Geschichten vom retro-utopischen Bullerbü

Hubl Greiner und Claudia Knupfer haben mit schmalem Budget und viel Herzblut eine Hommage an das Quartier Chérisy gedreht, jenes Viertel, in dem beide selbst seit Jahrzehnten leben und das wir im Film als fruchtbaren Nährboden kreativer Selbstverwirklichung kennenlernen. Im Mittelpunkt steht das Wohn- und Arbeitsprojekt „Neue Arbeit“. Aber was blieb von den Visionen und Ambitionen der Anfangsjahre übrig? Und was ist zukunftsfähig? Der Film „Ein Viertel in unserer Stadt“ ist das nächste Mal an diesem Mittwoch zu sehen – natürlich in der Chérisy.

Die Geschichte beginnt mit einem historischen Abriss des Areals – von der Kaserne der Nationalsozialisten bis zum Beginn des alternativen Wohn- und Arbeitsprojekts in den 1980ern. Hier wie im weiteren Verlauf besticht der Dokumentarfilm durch die Einbettung historischer Foto- und Filmaufnahmen, viele davon erstmals veröffentlicht. Nach dieser Einleitung schildert der Film die Gründungsphase und die weitere Entwicklung der Chérisy, wobei er sich bemüht, auch für Außenstehende und Leute ohne Vorwissen verständlich zu sein. Zu Wort kommen Aktivist:innen und andere irgendwie Beteiligte von gestern und heute.

Allein für diese Fleißarbeit, für die vielen Interviews mit Zeitzeug:innen, manche sicher spannend wie ein Krimi, die dann notgedrungen auf wenige Sätze zusammengekürzt werden mussten, gebührt Hubl Greiner (Regie) und Claudia Knupfer (Drehbuch) großer Respekt. Als weiteres Element werden, manchmal allzu ausführlich (nach zwei Stunden Film schaute der Rezensent heimlich auf die Uhr), die zahlreichen auf dem Humus Chérisy gedeihenden Projekte vorgestellt, vom Bioladen über das Zebrakino bis zur wortlosen One-Man-Show des musizierenden Elektromeisters.

„Papiertiger“ und „Visionär“

Die meisten Besucher:innen der bislang vier bis zum letzten Platz ausverkauften Vorstellungen haben, so darf man vermuten, wohl allesamt einen persönlichen Bezug zur Chérisy, hatten dort gelebt, gearbeitet oder tun dies noch. Da wundert es nicht, dass die nach der Vorstellung um ihren Spontaneindruck Befragten den Film alle ganz toll fanden. Man erinnert sich an frühere Zeiten, trifft auf der Leinwand oder gar unter den Kinogästen alte Bekannte. Oder, so einige Stimmen, erfährt erstmals ausführlich die Geschichte des retro-utopischen Bullerbü, in dem man bisher ahnungslos einfach nur ein WG-Zimmer bewohnte.

Der Film, so Hubl Greiner, wolle die Probleme nicht ausblenden, aber auch nicht zu viele Wunden aufreißen. Und wird dann in manchen der eingeblendeten Interviews doch sehr persönlich, wenn etwa der eine Geschäftsführer als „Papiertiger“ abgekanzelt und der andere als „Visionär“ gefeiert wird, dem man übel mitgespielt habe.

Hier hätte es sich angeboten, auf die Kehrseite eines allzu dichten, gleich mehrere Lebensbereiche umfassenden Miteinanders einzugehen, nämlich die engmaschige soziale Kontrolle in einer Gemeinschaft, die Dissens durchaus auch mit Isolierung und Ächtung bestraft. Auf den Vergleich mit anderen Wohn- und Arbeitsprojekten verzichten Greiner und Knupfer. Schade. Gern hätte man über den Tellerrand hinausgeblickt und gesehen, was auch anderswo gelang oder dort, Stichwort Basisdemokratie, auch scheiterte.

Wie notwendig ist Selbsthilfe?

Nicht nur wegen der Lebensqualität der Altbauten samt ihren großzügigen, parkähnlichen Grünflächen – man vergleiche damit nur die beiden zuletzt in der Chérisystraße gebauten Wohnheime für Studierende –, auch aus ökologischer Sicht war es sinnvoll, die bestehenden Gebäude und damit die in ihnen enthaltene graue Energie ressourcenschonend zu erhalten. Ganz anders heute in der Steinstraße, wo die bundeseigene Immobiliengesellschaft gegenüber der Jägerkaserne drei „Franzosenhäuser“ abreißen und durch Neubauten ersetzen will.

Doch wie konnte es in den 1980ern überhaupt gelingen, eine Kaserne mit nur 20 Prozent der üblichen Baukosten in Wohnraum für 250 Menschen zu verwandeln? Die Selbsthilfe der künftigen Bewohner:innen, die uns der Film Steine schleppend beim samstäglichen Arbeitseinsatz zeigt, war nur ein Element. Ein anderes war eine nach Sankt Nimmerlein verschobene „Ausbaustufe 5“, welche Lappalien wie Fußleisten und Anstriche letztendlich den Mieter:innen überließ. Dazu kam ein großteils aus Studierenden gebildeter Bautrupp, auf dessen Lohn kaum Steuern und Sozialabgaben gezahlt werden musste.

Sind dergleichen Konzepte auf die von ausufernden Baukosten, Investorenmodellen und wilder Bodenspekulation gekennzeichnete Gegenwart übertragbar? Oder war es das zufällige und einmalige Zusammentreffen günstiger Umstände, die den Start des Wohn- und Arbeitsprojekts ermöglichten? Eine Antwort auf diese Fragen werden wir leider ohne den Film finden müssen. Und so bleibt es beim selbstvergewissernden Wohlfühlfilm, den anzuschauen vor allem für (Ex-)Chérisyaner:innen ein Muss ist. Sie werden das Kino in bester Laune verlassen.

Zum nächsten Mal ist der Film „Ein Viertel in unserer Stadt“ am Mittwoch, 21. Juni, 18.30 Uhr, zu sehen – und zwar im Zebra-Kino, Joseph-Belli-Weg 5. Aufgrund des bisherigen Andrangs (alle bisherigen Veranstaltungen waren ausverkauft) empfiehlt sich eine Ticketreservierung: https://zebra-kino.de/tickets/

Text: Ralph-Raymond Braun
Transparenzhinweis: Der Rezensent wohnte etwa 30 Jahre in der Chérisy und war in den 1980ern bei der Neuen Arbeit bzw. ihren Trägervereinen und im Kulturladen aktiv.
Fotos aus dem Film: Hubl Greiner und Dieter Bellmann (Transparent „Nazis raus“)