Geschichtsbuch mit vielen Geschichten, doch ohne Geschichte
So bieder wie das Titelbild ist das Buch: „Meersburg unterm Hakenkreuz, 1933-1945“ liest sich wie eine Heimatchronik der 12 Jahre des Nationalsozialismus. Als wären diese 12 Jahre ganz gewöhnliche Jahre. Keine Aufklärung, eher Beschauliches und manchmal gar Beschönigendes liefert das 500-Seiten-Buch des örtlichen Museumsvereins. Von „wissenschaftlicher Aufarbeitung“ – von den vier Autoren für ihre Arbeit in Anspruch genommen – keine Spur: Eine vergebene Chance für eine dringend notwendige Geschichtsaufarbeitung.
Jüdische MitbürgerInnen gab es in Meersburg, das sich damals „judenfreier Fremdenort“ nannte, offensichtlich höchstens vier, deren Schicksal auf 1 von 448 Seiten abgehandelt wird: Von zwei Frauen darf der Leser vermuten, dass sie versteckt überlebten – weitere Recherchen und zusätzliche Informationen allerdings fehlen; von zwei weiteren, in Meersburg geborenen Juden wird auf wenigen Zeilen berichtet, dass sie ins französische Gurs deportiert und später in Ausschwitz ermordet wurden.
Widerstand? Fehlanzeige!
Widerstand gegen das Nazi-Regime fand, mag man den Autoren glauben, in Meersburg kaum statt: Gerade mal fünf Zeilen und das Faksimile einer Todesmeldung aus dem KZ Buchenwald ist den Autoren die Erwähnung oppositioneller Strömungen wert: Auch hier vermisst der Leser weitere Nachforschungen – der geschwärzte Name des KZ-Opfers zum Beispiel bleibt unaufgeklärt. Gab es keine Zeitzeugen? Oder wurden die nur nicht befragt?
Immerhin erfahren wir, dass die Meersburger Bevölkerung regelmäßig und fast vollzählig die NSDAP unterstützte. Während bei „den letzten freien Wahlen“ im März 1933 noch die konservative Zentrumspartei mit 500 Stimmen die Mehrheit erhielt (NSDAP: 460, SPD: 42, KPD: 56) war die Wählerentscheidung nach der Demontage der Zentrumspartei eindeutig: Bei der nächsten Wahl 1934 votierten 1195 Meersburger für die NSDAP, bei der anschließenden Volksabstimmung 1232 bei 20 Gegenstimmen.
Kriegswirren? Selbstmitleid!
Ansonsten schwelgt das Buch hunderte Seiten lang in der Beschreibung von Einschränkungen für die vermeintlich darbende Bevölkerung, die im Gegensatz zum benachbarten Friedrichshafen – das wird in dem Buch jedoch nicht erwähnt – keinen einzigen Bombenabwurf, nicht einen Kriegseinsatz erlebte. Da ist hingegen von lästigen Einquartierungen die Rede – von den Hotelbesitzern anfangs noch freiwillig und kostenlos den SS-Einheiten zur Verfügung gestellt, später für verwundete Soldaten nur zähneknirschend geduldet -, von Übergriffen der Schüler der Reichsfinanzschule, die grölend durch die Unterstadt zogen und sogar ungefragt die Apfelhaine heimsuchten; die Requirierung der Weinvorräte wird bejammert und die Einschränkungen des Fremdenverkehrs zeilenreich bedauert.
Von der Existenz des einzigen Rüstungsbetriebs, der Firma Kälte als Zweigbetrieb der Dornier-Werke, erfährt der Leser dagegen nur beiläufig. Die dort Beschäftigten werden kritik- und kommentarlos als „Ostarbeiter“ bezeichnet, über deren Diebstähle reichlich Beschwerden dokumentiert werden. Ob es sich um Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter handelte, bleibt unaufgeklärt. Da wären Erkundungen in Überlingen oder Friedrichshafen womöglich hilfreich gewesen. Auch das Kriegsgefangenenlager im Gemeindegebiet findet nur magere Erwähnung – keine Angaben über Zahl und Nationalität der Gefangenen, keine Angaben über Unterbringung oder Lebensumstände.
Heldenverehrung! Gedenken?
Auf immerhin elf Seiten findet hingegen die „Heldenverehrung“ deutlich mehr Platz in dem mit zahlreichen Privatfotos verziertem Buch: Den Toten zur Ehre – Den Lebenden zur Mahnung – ohne Anführungszeichen überschrieben. Einheimischen mag die ellenlange Beschreibung der Kriegsdenkmäler bis in die 1970iger Jahre hinein als Orientierungshilfe dienen – der historischen Aufklärung nützt das wenig.
Mag ja sein, dass die Akten des Meersburger Stadtarchivs nicht mehr her gaben. Aber die Autoren Heinrich Frey, Sybille Kopp, Margret Meier und Peter Schmidt, allesamt honorige Meersburger und Mitglieder des Museumsvereins, hätten zur Recherche womöglich mehr als Google-Einträge im jeweiligen Vorspann bemühen müssen, um eine historische Dokumentation zu liefern. So bleibt „Meersburg unterm Hakenkreuz“ eine fleißige, aufwändige, aber leider oberflächliche Heimatchronik, ein Geschichtsbuch mit vielen Geschichten, aber ohne Geschichtsbewußtsein.
Autor: hpk
Heinrich Frey, Sybille Kopp, Margret Meier, Peter Schmidt: Meersburg unterm Hakenkreuz, 1933-1945, Meersburg 2011, Verlag Robert Gessler, Friedrichshafen, 448 Seiten, ISBN-13: 978-3-86136-164-0, 19,90 €