden wegen „Volksverrats“ mit der Todesstrafe zu belegen, der „öffentlich in Wort, Schrift, Druck, Bild oder in anderer Weise Deutschlands Alleinschuld oder Mitschuld am Kriege behauptet“, widmet Wette ein ganzes Kapitel. Es sei all jenen zur Lektüre empfohlen, die sich noch immer dagegen wehren, die in Konstanz nach Hindenburg – Reichspräsident ab 1925, der Hitler am 30. Januar 1933 zum deutschen Reichskanzler ernannte – benannte Straße endlich umzubenennen.
KriegsgegnerInnen gab es dennoch zu allen Zeiten!
Aber Wette belässt es nicht dabei, Traditions- und Kontinuitätslinien im Streben nach der ersehnten Weltmachtstellung aufzuzeigen. Er skizziert auch ausführlich die Friedensbewegung, die sich dem entgegenstellte. Vor dem 1. Weltkrieg beginnend, porträtiert er das Wirken vieler Kriegsgegner, die als „Friedenshetzer“, „Gesinnungsethiker“ oder „Defätisten“ diffamiert, verfolgt oder gar ermordet wurden. Und die heute kaum noch jemand kennt.
Er erinnert an den Internationalen Friedenskongress, der am 24. und 25. November 1912 in Basel stattfand. Dass Europa säbelrasselnd auf einen Krieg zusteuerte, den es zu verhindern galt, hatte die Sozialistische Internationale bewogen, den Kongress um ein Jahr vorzuverlegen und ein einziges Thema auf die Tagesordnung zu setzen: Die internationale Lage und die Vereinbarung für eine Aktion gegen den Krieg. Unter dem Motto „Krieg dem Kriege“ nahmen 555 Delegierte von sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien sowie Gewerkschaften aus 23 europäischen Ländern an dem Kongress teil, für den sogar das Baseler Münster seine Tore öffnete. Bereits in den Wochen zuvor hatten überall in Europa Friedenskundgebungen stattgefunden und allein in Berlin waren 250.000 Menschen gegen den Krieg auf die Straße gegangen. Wie wenig aber bloße Appelle an Regierungen ausrichteten, da ihnen keine konkreten Schritte folgten, und wie schnell die deutsche Sozialdemokratie vor der Vaterland-in-Gefahr-Propaganda einknickte, erörtert Wette ausführlich.
Wette erinnert an Menschen, Stimmen für den Frieden, die dem blutigen Wahnsinn die Gefolgschaft versagten und unermüdlich versuchten, die Perfidie des weitverbreiteten „Schwertglaubens“ aufzudecken. An Männer wie den Stuttgarter Stadtpfarrer und Vizepräsidenten der Deutschen Friedensgesellschaft Otto Umfrid, einen Pazifisten aus den Reihen der Kirchenvertreter, die ansonsten ganz überwiegend als tatkräftige Unterstützer von Militarismus und Nationalismus auftraten, Waffen segneten und zum Krieg aufriefen. Er erinnert an Offiziere, die sich im Laufe des 1. Weltkriegs zu Pazifisten wandelten und sich in den Jahren der Weimarer Republik für ein nicht-militaristisches, friedliebendes Deutschland engagierten. Womit er auch dokumentiert, „dass es in Deutschland nicht erst in den Monaten und Jahren vor dem 20. Juli 1944 Militärs gab, die sich gegen die von deutschem Boden ausgehende Gewalt- und Kriegspolitik gewandt haben“.
Wette spannt – ein ganzes Jahrhundert vergleichend im Blick – den Bogen weiter bis hin zum Kampf der Friedensbewegung gegen die deutsche Wiederbewaffnung in der Nachkriegszeit, zu frühen, aber unterdrückten Ansätzen der Geschichtsforschung, Zusammenhänge zwischen dem Hohenzollernregime und dem Dritten Reich herzustellen, zur Auseinandersetzung mit der schleichenden Remilitarisierung der deutschen Außenpolitik seit 1991, die unter dem Deckmäntelchen der „Friedenssicherung“ seit der Beteiligung am NATO-Krieg gegen Serbien-Montenegro eine „neue Normalität“, eine Enttabuisierung von Kriegen, anstrebt. Wolfram Wette schärft unseren Blick dafür, mit welchen sprachlichen Mitteln und Vergleichen wir davon überzeugt werden sollen. Wie hatte der grüne Außenminister Joschka Fischer 1999 den Angriff auf Serbien begründet? „Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz“.
Was dieses hervorragende, wissenschaftlich profunde und dabei leicht lesbare Buch so besonders macht, sind neben den vielen Grafiken, Fotos von Persönlichkeiten der Friedensbewegung und Titelblättern von Büchern zur Friedensproblematik die vielen historischen Quellentexte. Von Wettes Verleger Helmut Donat – beide sind Mitbegründer des Arbeitskreises Historische Friedensforschung – ausgewählt, sind diese Texte in Kastenform eingebaut und geben den LeserInnen die Möglichkeit, das jeweilige Thema zu vertiefen.
Wenn es allen HistorikerInnen gelänge, Geschichte dergestalt zu vermitteln, fiele es allen leichter, aus ihr zu lernen.
Sabine Bade (Text, Abbildungen mit Genehmigung des Donat Verlags)
Wolfram Wette: „Ernstfall Frieden. Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914“. Donat Verlag, Schriftenreihe Geschichte & Frieden, Bd. 38, Bremen 2017. 640 Seiten. 504 Abbildungen. Preis: 24,80 Euro, ISBN 978-3-943425-31-4.
Wolfram Wette, * 1940, Prof. Dr. phil., Historiker, Friedensforscher und freier Autor, 1971-1995 am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg i.Br. tätig, seit 1998 apl. Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg sowie Ehrenprofessor der russischen Universität Lipezk und Ehrenbürger der Stadt Waldkirch, ist ein namhafter, kritischer Militärhistoriker; zahlreiche Veröffentlichungen u.a. zur Geschichte des Militarismus und Pazifismus in Deutschland, über den Reichswehrminister Gustav Noske, zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust in Litauen sowie zur Militärgeschichte von unten. Seine Bücher zur Wehrmacht und zum Militarismus in Deutschland sind Standardwerke. Seine Rede zur Aufstellung des „Gegen“denkmals für Erwin Rommel in Heidenheim an der Brenz veröffentlichte seemoz hier.