Handlungsprogramm Wohnen soll entrümpelt werden

Zwischen gründlicher Reform und behutsamer Reparatur – das Handlungs­programm Wohnen, 2014 vom Konstanzer Gemeinderat auf den Weg gebracht und nun erstmals evaluiert, braucht eine erste Auf­besserung. Da waren sich die Gemeinde­rats­mitglieder in der gestrigen TUA-Sonder­sitzung mit wenigen Ausnahmen einig. Unterschiede gab es allerdings in der Bewertung, was und wie viel an einzelnen Programmpunkten verbessert werden soll.

Baubürgermeister Langensteiner-Schönborn war eine solch ausführliche Diskussion allerdings gar nicht recht. Er wollte eine Informationsveranstaltung, in der Vertreter der Institute, die mit der Überprüfung des Handlungsprogramms (HPW) beauftragt waren, ihre Ergebnisse vorstellen konnten und die Ausschussmitglieder höchstens Fragen stellen sollten. Ein ausführliche Erörterung hatte er für die nächsten ordentlichen Sitzungen des Technischen und Umweltausschusses (TUA) am 14. 12. und des Gemeinderats am 19.12. vorgesehen. Da fiel ihm aber sogleich der erste Redner in die Parade: Stephan Kühnle (FGL) trug eine ausführliche Stellungnahme seiner Fraktion vor – und die anderen Redner schlossen sich ihm an.

Doch zuvor wurden vor voll besetzten Zuhörerbänken (Foto) in eineinhalb langen Stunden nicht nur die demographische Entwicklung der Stadt Konstanz, sondern auch die Ergebnisse der Institute vorgestellt. Hunderte von Zahlen und Schaubildern flogen durch den Sitzungssaal des Technischen Rathauses – zu viele, um sie an dieser Stelle wiederzugeben. Zusammengefasst konnte man das schon vorher auf seemoz nachlesen, wer es aber noch genauer wissen will, informiert sich im städtischen allris. Darum reportieren wir an dieser Stelle allein die Diskussion im Ausschuss, die auch noch einmal 1,5 Stunden dauerte, aber sogar etliche Meinungsschwenks offenbarte.

Sickereffekt nein – Klettereffekt ja

„Reichlich dürftig“ fand Stephan Kühnle (FGL) das Datenmaterial zum Sickereffekt, der wirken soll, wenn ein Mieter eine teuere Wohnung bezieht und dann eine preiswertere frei wird. „Ich schlage vor, das zukünftig als Klettereffekt zu bezeichnen, denn auf dem Konstanzer Wohnungsmarkt wird die Miete einer solchen freien Wohnung sofort erhöht.“ Und mit einer weiteren Überraschung wartete Kühnle auf. Abweichend vom Vorschlag der Beratungsfirma Empirica, die bereits eine Neuordnung der Segmente vorgeschlagen hatte, forderte er für seine Fraktion eine Ausweitung des unteren Segments für Enkommensschwache und schloss sich damit einer alten LLK-Forderung an: Nach FGL-Vorstellung soll künftig das untere Segment (Mieten von 5,50 bis 9,50) 33,3, Prozent betragen, das mittlere Segment 50 und das obere mit Mieten ab 13 Euro nur noch 16,7 Prozent.

In seiner Einschätzung zum Sickereffekt schloss sich Johann Hartwich (FDP) dieser Kritik an, monierte auch, „dass das Handlungsprogramm Wohnen hintendran“ sei, aber zu einer Neuordnung der Förderungssegmente mochte er sich nicht durchringen. Ernsthaft hatte das auch niemand von dem strammen Marktliberalen erhofft. Anders schon die Erwartungshaltung an Jürgen Ruff (SPD), von dem man endlich mal mehr als blumige Formulierungen erwartet hätte – war da nicht was vom ‚Sozialen Gewissen‘ im letzten Wahlkampf? Doch der SPD-Recke beließ es bei der Einschätzung, der Wegzug ärmerer Mieter ins Umland sei eine „öko-soziale Katastrophe“. Überdies forderte er, die Neubaugebiete Döbele und Siemens-Areal ins HPW einzubeziehen.

„300 Euro für ein Bett“

Nur bei der Frage der Segmentierung beließ er es bei dem moderaten Vorschlag der Berater, die eine Aufstockung des unteren Segments auf 25 Prozent vorschlagen – wäre ja noch schöner, wenn die SPD-Fraktion einem FGL-Vorschlag folgte. Obwohl, das muss der Fairness halber vermerkt werden, der angestammte Verteidiger aller Konstanzer Mieter-Interessen, Herbert Weber (SPD), später ein flammendes Plädoyer gegen den Mietwucher in dieser Stadt hielt: „Da kann ich Namen nennen: Das Sozialamt und das Job Center finanzieren Vermieter, die 300 Euro pro Bett verlangen, mit Millionen.“

Für Roger Tscheulin (CDU), der mehrmals verlangte, „die freien Investoren des Wohnungsmarkts doch nicht immer zu verdammen“, war der HPW-Zwischenbericht „eine traurige Bilanz“. Dennoch – warum nur? – möchte er an der alten Segmentierung festhalten und „das Handlungsprogramm besser mit der Wirtschaft verzahnen.“ Wie das noch besser als bislang erfolgen soll, sagte er nicht.

„Wohnungsbau dem privaten Immobilienmarkt entziehen“

Nicht ganz den Empirica-Zahlen trauen mochte Holger Reile (LLK), die einen Bedarf von 7919 Wohnungen bis zum Jahr 2035 vorhersagen, – „eine etwas schräge Zahl, die vermuten lässt, damit soll die wissenschaftliche Kompetenz untermauert werden“. Auch er ließ an dem vermeintlichen Sickereffekt kein gutes Haar – sein Fazit aber: „Wer erschwinglichen Wohnraum für Gering- und Normalverdiener schaffen will, muss einen möglichst großen Teil des Wohnungsbaus dem privaten Immobilienmarkt entziehen und mehr denn je Wohnungsbaugesellschaften wie Wobak und Spar- und Bauverein, genossenschaftliche Gruppierungen und andere Non-Profit-Unternehmen mit ins Boot holen. Greift man dennoch auf private Investoren zurück, dann nur, wenn sich diese auf soziale und ökologische Standards verpflichten lassen.“

Anselm Venedey (FW) hielt den „Erkenntniswert der Evaluierung nicht für besonders hoch“. Er warnte vor „falschen Prioritäten“, beispielsweise bei den Neubauplänen zur Geschwister-Scholl-Schule oder dem Pflegeheim Zoffingen, wo man „nicht den Forderungen einzelner Gruppen nachgeben sollte: Keine Angst vor Entscheidungen, die manchen wehtun“. Aufs Tempo drücken möchte er und fragt die Verwaltung, was sie denn in absehbarer Zeit leisten könne: „Sagen sie es, wenn Sie mehr Mitarbeiter brauchen“.

„Stärkeres Engagement der Kommune“

Für Gisela Kusche (FGL) ist klar: „Die Stadt muss anders denken“. Sie plädierte für ein stärkeres Engagement der Kommune auf dem Wohnungsmarkt, fordert die Abgabe städtischer Grundstücke nur noch in Erbpacht und stützt die Forderung nach einer Stärkung des Segments für gering verdienende Mieter.

Nach dieser langen, aber auch endlich einmal fundierten Diskussion ist für die nächsten Monate eine heftige Debatte zu erwarten, in die sich womöglich auch Umweltverbände und Mieterbund, aber auch Vertreter freier Wohnprojekte einschalten werden. Dann könnte aus der bisherigen „Weiter-so-Politik“ auf dem Konstanzer Wohnungsmarkt vielleicht doch noch ein kreatives Projekt werden – für neue Wohnformen, für neue Finanzierungsmodelle, für neue Ideen. Noch ist Zeit bis in den Dezember.

hpk