Friede ist mehr als Fassade
Eine Pace-Fahne sorgt in Radolfzell für einige Aufregung. Die Journalistin Marianne Bäumler hat die Regenbogenfahne, seit geraumer Zeit ein bekanntes Markenzeichen der internationalen Friedensbewegung, gut sichtbar an den Balkon ihrer Genossenschaftswohnung gehängt. Geht nicht, befand der Vorstand der Wohnungsbaugenossenschaft, wie sähe das aus, wenn in dem elf Parteien beherbergenden Gebäude jeder was aus dem Fenster flattern ließe. Geht sehr wohl, meint unser Kommentator – aus guten Gründen.
Es wirkt befremdlich, wenn über den Aushang einer Friedensfahne an einem Radolfzeller Balkon debattiert wird. Die Hausgemeinschaft wolle eine einheitliche Außendarstellung ihrer Fassade herstellen, in die offenbar ein Zeichen von Abrüstung nicht hineinpasst, das gerade dieser Tage wieder an Aktualität gewinnt. Während sich kaum jemand an den vielen Deutschlandflaggen entlang der Gebäude quer durch unsere Republik stößt und dieser Ausdruck eines wohlgemeinten „Patriotismus“ unwidersprochen hingenommen wird, scheint ein „Peace“-Bekenntnis aus der Zeit gefallen.
Dabei macht uns nicht nur die Verteidigungsministerin derzeit klar, was die Bundesregierung unter Frieden versteht: Mit Vehemenz pocht sie auf die Anschaffung bewaffneter Drohnen, die das Töten von Menschen automatisieren würden. Mit einem Knopfdruck den Gegner „eliminieren“: Wo jegliche Hürde zur Anwendung von Gewalt fällt, da schwinden auch Hemmung und Skrupel des Soldaten, mit einem Fingerzeig die todbringenden Schüsse aus der Luft abzugeben. Und im Angesicht derartiger Entwicklungen diskutieren wir ernsthaft darüber, ob ein Hausbewohner seine Terrasse mit einem Symbol schmücken darf, das seine eindeutige Ablehnung von Krieg und Machtherrschaft bekräftigt?
Unabhängig der juristischen Betrachtung von Miet- und Eigentumsrechten: Es ist höchst bedenklich, wenn die Sorge um die Gleichmäßigkeit der Hauswand größer ist als der Kummer um die sich immer schneller drehende Spirale der Aufrüstung. Man hatte in den vergangenen Jahren das Gefühl, die Friedensbewegung habe den Rückwärtsgang eingelegt. Doch die Gefahr eines neuen Kalten Krieges macht deutlich, wie vehement wir uns auch im 21. Jahrhundert für den Zusammenhalt der Weltgemeinschaft einsetzen müssen.
Mancherorts gewinnt die Atomenergie wieder Rückenwind und soll nach Meinung von Iran und Nordkorea als Zeichen der Stärke und von Abschreckung verstanden werden. Gleichzeitig klopft die militärische Eskalation direkt an der europäischen Haustür an, wo sich die Ukraine und Russland erbittert gegenüberstehen. Und auch der Abzug der Truppen aus Afghanistan ist lediglich ein trügerisches Zeichen des Friedens, solange der Westen weiterhin beabsichtigt, Konflikte vor allem mit Waffengewalt lösen zu wollen und bestrebt ist, demokratische Werte dort zu oktroyieren, wo die Menschen noch Jahrzehnte brauchen werden, um von den radikalen Strukturen loszulassen.
Schlussendlich müssen wir nicht einmal in den Jemen, nach Nigeria oder Syrien blicken, um zu verstehen, dass es beim Pazifismus um weit mehr geht als Friedensfahnen an den Fenstern. Und doch sind solche Bekenntnisse der Anfang, den Frieden vom Kleinen in die große Welt zu tragen. Ich schäme mich dafür, dass Radolfzeller Spießigkeit derartige Visionen untergräbt.
Dennis Riehle (Bild: Dr. Xaver Müller)
@Marianne Bäumler
Zweifellos ist es ehrenwert, in Afghanistan für die „afghanischen Mädchen und die Jungen“ Brunnen zu bohren, allerdings gibt es auch andere Assoziationen zu dem Thema, wenn man z.B. an Oberst Klein denkt.
Auch Nawalny – kannten Sie diesen herzerwärmenden Clip von ihm?
https://www.youtube.com/watch?v=D9MnUSsK4RE
Die Demokraten in Honkong und Russland, die gequälten Uiguren – die haben durch die Bank nicht bloß Ihre hingeworfen skizzierte Schokoladenseite – einfach mal die konträre Darstellung betrachten. Vielleicht hilft das dazu, „die zivile Bevölkerung in Gaza und Israel“ nicht ganz so salopp als Gleichgestellte einfach in den Raum zu stellen.
und ausserdem:
Alexei Nawalny
und die zivile Bevölkerung in Gaza und Israel und all die afghanischen Mädchen
und die Jungen auch
nämlich überall auf unserem Globus
die Demokraten in Honkong und Russland
die gequälten Uiguren
die vertriebenen Rohingas
und
die Kurden
und und und
zahllose Bedrohungen durch machtgeile Potentaten.
und
auch Isaak hätte gerne weniger Angst gehabt
Lauter Herrentage
MutterErde
VaterStaat
BruderKrieg
VetternWirtschaft
SportsKanonen
RüstungsGüter
SplitterbombenIndustrie
BombenKlima
TornadosTornados
TotTotTot
GeldMachtGeldMachtGeldMachtMacht
Ich möchte leben
Marianne Bäumler 2006