Im Dialog mit der Maschine (Teil III)

Im Richental-Saal des Kulturzentrums am Münster ist noch bis zum 5. Dezember eine Ausstellung zu sehen, die in Zusammenarbeit der Künstlerin Liat Grayver mit dem Malroboter e-David der Arbeitsgruppe Visual Computing der Universität Konstanz und dem Informatiker und Graffitikünstler David Berio entstanden ist. Ein Gespräch mit Liat Grayver, Oliver Deussen und Marvin Gülzow über „InComputable Imagery. Den Pinselstrich neu erfinden“.

Lesen Sie hier Teil I und hier Teil II dieses Gesprächs.

Je länger ich mich mit den Macher:innen dieser Ausstellung unterhalte, desto deutlicher wird mir, dass es tatsächlich um sehr grundsätzliche Fragen geht, die in einer extrem eleganten, sehr leichten ästhetischen Form gestellt werden. Jeden Tag kommunizieren wir mit Maschinen, aber wir reflektieren selten, was wir da tun. Die Eigenlogik der Algorithmen, die wir Tag für Tag verwenden, um unserer Arbeit nachzugehen – und es gibt kaum noch eine Arbeit, die nicht in irgendeiner Weise durchsetzt ist von computergesteuerten Prozessen und sei es nur, dass es um die Zuweisung von Zeitfenstern für die Pflege alter Menschen oder die Taktung der monatlichen Müllabfuhr und die Zuordnung von Arbeiter:innen zu Schichtplänen geht. Während wir tun, was wir tun, tun die Maschinen auch, was sie tun – und eben oft genug mit uns. Die Ausstellung gibt uns eine Möglichkeit, dieses Tun zu überdenken. Oder besser: dieses Lassen, dieses Fehlen einer Kommunikation auf Augenhöhe zwischen Mensch und Maschine sowie Menschen, die Maschinen programmieren, und Menschen, die diese Programme nutzen.

[the_ad id=“82653″]

Aus diesem Grund ist es von zentraler Bedeutung, dass in der Ausstellung auch tatsächlich eine malende Maschine von sehr großer Präsenz steht. Ein Kubus aus Aluminiumrahmen und Glasscheiben schützt ein System aus einem weißen Roboterarm, zwei Kameras, einer Malfläche, über die Papier von einer Rolle gezogen wird, um hinten aus dem Kubus wie aus einem Drucker wieder auszutreten. Manchmal staut es sich dort, dann muss jemand Hand anlegen, das Papier lockern, vorsichtig ziehen, sodass es wieder fließen kann. An der Vorderseite befinden sich drei Bildschirme, auf denen man sehen kann, was der Roboter sieht. Man sieht schwarz auf weiß, was er gemalt hat, und man sieht in einer leuchtend violetten Spur, welche Form er in dem Gemalten erkennt, und kann dann zusehen – und zwar sowohl in der Realität als auch auf dem Bildschirm – wie das nächste Bild, die nächste Tintenspur auf dem Papier gemalt wird.

Die Maschine ist selbsttätig nur im Unfall.

Der Pinsel hebt sich, taucht in einen Glasbehälter mit tintengefärbtem Wasser, streift überschüssige Flüssigkeit elegant am Glasrand ab und führt eine Bewegung auf dem Papier aus. Allerdings kann man auch sehen, was der Roboter eben nicht sieht, was aber jedes Schulkind weiß: wenn der Roboter die Pinselhaare am Glasrand abstreift, dann simuliert diese Bewegung nur die Bewegung, die ein malender Mensch machen würde. Denn weder ist dem Roboter bewusst, wieviel Farbflüssigkeit er abstreifen muss, um ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen, noch weiß er, dass die Bewegung des Pinsels am Rand des Wasserbehältnisses entlang auch der Formung des Pinsels zu einer schönen Spitze dient. Teilt sich die farbtropfende Pinselspitze, entstehen eben nicht eine, sondern zwei Striche. Dem Roboter ist das gleichgültig. In der doppelten Pinselspur entdeckt er einfach eine neue Form, die zur Basis des nächsten Striches wird. Der Roboter malt immer drei Elemente nebeneinander, dann wird das Papier weitertransportiert und drei neue Elemente entstehen. Nach einer gewissen Zeit wird die so bemalte Rolle abgeschnitten und an die Wand gehängt.

Albert Kümmel-Schnur: Was passiert, wenn man den einfach laufen lässt? Es gibt den schönen Satz des Wiener Technikphilosophen Wolfgang Pircher „Die Maschine ist nur selbsttätig im Unfall“.

Oliver Deussen: Dem würde ich nicht zustimmen. Eigenaktivität im Unfall bedeutet ja, dass die Maschine auf etwas reagieren muss, was sie vorher nicht programmiert bekommen hat. Das ist aber nur dann der Fall, wenn die Maschine vorher einfach Sachen ausgeführt hat. Hier bei uns gibt es ja laufend Unfälle in dem Sinne, dass der Pinselstrich nicht genauso ist, wie es die Maschine erwartet. Das heißt, sie muss in jedem Schritt wieder neu darauf reagieren, was jetzt tatsächlich passiert. Das sind ganz viele kleine Unfälle, viele kleine Verwackelungen, mal zu viel Farbe, mal zu wenig Farbe. Die Maschine muss laufend eigenkreativ entscheiden – in einer sehr begrenzten Auffassung von ‚Kreativität‘ –, wie sie sich die Fehler zunutze macht.

Wann ist ein Bild ein ‚Bild‘?

Liat Grayver: Aber ich würde Fehler eher als Elemente eines organischen Prozesses beschreiben. Es geht um die Balance eines mechanischen und eines organischen Prozesses. Deshalb haben wir dieses Projekt am Pinselstrich entlang entwickelt. Das ist der allerorganischste Moment beim Malen eines Bildes. Da unterscheide ich Bilder von Gemälden.

Albert Kümmel-Schnur: Wann ist ein Bild ein ‚Bild‘? Ein Mensch entscheidet irgendwann, dass ein Bild fertig ist. Da kommt Urteilskraft dazu.

Oliver Deussen: Absolut.

Albert Kümmel-Schnur: Wie ist das hier? Wann hört die Maschine auf?

Liat Grayver: Das ist eine Gesellschaftsfrage, eine Kontextfrage …

Albert Kümmel-Schnur: … wann hört diese Maschine auf?

Liat Grayver: Die hört auf, wenn Feierabend ist (lacht).

Oliver Deussen: Die würde immer weitermalen. Irgendwann wird natürlich das Papier weitergeschoben, dann ist das Element fertig gemalt. Grundsätzlich ist die Frage, wann ein Bild fertig ist, eine der Grundfragen jedes künstlerischen Prozesses.

Liat Grayver: Wir halten einfach immer nur gute Zustände. Ich kann immer weitermalen. Immer eine neue Formation finden.

Dieser Prozess führt eben nicht zu einer Synthese. Er zeigt, organisiert und sistiert Bewegung. Dieser Prozess verstreut sich über viele, viele Akteure, menschliche wie nichtmenschliche, Werkzeuge wie Maschinen, die innerhalb gewisser Grenzen selbsttätig sind. Und im Grunde muss man ja den Rezeptionsprozess hinzunehmen. Das gilt hier in einem ganz radikalen Sinne: erstens bekommen Besucher:innen schlicht und ergreifend andere Bilder zu sehen. Zunehmend bedecken Bahnen der vom Roboter bemalten Papierrolle die hintere Wand des Richentalsaals. Zweitens kennt niemand die Bilder, die beim Betrachten der ausgestellten Pinselspuren in den Köpfen der Betrachter:innen entstehen. Die Rolle lässt sich ja lesen wie ein Text von links oben nach rechts unten, Zeichen für Zeichen. Man sieht, wie sich Elemente zu einer größeren Konstellation zusammenfügen, auch wenn es nicht beendbar ist. „Was nie geschrieben wurde, lesen.“ Hugo von Hofmannsthal lässt diese Worte den Tod in seinem Drama „Der Tor und der Tod“ von 1893/94 über den verstorbenen Künstler Claudio sagen. Im Kontext lautet die Stelle:

Wie wundervoll sind diese Wesen,
Die, was nicht deutbar, dennoch deuten,
Was nie geschrieben wurde, lesen,
Verworrenes beherrschend binden
Und Wege noch im Ewig-Dunkeln finden.

Vielleicht muss man sich so einen gelungenen Dialog mit einer Maschine vorstellen, der vielleicht sogar ein Modell des Sprechens von Menschen miteinander: Kommunikation ist eigentlich nicht Verstehen, sondern das Finden produktiver Anschlüsse. Maschinen können nicht über das Medium „Sinn“ kommunizieren. Aber vielleicht ist „Sinn“ ja auch nur eine menschliche Bezeichnung für eben den Prozess, den uns der Roboter vorführt.

Liat Grayver: Bilder sind heute zu einer selbstverständlichen Ware geworden. Man nimmt sich nicht mehr die Zeit, sie zu lesen. Der Malprozess der Maschine erschafft Zeit. Es braucht Zeit. Ich kann nicht einfach auf einen Knopf drücken und die Erwartung haben, die Maschine wird schon den Rest für mich machen. Ich wollte einen Dialog und möchte die Menschen daran hindern, die Maschine als Zauberinstrument zu sehen, das Menschen und Künstler:innen einfach ersetzen kann. Es geht um den Möglichkeitsraum, den die Maschine öffnet. In vielen Kulturen hat das Bild nicht den ökonomischen Wert, den es für uns hat. Ornamente sind keine eigenständigen Bilder, sie sind Teil der Architektur, Teil des Handwerks, Teil eines Glaubenssystems. Das ist das, was ich hier zeigen möchte. Technologie als ein Glaubenssystem, ein Vorstellungsrahmen (mindset) in seiner traditionellen und gegenwärtigen Form. Technologie als eine Erweiterung unserer Körper und unseres Geistes. Es interessiert mich sehr, wie Menschen auf meine Arbeit reagieren. Ich möchte, dass Menschen hierherkommen und den Raum erfahren. Dass dieser Raum sie auf eine Reise einlädt, während das eine Element sich zum anderen bewegt. Es geht nicht darum, etwas zu entschlüsseln, eine Geschichte etwa oder eine Bedeutung.

Was: Ausstellung „InComputable Imagery: Den Pinselstrich neu erfinden“ von Liat Grayver, Artist in Residence des Kulturwissenschaftlichen Kollegs Konstanz, im Zusammenspiel mit dem Malroboter e-David. Wann: Bis Sonntag, 5. Dezember 2021. Geöffnet Dienstag bis Freitag 10-18 Uhr; Samstag und Sonntag 10-17 Uhr, mit zusätzlichem Livestream unter: incomputable.de/InComputable-Imagery-DE/. Wo: Kulturzentrum am Münster, Richental-Saal; Wessenbergstraße 43, 78462 Konstanz. Es gilt die 2G-Pflicht.

Text: Albert Kümmel-Schnur. Die Fotos wurden von der Agentur Kameradinnen aus Konstanz gemacht.