Erzählt Eure Geschichte

Der Sprachendienst Konstanz ist vielen LeserInnen ein Begriff, und viele KonstanzerInnen haben in der Wallgutstr. 3 selbst schon Arabisch, Englisch, Spanisch oder einen anderen Fremdsprachenkurs besucht, während so manche ZuwandererInnen dort Deutsch gelernt haben, einige privat, andere mit staatlicher Unterstützung in Integrations­kursen. Der Sprachendienst sucht jetzt für ein internationales Projekt Menschen, die über ihre Fluchterfahrungen vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis heute berichten.

++ An English version of this text can be found further down. ++

Seit 2008 nimmt der Sprachendienst über seine Kernaufgabe der Sprachvermittlung hinaus an Programmen der EU teil, die Bildungs- und Kultureinrichtungen aus mehreren europäischen Staaten in gemeinsamen Projekten zusammenführen. Das Themenspektrum ist weitläufig: „Biografische Gespräche“, „Europa verstehen“ oder die „Schule des Geschmacks – Esskulturen in Europa“ zählen ebenso zum Repertoire wie aktuelle Themen à la „Asylpolitik in Europa“. Das neueste Projekt, an dem Organisationen aus Belgien, Deutschland, Kroatien, Österreich, Polen und Rumänien beteiligt sind, heißt „Transnational History“ und befasst sich mit transnationalen Ansätzen und multiperspektivischen Methoden im Geschichtsunterricht in den verschiedenen Ländern.

Geschichte(n) – europaübergreifend

Geschichte wird in den einzelnen Ländern aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln gelehrt, welche die Weltsicht der Menschen wiederum erheblich zu beeinflussen vermögen. Diese Unterschiede gilt es offenzulegen und genauer zu betrachten. Denn aus der Geschichte und der Weltsicht von Mitmenschen lässt sich viel lernen; vor allem dann, wenn es um historische Angelegenheiten geht, an denen die einzelnen Länder auf ganz unterschiedlichen Seiten beteiligt waren: Die Region, die heute Polen ist, mag einen anderen Blick auf den Zweiten Weltkrieg haben als das, was zur BRD geworden ist. Und wer gehört eigentlich wozu? Wo hört die eine Nation auf und wo beginnt die nächste – und was hat das alles jetzt mit uns zu tun?

Jedes Land hat sich ein Thema aus der Geschichte seines Landes im 19./20. Jahrhundert ausgewählt. So arbeitet Belgien zu „Kolonialismus“, Kroatien zu „Verschiebung der Grenzen mit Auswirkungen auf die Regionen“, Österreich zu „Slowenische Minoritäten in Kärnten“, Polen zu „Antisemitismus 1968“, Rumänien zur „Revolution von 1989“ und Schweden zur „Arbeitsmigration aus Griechenland in den 50er Jahren“. Alle diese Themen zeigen: Europa und die Welt sind im Fluss. Das gilt nicht nur für irgendwo gezogene Landesgrenzen, sondern auch für die Menschen, die diese umgrenzten Territorien dann bewohnen – und zwischen diesen wechseln.

Flucht ist kein Phänomen von 2015

Der Sprachendienst Konstanz setzt sich mit dem Thema „Flucht und Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs“ auseinander. Damit will er – gewissermaßen am eigenen Beispiel – die Menschen im heutigen Deutschland für die Wahrnehmung von Menschen sensibilisieren, die aus anderen Teilen der Welt geflüchtet sind. Denn dass Menschen ihre angestammte Heimat aufgrund desolater Zustände verlassen müssen, ist nichts, was es erst seit der angeblichen „Flüchtlingskrise“ 2015 gibt. Vor nicht einmal hundert Jahren waren erhebliche Teile der „deutschen“ Bevölkerung auf der Flucht vor einem auf breiter Ebene mitgetragenen und akzeptierten Terrorregime – und auf Gastfreundlichkeit und Mitleid anderer angewiesen.

Der Sprachendienst widmet sich also der Aufarbeitung und Vermittlung der Vergangenheit. Neben Interviews mit ZeitzeugInnen und mit heutigen Geflüchteten ist auch die Einbeziehung von Fachleuten geplant. Dazu gehören unter anderem der Leiter der Stabstelle Konstanz Integration, die Leiterin der „Biografie-Gespräche“ sowie verschiedene HistorikerInnen des Arbeitskreises für Regionalgeschichte.

Schule und Lehre müssen besser werden

Teil des Projekts ist darüber hinaus die Analyse von Schulbüchern zu den ausgewählten historischen Themen aus den beteiligten Ländern sowie die Erarbeitung eines Unterrichtsprojekts für die Integrationskurse. Denn das Unterrichtsmaterial, das Lehrpersonen zur Verfügung steht, beeinflusst die Weltsicht aller Beteiligten in erheblichem Maße – und muss demnach ständig neu angegangen und reflektiert werden. Doch gerade Unterrichtsbücher aus dem Fach Geschichte weisen insbesondere bei „heiklen“ Themen erhebliche Defizite auf. Sie reproduzieren nicht-zeitgemäße, veraltete Sichtweisen gerade auf die Weltkriege oder die Rolle Deutschlands während der Kolonialzeit. Und damit zementieren sie überholten Bullshit in den Köpfen der Leute. Entsprechend wichtig sind Projekte, die diese eingebläuten Sichtweisen auf den Prüfstand stellen und aufbrechen.

Das gesamte Projekt ist auf drei Jahre angelegt. Leider können momentan alle Meetings nur online stattfinden. Bei den früheren Projekten haben sich die Partnerländer jeweils gegenseitig besucht und vor Ort zu den jeweiligen Themen gearbeitet, wobei die Erkenntnisgewinne über die Länderbesonderheiten, ihre Bildungs- und Kulturinstitutionen mit ihren spezifischen Ausprägungen sehr viel intensiver waren. Es besteht also die Hoffnung, auch im Verlauf dieser Projektarbeit den länderübergreifenden Austausch auch wieder in persona bewerkstelligen zu können.

Aufruf: Erzählt eure Geschichte – denn sie darf nicht vergessen werden

Für dieses Projekt möchte der Sprachendienst Personen aufrufen, über ihre Fluchterfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg zu berichten.

Er bittet MigrantInnen, die als Geflüchtete nach Deutschland gekommen sind, ihre Fluchtgeschichten und ihre Erfahrungen mit der Aufnahme in Deutschland zu erzählen.

Anmeldung beim Sprachendienst Konstanz, telefonisch: 07531/15846 oder per Mail: info@sprachendienst-konstanz.de (Frau Hentschel und Frau Walz-Richter).


Despite Corona – We’ll keep at it
A European project with a Constance language school

At the Sprachendienst Konstanz many residents have attended Arabic, English, Spanish or another foreign language course at Wallgutstr. 3. Immigrants learn German in intensive courses. Some privately, others supported by the German state in integration courses.

Since 2008, the Sprachendienst has participated together in programmes of the EU. Topics are worked on jointly with other educational and cultural institutions from European countries. This includes topics such as „Biographical Conversations“ or „Understanding Europe“ or „School of Taste – Food Cultures in Europe“ up to the current topic „Asylum Policy in Europe“.

Our latest project, involving organisations from Austria, Belgium, Croatia, Germany, Poland and Romania, is called „Transnational History“ and will look at transnational approaches and multi-perspective methods in history teaching in the different countries.

Each country has chosen a topic from the history of its country in the 19th/20th century. Belgium is working on „Colonialism“, Croatia on „Shifting borders with effects on the regions“, Austria on „Slovenian minorities in Carinthia“, Poland on „Anti-Semitism in 1968“, Romania on the „Revolution of 1989“ and Sweden on „Labour migration from Greece in the 1950s“.

The Sprachendienst Konstanz deals with the topic of flight and expulsion of Germans at the end of the Second World War. One aim is to sensitise people in today’s Germany to the perception of refugees from other parts of the world. In addition to interviews with contemporary witnesses and with today’s refugees, the involvement of that time experts is also planned. These include the Head oft he Constance International Office, the head of the biography talks and historians from the Working Group for Regional History.

Part of the project is the analysis of textbooks on the selected historical topics of the participating countries and the development of a teaching project for the course participants in the integration courses.

The entire project is scheduled to run for three years. Unfortunately, all meetings can only take place online at the moment. In the previous projects, we visited each other’s partner countries and worked on our topics there on site, whereby the knowledge gained about the countries‘, their educational and cultural institutions with their specific characteristics was much more intensive. We hope to be able to travel to the countries of our partners in the course of this project work.

For this project we would like to call on citizens to tell us how they experienced their flight after the Second World War.

And we are asking migrants who came to Germany as refugees to tell us their stories of flight and their experiences of being accepted in Germany.

We would be happy to hear from you at Sprachendienst Konstanz. Either by telephone: 07531/15846 or by email: info@sprachendienst-konstanz.de (Ms Hentschel and Ms Walz-Richter).

MM/red (Bild: Наталия Когут auf Pixabay)