I wie Identitätspolitik, M wie Ohrenapotheke – Rhetorische Keulen der Macht

Das ABC … C wie Corona zeigt uns, dass es im öffentlichen Diskurs möglich ist, präzise mit Begriffen und komplexen Zusammenhängen zu hantieren. Wir haben wissenschaftliche Definitionen[1] gelernt, wie Inzidenz und R-Faktor. Wir haben sogar komplexe Sachverhalte hinter den Begriffen verstanden, wie: Biologisches Virus verhält sich anders als Bakterium. In dieser Sache sind wir gemeinsam klüger geworden.[2] Ganz anders sieht das bei einem sozialen Virus aus.

Während der Corona-Virus die Naturwissenschaften in unsere Wohnzimmer und leeren Mathe-Grinde brachte, beförderten die Morde von Hanau und der Mord an Georg Floyd ein soziales Virus aufs Tablett: R wie Rassismus. Und obwohl das Phänomen an Heftigkeit zunimmt, ist eine sachgerechte Behandlung im öffentlichen Diskurs nicht sichtbar. Geisteswissenschaftliche Erklärungsmuster scheitern an sich selbst und vor den Brettern unserer Köpfe. Wer es nicht glaubt, lese den Südkurier, der ohne „massenverdummende“ Reduktion des Themas Rassismus nicht auskommt.

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BLM wie Black Lives Matter (übersetzt: Schwarze Leben zählen) eroberte die Straßen und ergriff das Wort. Die in dieser Bewegung versammelten Menschen äußerten Wut und bauten Brücken der Verständigung, indem sie sich in bis dato weiße, sehr weiße Diskussionsrunden stürzten, um komplexe Schlingen rassistischer Ariadnefäden unserer Gesellschaft zu entwirren. Dumm nur, dass wir auf dem Feld der Rassismus-Leugnung unzählige Mutanten wie auch Resistenzen entwickelten und mit vielen geistigen Wässerchen des Reinwaschens eingedeckt sind. Eine Mischung von allem ist der Vorwurf, antirassistische Bemühungen bewegen sich in einem stigmatisierenden Feld der Identitätspolitik.

Was ist Identitätspolitik und wer liefert dazu welche erhellenden Definitionen für die Massen?

I wie Identität ist nämlich wirklich kompliziert; individuell für jeden einzelnen Menschen, wie kollektiv für jede denkbare Gruppenbildung. Identität ist immer in Bewegung und knüpft an unüberschaubar viele Faktoren an, ohne jede mathematische Formel für eine exakt wissenschaftlich haltbare Gesetzmäßigkeit. Daraus resultieren Komplikationen: Identitätsfindung, Identitätssuche, Identitätskrisen, die Identitären (Igittigitt) und: Identitätspolitik.

I wie Identitätspolitik ist ein alter, mächtiger und institutionalisierter Diskurs; er wirkt gemeinschaftsstiftend, mitunter sogar staatstragend. Nun gibt es aber unterschiedliche Identitätspolitiken, die verschiedenen Weltbildern entspringen, sie zu verwechseln ist zwar grob fahrlässig, aber auch en vogue. Für eine vereinfachte Unterteilung nenne ich sie hier Identitätspolitik 1 und Identitätspolitik 2.

Identitätspolitik 1

Identitätspolitik 1 begann mit der großen Zeit der Aufklärung und eines Universalismus, der mittels weißer Wissenschaften ein eurozentristisches Weltbild manifestierte. Die Idee von natürlich gewachsenen, homogenen Nationen definierte sich über Kriterien wie: eine Sprache, eine Kultur, ein Volk. Die heraufziehende Moderne hatte eine reaktionäre Seite. Ausgerüstet mit diesem statischen Kulturverständnis zog das sich selbst Zivilisation nennende, weiße Zentrum los, um die „Anderen“ zu beschreiben, zu vermessen und zu definieren. Die „Anderen“ waren die nicht „homogenen“ gemischten Völker, „Ethnien“ und Sprachen, die „Barbaren“, die „Orientalen“, die „Wilden“, die „Primitiven“. Die Erfindung der Menschenrassen wurde ausgefeilt, ein ganzheitlicher sozialer, kultureller und ökonomischer Prozess des „Othering“ in Gang gesetzt. Mit anderen Worten: das zivilisierte Zentrum der „Eigenen“ festigte ein identitätsstiftendes Selbstbild mittels einer negativen Schablonisierung der „Anderen“. Das sicherte Überlegenheit, Machtansprüche, Kolonialisierungs-, und Ausbeutungslegitimationen und führte zur Wahnvorstellung des „Herrenmenschen“. An den Folgen der Identitätspolitik 1 leidet heute noch der größte Teil der Weltbevölkerung, wie auch die Natur.

Identitätspolitik 2

Über ein Jahrhundert später platzte den markierten „Anderen“ der Kragen, sowohl den Marginalisierten mitten in den Zentren der Macht wie auch den Mehrheiten in Gefilden, die vom eurozentristischen Weltbild der Identitätspolitik 1 zur Peripherie degradiert worden waren. Kolonialisierte Länder kämpften um Freiheit, neue soziale Bewegungen formierten sich weltweit, rangen um Mitsprache und gleiche Rechte. Universalismus wurde neu, ein bisschen universeller, gedacht. Frauen entdeckten ihre Fesseln, Schwarze Menschen kämpften gegen die Apartheid, Homosexuelle gegen die Pathologisierung ihrer Sexualität, Arbeiterinnen gegen die Ausbeutung ihrer Körper, Menschen mit Behinderungen meldeten sich an als Teil derselben Menschheit, und vieles mehr kam in Bewegung. Nicht nur Identitäten, sondern die Idee von Identitäten, damit auch Sprache, Definitionen und Diskurse gerieten ins Wanken. Chaos könnte man sagen – oder das Recht auf Emanzipation, Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Natürlich waren es auch Kämpfe der Selbstbestimmung und damit immer auch der Rechte auf die eigene Identität.

Vielleicht hätte man sie anders nennen sollen, vielleicht aber auch nicht: Mir ist nicht klar wie Frauen auf ihre Unterdrückung hätten aufmerksam machen können, wenn sie nicht erwähnt hätten, dass sie aufgrund ihres Frau-Seins (Achtung ein potenzieller Identitätsbaustein) unterdrückt wurden, gleiches gilt für jede diskriminierte, wenn auch in sich heterogene Gruppe.

Inhaltlich erwuchsen zwischen Identitätspolitik 1 und 2 zahlreiche weitere Nuancen identitärer Politiken, wie Ansätze neoliberalen Diversity-Managements und staatlicher Integrationsmanöver.

In unser aller Lieblingsjahr 2020 ploppte der Begriff „Identitätspolitik“ neu auf, wie sein Gebrauch wirklich gemeint ist, erfahren wir nicht: Ist ein neuer Meltingpott aller umherschwirrender Identitätspolitiken gemeint, eine völlige Umkehr von zwei diametral entgegengesetzter Identätspolitiken oder ein reaktionäres Zucken von Identitätspolitik 1? Trotzdem ist ausgemacht, wem der Begriff gilt: Menschen, die auf rassistische Missstände hinweisen, werden schneller mit der identitätspolitischen Keule mundtot gemacht, als sie es schaffen könnten, A wie Antidiskriminierung auszusprechen. Die Folge davon: Weiterhin beschreiben, definieren und bestimmen Menschen, die nicht von Diskriminierung betroffen sind, was Diskriminierung ist, wie Diskurse zu führen sind und wer hier überhaupt sprechen darf. Selbstredend geht dem die Klage voraus: „man dürfe ja nichts mehr sagen“ und „man kämpfe hier um demokratische und kulturelle Meinungsfreiheit“. Ich würde sagen, diese Massen haben aus der rhetorischen Trickkiste der AfD gelernt.

S wie Saubermänner und Südkurier

Am 19. März erschien im Südkurier ein Interview mit Tobias Engelsing unter dem Titel: „Wenn aus der Mohren-Apotheke die Ohren-Apotheke wird: Woher stammt der Begriff ‚Mohr‘?“ Der Artikel bedient sich in typischer Südkurier-Manier simpel gestrickter Verdummdrehungen aus der AfD-Rhetorikschatulle: Man bemühe sich um Pseudodefinitionen und Expert:innenmeinungen, ignoriere aber sorgfältig die Expertisen von Betroffenen – das wäre ja auch Identitätspolitik. Dafür recherchiere man bei der die Polizei und verbanne einen Sachverhalt in die Schmuddelecke der Kriminalität – hier die berühmte Buchstabenkriminalität, man erwähne auch die große Welt der Bürger:innen und sozialen Medien, ergo sichere man sich die große Verbündung mit denen da draußen und man erwähne auch kritische Stimmen, die da eine rassistische Kontinuität des „M“s wähnen, um sie dann eines Besseren zu belehren.

Es verwundert dann aber doch, oder vielleicht nicht mehr, dass der geschätzte Stadthistoriker Engelsing dafür zu gewinnen war und in selbigem Muster argumentiert. Seinen Ausführungen schickt er diesen ersten, „originellen“ Satz voraus: „Anders als es sich manche Wortführer von Identitätspolitik und Antirassismus vorstellen, sind die Ursprünge der Verwendung sogenannter Mohren (…) überaus komplex und nicht zwangsläufig kolonialistisch hinterlegt“.

Engelsings historische Darlegungen über Ursprünge verschiedener Kontexte des „M“-Wortes sind sicherlich richtig. Und auch ein kolonialer Kontext wird angedeutet aber hinter dem Vorwurf symbolisch, kultureller Aneignungs-Fragen, so genannter antirassistischer Identitätspolitiker:innen wieder zurückgestellt. Entgeht dem Historiker dabei, dass er selbst alte Identitätspolitiken der Kategorie 1 bemüht und in eurozentristischer Manier auf das Recht der Be-Schreibung des „Anderen“ pocht? Sicherlich ist „Melchior, der König aus dem Morgenland“, eine gewürdigte, christliche Figur und sicher hatte die historische Idee dieser Figur keine weiße Haut, eben so wenig, wie ein aramäischer Jesus oder eine aramäische Jungfrau Maria. Und nun? Wollen wir deshalb historisch vergessen, welche Traditionen seither noch den „M“-Begriff konnotieren?

Ja, in der Logik der Identitätspolitik 1 sowie dieses Interviews, das das historische Nicht-Aussprechen der kolonialen Tradition des „M“-Bildes wiederholt. Es bestätigt einmal mehr das kollektive Wegsehen über unsere koloniale Vergangenheit: Wir lernen nicht, dass bis dato deutsche Nationalhelden wie Bismarck, der Imperialist Lüderitz und der Massenmörder von Trotha bereits 1904 ein auch so bezeichnetes „Konzentrationslager“ in Namibia errichtet hatten. Wir lernen nicht, dass hier der erste Genozid des 20. Jahrhunderts stattfand und bis 1908 um die 80.000 Herero und Nama von deutschen Kolonialherren ermordet wurden. Wir lernen auch nicht, dass die Rolle deutscher (christlicher) Missionare immens war dabei, diese Menschen zu entmenschlichen, zu versklaven, auszubeuten und zu töten. Dass sie dazu beitrugen Schwarze Menschen zu verschleppen und in Europa bei Kolonialausstellungen und Völkerschauen zur Schau zu stellen. Für all das steht heute das Bild und die Bezeichnung des „M“. Darüber zu schweigen und dabei über die Rolle von Melchior für „unsere“ Kultur zu schwadronieren, ist damit vergleichbar, Hitler für die Autobahn und unsere Mobilitätskultur zu loben und Ausschwitz keines Wortes zu würdigen. Das ist Symbol- und Identitätspolitik 1 in Reinform (sic!). Wollen wir diese christliche Tradition europäisch deutscher Werte wirklich noch verteidigen?

Der Südkurier-Artikel beantwortet zumindest die simple Frage: Wer braucht heute noch das M-Wort und für was?

Und: Danke an die unbekannten Buchstaben-Räuber:innen da draußen!

Abla Chaya (Text und Bild)


[1] „Begriff“, so der Duden, ist dem mittelhochdeutschen „begrif“ entlehnt und bedeutet: Bezirk und Umfang von einem Inhalt oder einer Vorstellung. Wichtige Sache also die Definition von Begriffen ohne der ein gemeinsames Sprechen nur schwer möglich ist.

[2] Davon ausgenommen sind Trumpist:innen und Verschwörungsanhänger:innen. Dennoch bemühen auch sie sich redlich den Dingen auf den Grund zu gehen und ziehen völlig neue „wissenschaftliche“ Erkenntnisse aus den Kraken des wordwideweb. Auch das hat seinen gesellschaftlich, kulturellen Unterhaltungswert.

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