Im Dialog mit der Maschine (Teil II)
Im Richental-Saal des Kulturzentrums am Münster ist noch bis zum 5. Dezember eine Ausstellung zu sehen, die in Zusammenarbeit der Künstlerin Liat Grayver mit dem Malroboter e-David der Arbeitsgruppe Visual Computing der Universität Konstanz und dem Informatiker und Graffitikünstler David Berio entstanden ist. Ein Gespräch mit Liat Grayver, Oliver Deussen und Marvin Gülzow über „InComputable Imagery. Den Pinselstrich neu erfinden“.
Lesen Sie hier Teil I und hier Teil III dieses Gesprächs.
Die Bilder, die von der Decke hängen, sind aber selbst nur Ab-Bilder. Ihr Vor-Bild – ich schreibe das bewusst so trennend-betonend, weil es auch ums zeitliche Voraus und um ein prozesshaftes Aufeinander-Bezogen-Sein, nicht etwa eine reine Kopie geht – ist die digitale Simulation der Bewegungen eines Partikelschwarms. Der Informatiker Marvin Gülzow, Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Deussen, hat die Bewegungen eines Schwarms digital simuliert. Die Künstlerin Liat Grayver hat diese Simulation betrachtet und einen Moment ausgewählt, den sie ästhetisch attraktiv fand. Danach hat sie einen Screenshot dieses Moments mithilfe von Photoshop so bearbeitet, dass in der Schwarmwolke die einzelnen Partikel gut sichtbar sind. Um diesen Effekt zu erreichen, hat sie das Bild in Ebenen gegliedert. Jede Ebene zeigt – ganz wie in einer Computertomographie – einen Schnitt durch den dreidimensionalen Schwarm. Insgesamt hat sie sich für 28 Schnitte entschieden. Die so entstandenen Bilder hat Marvin Gülzow dann in eine Malanweisung für den Roboter e-David übersetzt. Jedes Teilchen wurde in einen Pinselstrich transformiert.
Liat Grayver: Es war wie die Notation von Musik. Bei jedem neunzigsten Pinselstrich tauchte der Roboter den Pinsel in Tinte. Dann standen ihm mehrere Wasserbehälter zur Verfügung. Auf diese Weise entstanden die Grauschattierungen. Der tintengetränkte Pinsel tauchte in verschiedene Wasserbehälter, wodurch das Wasser schmutzig wurde. Das war ein sehr handwerklicher Weg. Ich wollte die Computersimulation eines natürlichen Phänomens – Schwerkraft, der Bedingung von allem, was wir im Leben tun – kombinieren mit dem sehr traditionellen, sehr schwer kontrollierbaren Reispapier und in einen Zusammenhang mit diesem Raum hier bringen.
Wer also hat nun gemalt? Wer ist die Künstlerin, der Künstler, der künstlerische Akteur? Liat Grayver ist die Künstlerin, aber sie ist eigentlich eher die erste Betrachterin einer digitalen Simulation, die Marvin Gülzow erstellt hat. Allerdings greift er auf Daten zurück, Bewegungsdaten von Schwärmen. Ist er damit nicht auch allererst Empfänger und nicht Sender? Und die Simulation selbst ist ja noch kein Bild, ein Bild wird daraus erst, wenn der Screenshot erstellt wird. Aber dieser Screenshot wird ja selbst wieder aufbereitet und dann e-David, dem Roboter vorgelegt. Ist also e-David der Künstler? Weil er’s malt? Immerhin ist auch er kein Drucker, sondern eine feedbackgetriebene Malmaschine. Aber wenn e-David eine Malmaschine ist, sind dann nicht die Künstler die Programmierer, die die Algorithmen geschrieben haben, die e-David überhaupt malen lassen?
Alle, die sich mit Künstlicher Intelligenz beschäftigen, kommen zu dem Punkt, wo ihnen irgendwann die Kinnlade runterfällt.
Was ist, frage ich den Informatiker Oliver Deussen, der seit vielen Jahren mit malenden Robotern arbeitet, die Kreativität eines Informatikers?
Oliver Deussen: Margaret Boden unterscheidet zwischen explorativer und transformatorischer Kreativität. Sie sagt, die Kreativität, die wir oft vorfinden, ist die explorative, wo ein bestimmter Rahmen gegeben ist. Es ist zum Beispiel der Rahmen des Impressionismus gegeben und ein Maler entwickelt seinen eigenen impressionistischen Stil, sodass man ihn nachher als Künstler erkennt, aber es ist klar: im Rahmen des Impressionismus. Oder wenn ich als Informatiker im Rahmen meiner technischen Gegebenheiten ein Programm schreibe, das irgendein Problem ein bisschen besser löst. Transformatorische Kreativität ist aber, Wissen oder Erfahrungen aus einem Lebensbereich auf einen anderen zu übertragen. Archimedes, der in der Badewanne sitzt und die Lösung seines Kronenproblems erfindet – das ist transformatorische Kreativität. Und ich glaube, es wäre gut, wenn wir uns dem nähern, dass Algorithmen eine gewisse Art von explorativer Kreativität beherrschen, indem sie einen bestimmten Raum selbständig erkunden und vielleicht auch bewerten. Und die Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz sind da auch noch ein Stück weitergewachsen. Da haben wir ganz entscheidende Fortschritte gemacht. Aber wir sind noch lang nicht in dem Bereich, wo man transformatorische Kreativität erreicht. Wobei ich als Informatiker nie sagen würde ‚Das geht nicht.‘ Im Moment ist es nicht zu sehen, aber es ist nicht unmöglich.
Wir haben hier etwas erlebt, das ist jenseits unseres Denkhorizonts …
Alle, die sich mit Künstlicher Intelligenz beschäftigen, kommen zu dem Punkt, wo ihnen irgendwann die Kinnlade runterfällt. Das bekannteste Beispiel, das wir kennen, ist die GO-Geschichte, wo Google eine AI [Artificial Intelligence, AKS] entwickelt hat und dann haben sie gegen die GO-Meister gespielt. Es war die gesamte Weltelite des GO versammelt. Und irgendwann hat die Maschine einen Zug gemacht, wo alle sagten ‚Das war’s aber. Das war total bescheuert.‘ Und dreißig Züge später war das der entscheidende Zug, der dazu geführt hat, dass die Maschine gewonnen hat. Und da ist ihnen die Kinnlade heruntergefallen, weil sie gespürt haben ‚Wir haben hier etwas erlebt, das ist jenseits unseres Denkhorizonts, völlig jenseits. Ich kann mir das nicht mehr vorstellen, aber die Maschine hat’s kapiert.‘ Das ist der Punkt, wo wir gerade jetzt sind. Kreativität und Problemlösungen in relativ eng begrenzten Bereichen, aber jenseits unserer Vorstellungskraft. Aber die Firmen arbeiten unablässig daran, das auszuweiten. Transformer. Neuronal Networks. Domänentransfer. Ich würde sagen, wir sind schon an einem Schritt in Richtung transformatorischer Kreativität.
Liat Grayver: Um diese Transformation zu machen, muss man Muster – pattern – erkennen. Und wenn man diese Muster sieht, ist es eigentlich egal, in welchen Bereich gehören. Dann kann man das übertragen.
Oliver Deussen: Das ist das, was wir machen.
Liat Grayver: Genau. Das ist der Grund, warum ich überhaupt mit Informatikern zusammenarbeiten will und warum ich das spannend finde. Das ist eine andere Perspektive auf Fragen, die sich so ähnlich auch im Kunstbereich stellen. Zwar kann man sagen, wir arbeiten nur mit Farben und Strichen, während große Unternehmen soziale Technologien entwickeln. Ist das nicht ein bisschen irrelevant, sich da noch mit Bildern zu beschäftigen? Aber wenn ich über die Struktur nachdenke, was überhaupt diese Bilder, diese Prozesse zeigen, dann sind es diese Fragen das Muster. Es ist die Frage, wie wir mit Technologie arbeiten, wie wir unsere Körper, unsere Vernunft, unsere Seelen, unsere Grenzen wirklich verstehen, also wie wir eigentlich mit einer Maschine kommunizieren.
Was: Ausstellung „InComputable Imagery: Den Pinselstrich neu erfinden“ von Liat Grayver, Artist in Residence des Kulturwissenschaftlichen Kollegs Konstanz, im Zusammenspiel mit dem Malroboter e-David. Wann: Bis Sonntag, 5. Dezember 2021. Geöffnet Dienstag bis Freitag 10-18 Uhr; Samstag und Sonntag 10-17 Uhr, mit zusätzlichem Livestream unter: incomputable.de/InComputable-Imagery-DE/. Wo: Kulturzentrum am Münster, Richental-Saal; Wessenbergstraße 43, 78462 Konstanz. Es gilt die 2G-Pflicht.
Text: Albert Kümmel-Schnur. Die Fotos wurden von der Agentur Kameradinnen aus Konstanz gemacht.