„Ich will an die grüne Tradition in Konstanz anknüpfen“
Im September 2013 sind Bundestagswahlen – die Konstanzer Parteien graben schon die Startlöcher. Grüne, FDP und Piratenpartei haben ihre KandidatInnen bereits gewählt, die Linke hat eine erste Sichtung vorgenommen, die SPD wird ihren Kandidaten nächsten Mittwoch präsentieren. Und wie es aussieht, kommen aus Konstanz vornehmlich junge Bewerber: Nachdem Bündnis 90-Die Grünen schon mit Till Seiler einen Jungspund nach Berlin geschickt hatte, geht jetzt mit Nese Erikli eine 31jährige ins Rennen
Die Jura-Studentin aus dem Kreisvorstand der Grünen setzte sich auf der Wahlversammlung am Mittwoch deutlich gegen Birgit Brachat-Winder durch. Außer den Grünen haben im Wahlkreis Konstanz bisher die Liberalen und die Piraten ihre Kandidaten für die Bundestagswahl 2013 benannt: Für die Liberalen tritt einmal mehr Birgit Homburger an, für die Piraten der 19jährige Schüler Andreas Bergholz aus Singen. Auch die Linken werden wohl einen „u30“ aufstellen – zumindest waren auf einer ersten Wahlversammlung am Mittwoch keine anderen Kandidaten im Gespräch. Und die SPD macht’s spannend – am kommenden Mittwoch wird ihr Kandidat – wie man hört: männlich, jugendlich – der Öffentlichkeit präsentiert.
Nese Erikli im Interview
Bereits am ersten Tag nach ihrer Nominierung konnte seemoz mit Nese Erikli (s. Foto) ein Gespräch führen: Dabei gibt sich die 31jährige ungemein souverän und schlagfertig – mit ihr wird es im anstehenden Wahlkampf sicher nicht langweilig, und die Gegenkandidaten werden sich warm anziehen müssen:
Frech gefragt, Frau Erikli: Sie sind 31, studieren Jura in Österreich, machen Politik in Konstanz und haben einen Halbtagesjob in Zürich: Jetzt wollen Sie sich noch die Kandidatur zum Bundestag aufhalsen…
Über die Mehrbelastung mache ich mir keine Sorgen. Die Motivation, sich für grüne Themen einzusetzen, ist entscheidend; und die bringe ich mit. Wir Grüne sind es, die Bildungspolitik, Ökonomie, Soziales und Klimaverträglichkeit zusammen denken und zusammen bringen. All‘ das hat mich schon als Jugendliche motiviert, mich bei den Grünen zu engagieren. Und diese Ziele sind es auch, warum ich mich um ein Bundestagsmandat in Berlin bewerbe.
Zu den Inhalten Ihrer Politik: Beginnen wir mit der Bildung. Als jemand, der sein Studium selbst finanziert, wissen Sie wohl, wovon Sie reden?
Ich habe selbst als Kind erfahren, was es bedeutet, wenn das Einkommen der alleinerziehenden Mutter, die nicht lesen und schreiben kann, nicht ausreicht, und das Wort Förderung ein Fremdwort ist. Aber es geht bei Bildung gerade um die gleichberechtigte Teilhabe aller. Daher müssen wir bei den Kleinsten beginnen: Es braucht keine Herdprämie, sondern vielmehr das Ziel, dass jedes Kind ab spätestens drei Jahren in den Kindergarten geht und in den Genuss frühkindlicher Förderung kommt. Die Chancen der Kinder dürfen sich nicht nach Herkunft und Geldbeutel der Eltern bestimmen lassen.
Das dürften andere Kandidaten so oder ähnlich auch sagen. Was schlagen Sie konkret vor?
Um gleiche Chancen zu sichern, dürfen wir nicht an der Bildung sparen. Das Kooperationsverbot im Bildungssektor zwischen Bund und Land muss aufgehoben werden. Das ist der richtige Schritt, um eine dauerhafte Finanzierung im Bildungsbereich gewährleisten zu können.
Zur Energiewende, ureigenes Thema der Grünen. Ist da die jetztige Bundesregierung nicht längst auf dem richtigen Weg?
Das sehe ich anders. Merkels sogenannte Energiewende ist eine Mogelpackung. Nach Fukushima und dem Wahldebakel in Baden-Württemberg musste die Kanzlerin den Atomausstieg erklären. Doch passiert ist bisher wenig, was den Namen Energiewende verdient hätte. Wer Atomausstieg und Energiewende aus Überzeugung proklamiert, für den sollten Kreditbürgschaften zum Bau neuer AKWs im Ausland, wie zum Beispiel mit 1,3 Mrd. € in Brasilien, keine Rolle mehr spielen. Daran erkennt man: Schwarz-gelb steht nicht glaubhaft für den Ausstieg und die Energiewende, sondern für eine systematische Verschleierung von Tatsachen.
Statt die Energiewende voranzubringen, betreibt Schwarz-gelb Lobbypolitik: Stromintensive Unternehmen sind unter dem Deckmantel der vermeintlichen internationalen Wettbewerbsfähigkeit von der EEG-Umlage befreit worden. Darunter zum Bespiel die Braunkohleindustrie. Das macht die Energiewende teuer und bremst sie vor allem aus.
Und die Solarbranche, auch in Konstanz, ist die Leidtragende…
…die Kürzungen in der Solarbranche sind ein Beleg für die verfehlte und rückwärts gewandte Energie- und Wirtschaftspolitik der Bundesregierung. Die Auswirkungen dieser Fehlpolitik werden auch bei uns vor Ort sichtbar: Centrotherm hat erst im Juli diesen Jahres die Einleitung eines Schutzschirmverfahrens beantragt. Wir dürfen die Förderung der Solarenergie nicht abwürgen und müssen die Ausnahmen bei der EEG-Umlage deutlich reduzieren.
Fast schon eine Wahlkampf-Rede – Sie haben die Wahlkampf-Rhetorik ja schon richtig drauf. Das ist bei der Energiepolitik kaum verwunderlich. Aber wie sieht es zum Beispiel mit der Innenpolitik aus, bislang von den Grünen eher vernachlässigt?
Aufgrund meines Rechtsstudiums liegt mir die Innenpolitik besonders am Herzen. Die Grünen sind eine Bürgerrechtspartei und deshalb bin ich der Meinung, dass wir die innenpolitischen Themen nicht vernachlässigen dürfen. Die NSU-Morde haben bundesweit traurige Schlagzeilen geschrieben. Aber auch bei uns findet Rechtsradikalismus statt: Erst Mitte September hat eine Kundgebung Rechtsradikaler in Singen gezeigt, dass wir diese Problematik auch hier nicht unterschätzen dürfen. Das Versagen der Verfassungsschutzbehörden und die unerklärliche Blindheit auf dem rechten Auge waren erschütternd.
Ich möchte mich für eine Reform des Verfassungsschutzes und der parlamentarischen Kontrolle der Geheimdienste einsetzen und zwar ohne Rücksicht auf föderale Besitzstände. Das parlamentarische Kontrollgremium muss meiner Auffassung nach dringend personell verstärkt werden. Es sind mehr als neun Parlamentarier nötig, um die Arbeit von 10 000 Geheimdienstmitarbeitern zu beobachten.
Und die Sozialpolitik, bislang auch ein Stiefkind grüner Politik? Wie stehen Sie zum Beispiel zur Forderung nach einem Mindestlohn oder einer Vermögensabgabe oder einer Anhebung des Spitzensteuersatzes? Da hört man von Grünen-Politikern bisher nur Nebulöses.
Die Grünen sprechen sich klar für einen Mindestlohn aus. Das entspricht auch meiner Überzeugung. Wir müssen die soziale Spaltung in der Gesellschaft ernst nehmen und ihr entgegenarbeiten. Das kann nur mit einer Vermögensabgabe und der Anhebung des Spitzensteuersatzes gelingen.
Die schwarz-gelbe Bundesregierung betreibt das Gegenteil: Anstatt Familien- und Sozialpolitik nachhaltig in den Kontext von Arbeitsmarkt-, Sozial- und Gleichstellungspolitik einzugliedern, werden die Schwierigkeiten zu persönlichen und privaten Belangen herab gestuft, die nicht von der Politik zu lösen seien. Betreuungsgeld und Flexi-Quote sind nur wenige Stichpunkte, die symptomatisch für eine unkoordinierte und diskriminierende Politik stehen.
Das dauernde Geschwätz der Bundesregierung von gleichen Chancen spricht für einen pathologischen Realitätsverlust. Etwa 22% aller Vollbeschäftigten arbeiten für einen Lohn, von dem sie nicht leben können. Und Armut hat in Deutschland immer noch ein Geschlecht, jede dritte Frau bleibt unter der Niedriglohnschwelle.
Das hört sich arg kämpferisch an. Werden Sie diesen Politikstil der klaren Worte auch im Wahlkampf durchhalten können?
Mir liegt viel an einem offenen und sachlichen Politikstil. So möchte ich auch den Wahlkampf angehen und an die erfolgreiche grüne Tradition hier in Konstanz anknüpfen.
Danke, Frau Erikli, für die offenen Antworten. Wir wünschen Ihnen viel Glück in einem ebenso kämpferischen Wahlkampf, in dem seemoz Sie kritisch, aber fair begleiten wird. Alles Gute.
Die Fragen formulierte Hans-Peter Koch
Laut dem Bericht im Südkurier hat sich Frau Erikli von der Hauptschule bis zum Jurastudium gekämpft und das mit schwierigem sozialem Hintergrund. Ich habe Respekt davor! (hatte es selber wesentlich einfacher)
Meistens schaffen solche Kämpfer auch irgendwann ihren Abschluss. Immerhin betreibt sie anscheinend einen großen Aufwand dafür: arbeiten in der Schweiz (wohl um das Studium finanzieren zu können?!?), studiert in Österreich und lebt in Deutschland.
Mir sind ehrliche Kämpfer (vielleicht auch mit ein paar Niederlagen im Gepäck) lieber, als andere, die mit Bescheissereien zum Erfolg kommen. so wie viele andere Politiker, die in den letzten Monaten ihre Titel wieder abgeben mussten!
Man sollte Frau Erikli doch an ihrer inhaltlichen politischen Arbeit messen und nicht an einem Jurastaatsexamen, was für Marion&Corinna ja anscheinend das Zertifikat für eine gute Politikerin ist.
Liebe Corinna,
herzlichen Glückwunsch erstmal zu Ihrer Leistung mit der Arbeit!
Aber sehen Sie, Sie hatten ja nur 7 Semester, Frau Erikli hat etwa 20 Semester und das ist schon ein Unterschied. So einen Jurastudenten im 20. Semester haben wir in der Familie und jeder betet, dass er bald mal sein Examen macht. Der Sinn der alten Studienordnung war natürlich nicht, sich endlos Zeit fürs Jurastudium zu lassen. Aber als Abgeordnete muss sie sich ja auch keinen Fleiß angewöhnen, denn dafür hat sie die Mitarbeiter, denen das Lob gebührt, das leider sie kriegt.
Hallo Marion
Leider ist das Thema Langzeitstudentin keine böswillige Unterstellung sondern traurige Realität. Ob man eine Förderung durch die Böll-Stiftung (steht den Grünen nahe, ist aber wie alle hauptsächlich aus Staatsgeldern finanziert) bis zum erfolglosen deutschen Staatsexamen als selbstfinanziertes Studium ansehen mag, gehört wohl zu dem, was Juristen als den „Sachverhalt interpretieren“ bezeichnen. Für jemanden, der nach sieben Semestern die Bachelorarbeit beim Prüfungsamt vorlegen muss und nebenher noch jobben muss, sind solche Äußerungen schwer zu verdauen. Ein Vorteil hat ein langes Studium aber bei Politikern: das Thema Schummeln bei der Doktorarbeit fällt weg.
Grüne sind eine Bürgerrechtepartei?
Vielleicht wenn es um schöne Worte geht, aber es zählen Taten.
Wenn ich nicht irre, hatten die Grünen im Fall des kurzzeitigen VHS Leiters Zahn keine Mühe, ihre Vorstandsfrau Jacobs-Krahnen zu decken.
Tiefer kann man nicht sinken und ich kann solche Leute nicht wählen und das tut mir auch nicht leid. Schade um all die jungen Engagierten Grünen, die was aufbauen was derartige Leute wieder einreißen, Hauptsache sie sichern sich ihre Pöstchen und Privilegien.
Ich weiß nicht recht, was ich von Frau Erikli halten soll. Sie ist 31 und noch Studentin? Hm wie kann das kommen? Abschluss nachgeholt? Oder studiert sie im 20. Semester? Ich finde, das sollte diese Homepage hier klarstellen, denn andernfalls könnte man auch unterstellen, dass sie im 20. Semester ist und dann wäre jeder Ehrgeiz eindeutig geschauspielert.
Wie will sie das außerdem anstellen, wenn sie Jura in Österreich studiert, in Berlin im Bundestag ihr Amt zu machen? Das wäre ein Riesenaufwand und entweder leidet das Studium oder ihr Amt. Dazu müsste sie mit dem Flugzeug pendeln, was eigentlich nicht im Sinne der Grünen sein dürfte. Als Studienabbrecher (ohne Ausbildung dann, da nichts von einer Ausbildung da steht) im Bundestag sieht auch nicht so toll aus. Meiner Meinung sollte sie erst einmal studieren und dann kandidieren.
Der Piratenkandidat ist ganz klar zu jung für den Job. Hier gehts um den Bundestag und nicht um die SMV! Ist er sich überhaupt klar was es heißt, ein Bundestagsabgeordneter zu sein? Der hat maximal Erfahrung bei Ferienjobs, aber damit hat er nicht die nötige Erfahrung, um Abgeordneter im Bundestag zu werden! Wenn die Piraten irgendetwas haben wie die Junge Union, dann soll er sich dort engagieren und nebenher eine Ausbildung machen.
Nese Erikli kämpfte vehement für ihre grünen Ziele.
Bei der Veranstaltung zur Nominierung der Bundestagskandidatin wurde auch die brisante Existenz der Rüstungsindustrie am Bodensee diskutiert. Nese Erikli nannte die extreme Ressourcenbindung im Bundeshaushalt durch den an dritter Stelle liegenden Etat des Bundesministeriums für Verteidigung in Höhe von nahezu 32 Milliarden Euro. Hier sollte eine Konversion zugunsten alternativer Energiebetriebe eingeleitet und die Unterstützung unterer Einkommensschichten durch Qualifizierung verbessert werden.
Es wäre wünschenswert, wenn Nese ihre Ziele an Ostern 2013 und am internationalen Tag der ArbeiterInnen öffentlich im Bündnis mit ihrer realen und links-grünen Basis vertritt.