Gesichter Stadelhofens Teil IV: „Komm, geh’n wir in den Wald“

Das waren die Worte, die Faruk Yilmazer am häufigsten nutzte, wenn es mal wieder Unmut an der Tür der Diskothek Joy am Konstanzer Bodanplatz gab. Weiter hieß es dann: „Aber Pistole nicht vergessen!“ Das schien Eindruck gemacht zu haben, auch wenn es nur ein Witz war, sagt er heute. Auf die Frage, ob er denn wirklich mal im Wald gelandet wäre, schüttelt er den Kopf „Die wussten immer, dass ich viele Freunde habe.“ Das war Mitte der 70er Jahre.

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Heute ist der 85-jährige Herr Yilmazer Wirt des Eumels, einem kleinen Lokal in der Hüetlinstraße. „1981 war es das erste türkische Lokal in Konstanz“, betont er. Für ihn war es die Abkehr von einem anderen Leben. Im März 1965 kam Herr Yilmazer nach Konstanz, damals als Elektrikermeister bei einer Firma in der Markgrafenstraße. Sein Chef war sehr zufrieden, deshalb tat er viel, um den gebürtigen Türken in der Stadt zu halten: ein guter Stundenlohn von 3,80 Mark, eine Wohnung gleich neben der Firma, ein langfristiges Arbeitsverhältnis. Nach drei Monaten holte Herr Yilmazer seine Frau und seine Tochter nach. Er sagt, dass es ihnen „leichtfiel, in Konstanz Fuß zu fassen“ und spricht schmunzelnd von der Verwandtschaft der Städte Konstanz und Konstantinopel. In die Türkei zurückzugehen war für ihn nie ein Thema.

Der Boxklub habe ihm bei der Integration sehr geholfen, sagt er. Durch ihn habe er viele Freunde kennengelernt und auch seinen ersten Job als Empfangschef in dem oben erwähnten Joy gefunden. Damals war „viel los in Konstanz“. Zuhälter und jenische Familien gaben im Nachtleben den Ton an. Er konnte mit allen gut und fand sich in der Nacht zurecht. So gut, dass er 1976 seine eigene Diskothek eröffnete, den am Flughafen gelegenen Jet Club. Nach fünf Jahren musste er sich allerdings eingestehen, dass diese Aufgabe nur das Leben schwermacht. „Man wird nicht Millionär und hat keine Zeit.“ Als ihm der kleine Laden in der Hüetlinstraße angeboten wurde, war die Entscheidung deshalb leicht.

Ob sein Leben daraufhin ruhiger wurde, könne er nicht sagen. Die Geschichte, die für ihn und wahrscheinlich alle Nachbarn am bedeutendsten war, ereignete sich in einer Sommernacht 1993. Das Eumel brannte aus. Schnell war die Rede von einem Brandanschlag. Bürgermeister Eickmeyer lud die Familie Yilmazer, Polizei, Feuerwehr, den türkischen Generalkonsul sowie die Fraktionsvorsitzenden des Gemeinderats zu einer Aussprache ins Rathaus ein. Bürgerbündnisse formierten sich, um dem Gastronomen zu helfen; es wurde ein Stadtlauf veranstaltet, um Spenden zu sammeln. Rückblickend war ihm die Aufmerksamkeit zu viel. Er habe nie „großer Mann“ spielen wollen, sagte lediglich, dass derjenige, der sein Lokal angezündet hat, ihn doch anrufen solle, um zu sagen, warum er dies getan habe. Faruk Yilmazer wartet seit 27 Jahren auf diesen Anruf.

Großer Mann will er heute auch nicht spielen. Er ist froh, etwas zu tun zu haben und gebraucht zu werden. Nach dem Tod seiner Frau und seiner Tochter, so sagt er, könne er nicht mehr lachen. Er ist dankbar, dass er in seinem hohen Alter noch im Lokal arbeiten kann. Wenn er zuhause sei, mache er sich nur Gedanken. Stattdessen hilft er, wo er kann, zum Beispiel im Fußballverein. Jeden Sonntag schaut er die Spiele seines türkischen SV Konstanz auf dem Platz, für dessen Bau er viel getan hat, und freut sich über jeden der jungen Spieler, die ihn nach Rat fragen.

Benjamin Arntzen (Text und Bilder)


Außerdem erschienen:

09.07.20 | Gesichter Stadelhofens Teil I: Ein „Wohnzimmer für alle“
10.07.20 | Gesichter Stadelhofens Teil II: „Dass es sowas noch gibt!“
13.07.20 | Gesichter Stadelhofens Teil III: „Die Zeiten haben sich geändert, wir nicht“
15.07.20 | Gesichter Stadelhofens Teil V: „Viele sind weg, weil sie’s nicht mehr aushielten“