Im Schoß der Kirche

Ein Fall aus dem Kloster Birnau am Bodensee zeigt, wie dramatisch die katholische Kirche jahrzehntelang im Umgang mit sexuellem Missbrauch versagt hat. Statt der Kinder schützte sie vor allem sich selbst. Auch Ermittlungsbehörden interessieren sich jetzt wieder dafür. Michael Lünstroth hat in seinem zuerst in der Kontext-Wochenzeitung erschienenen Beitrag den Leidensweg eines Opfers aufgezeichnet.

Es gab eine Zeit, da hatte Jürgen S.* (im Bild oben, vor den Mauern des Zisterienzerklosters Birnau) das Gefühl, verrückt zu werden. Da waren all diese verstörenden Bilder in seinem Kopf. Das Fenster. Der verschwommene Himmel dahinter. Die voll besetzte Kirche. Der Schoß des Paters. Der raue Stoff der Mönchskutte auf seinem Schenkel. „Was ist wahr? Was bilde ich mir ein? Manchmal hatte ich Angst, ich könne mir selbst nicht mehr trauen“, sagt der heute 61-Jährige.

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Rückblende in den Spätherbst 2006. Nach einigen schwierigen Jahren im Dienst beginnt Kriminalhauptkommissar Jürgen S. eine Therapie. Die damalige Diagnose: Burnout. In den Sitzungen kommt Stück für Stück eine ganz andere, lange verdrängte Wahrheit heraus: S. ist im Alter von neun Jahren als Ministrant im Kloster Birnau missbraucht worden. Mehr als 50 Mal und das über fast zwei Jahre lang. Immer zwischen den Messen am Sonntag, manchmal auch samstags, wenn gerade eine Hochzeit war.

Der damals 26-jährige Pater Gregor Müller lockt ihn mit Briefmarken auf sein Zimmer. Dort hebt er den Buben auf seinen Schoss, greift in die Hose des Jungen und redet dabei von Ehevorbereitungen und Problemen bei Vorhautverengungen. „Er hat gesagt, er könne das heilen durch Handauflegen. Ich hatte als Bub keine Ahnung, was da passierte, ich ließ es einfach geschehen“, sagt S. heute. Der 61-Jährige, weiße Schläfen, wache Augen, drei tiefe Falten auf der Stirn, hat gelernt, über seinen Missbrauch zu reden. Seine Stimme bleibt dabei fest. Sie überschlägt sich nur etwas, wenn er sich über die Kirche aufregt.

Im Dezember 2006 meldet Jürgen S. seinen Fall der Erzdiözese Freiburg. Wenige Tage später bekommt er einen handgeschriebenen Brief des Täters, in dem dieser sich entschuldigt. S. entscheidet, dass er mit dem Pater reden will, „um ihm zu sagen, was für ein Schwein er war.“ Also ruft er ihn an. Der Geistliche redet sich raus. Sagt, es tue ihm leid, und es sei ein einmaliger Ausrutscher gewesen. Zu dem Zeitpunkt ahnt Jürgen S. bereits, dass das nicht stimmen kann: Auch andere Ministranten hatten Briefmarken vom Pater bekommen. S. legt auf. Danach wendet er sich noch einmal an die Erzdiözese Freiburg: Er bittet um Aufklärung und vertraut darauf, dass sich jemand kümmern wird.

Er will Aufklärung und bekommt nur ausweichende Antworten

Vier Jahre lang wird er danach nichts mehr davon hören. Weil seine eigene Ehe in Trümmern liegt, schiebt auch Jürgen S. das Thema einstweilen zur Seite. Erst als er 2010 Berichte über die Missbrauchsfälle im Berliner Canisius-Kolleg liest, fängt alles wieder von vorne an. Da sein Fall strafrechtlich verjährt ist, strengt er eine Kirchenklage unter anderem gegen den Täter und den damaligen Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch an. Die Erzdiözese Freiburg ist ihm dabei keine große Hilfe. S. will Aufklärung und bekommt nur ausweichende Antworten.

Jürgen S. als Ministrant in der Birnau. Foto: privat

Nicht mal die Zuständigkeit ist klar, denn das Zisterzienserkloster Birnau, einige Kilometer südöstlich von Überlingen im Bodenseekreis gelegen, ist eine Besonderheit: Es liegt zwar auf dem Territorium der Erzdiözese Freiburg, untersteht aber der Abtei Wettingen Mehrerau in Österreich. Freiburg stellt sich auf den Standpunkt, der Täter Pater Gregor Müller habe zwar auf dem Gebiet der Erzdiözese gearbeitet, aber nicht für die Erzdiözese. Da also kein „Dienstverhältnis“ bestand, begnügt man sich 2006 damit, die Informationen über Pater Gregor an die Abtei Mehrerau weiterzuleiten. Dort passiert dann nicht mehr viel: „Vorhandenes Wissen über möglichen sexuellen Missbrauch wurde in früheren Jahren von den damals Verantwortlichen nicht weitergegeben“, räumt die Abtei auf Anfrage inzwischen ein.

Jürgen S. weiß das 2010 noch nicht und beginnt, selbst zu recherchieren. Er rekonstruiert den beruflichen Weg seines Peinigers: Vom Kloster Birnau wird Pater Gregor zurück nach Mehrerau beordert, es folgen Stationen in Oelenberg (Elsass), Himmerod (Eifel) und Baden (Bistum Basel). Mittlerweile steht fest: An fast all diesen Stationen missbrauchte er weitere Kinder.

Das hätte verhindert werden können. Spätestens seit Dezember 1968, das räumt auch die österreichische Abtei heute ein, weiß der damalige Abt Kassian Lauterer um die pädophilen Neigungen seines Paters. Er suspendiert ihn aber nicht, sondern versetzt ihn immer wieder nur von einem Ort zum anderen. Ob die jeweiligen Pfarrgemeinden über Pater Gregors Vergangenheit vorab informiert wurden, sei heute „nicht mehr ganz zu rekonstruieren“, erklärt die Abtei auf Nachfrage.

Niemand stoppte den Wiederholungstäter

Niemand verhindert jedenfalls, dass Pater Gregor von 1987 bis 1992 erneut im Kloster Birnau tätig wird. Als Jürgen S. das 2010 herausfindet, fordert er die Staatsanwaltschaft Konstanz auf, zu ermitteln. Er geht davon aus, dass es weitere Missbrauchsfälle gibt. Die Staatsanwaltschaft lehnt aber wegen Verjährung möglicher Fälle ab. Und auch die Erzdiözese Freiburg und die Abtei Mehrerau verhalten sich still. Es gibt keine Aufrufe und Erklärungen, dass sich mögliche Opfer melden können.

Jürgen S. recherchiert weiter und findet heraus, dass die Seelsorgeeinheit Meersburg vor Pater Gregors zweitem Aufenthalt im Kloster Birnau nicht über dessen Neigungen informiert wurde. Auf die Frage, wie all das passieren konnte, erklärt die Abtei Mehrerau auf Nachfrage lediglich, dass „der Umgang mit Tätern und Opfern sexuellen Missbrauchs vor Jahrzehnten nicht adäquat“ gewesen sei. Die Erzdiözese Freiburg verweist darauf, dass sie zum Zeitpunkt der zweiten Versetzung Pater Gregors ins Kloster Birnau nichts über dessen Taten gewusst habe und ohnehin keinen Einfluss auf die Besetzung des Klosters gehabt hätte. Dies sei Sache der Abtei gewesen.

Das Versagen der Kirche zeigt sich auch an anderen Stellen: 2010, vier Jahre nach dem Geständnis des Täters, hat Pater Gregor noch immer Zugang zu Kindern. Inzwischen im schweizerischen Schübelbach im Bistum Chur. Jürgen S. kann es nicht glauben, als er das im März 2010 erfährt. Er fordert Freiburg und Mehrerau auf zu handeln. Nichts passiert. Erst als er damit droht, künftig jeden Sonntag vor der Kirche in Schübelbach mit einem Schild „Hier zelebriert ein Kinderschänder“ zu demonstrieren, bewegt sich etwas.

S. telefoniert auch noch einmal mit Pater Gregor, drängt ihn zum Rücktritt und dazu, sich öffentlich zu seinen Taten zu bekennen. Jetzt handelt auch die Abtei. Pater Gregor wird suspendiert und ihm wird fortan jede seelsorgerische Tätigkeit untersagt. Die Abtei leitet ein kirchenrechtliches Verfahren gegen Pater Gregor bei der vatikanischen Glaubenskongregation ein. Sieben Jahre später wird es nach dem Tod des Paters im Mai 2017 ohne Ergebnis abgebrochen.

Dass auch seine Klage gegen den Täter nach dessen Tod eingestellt wurde, bekommt Jürgen S. eher zufällig mit. Es ist diese Beiläufigkeit, die den ehemaligen Polizisten so wütend macht. „Ich hatte nie das Gefühl, dass die Kirche mich ernst nimmt“, sagt S. heute. Allein der Mailverkehr zwischen der Kirche und ihm beläuft sich in diesen Jahren auf 150 Seiten. Darunter auch eine Strafanzeige gegen den früheren Erzbischof Robert Zollitsch – wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauch. Das Verfahren wird eingestellt. 150 Seiten – und trotzdem passiert nicht wirklich etwas. Für S. ist das eine emotionale Katastrophe: „Was ich als Kind erlebt habe, war schlimm. Aber da konnte ich mich nicht wehren. 2010 diese Ohnmacht wieder zu erleben, obwohl ich dachte, ich könnte mich jetzt wehren, das war mindestens genauso schlimm.“

Mehr Worte als Taten gab es von der Kirche

Die Erzdiözese verweist darauf, dass sie Jürgen S. 2006 auch geholfen habe: Mit Gesprächsangeboten, 5000 Euro als „Anerkennung erlittenen Leids“ sowie Angeboten zur Therapie- und Anwaltskostenübernahme. Aber das, was Jürgen S. sich am dringlichsten wünscht, gibt es lange nicht: Gerechtigkeit und Konsequenzen innerhalb der Institution Kirche. „Ich will endlich Taten sehen. Die Kirche muss sich von allen Tätern und Vertuschern trennen, die Taten öffentlich benennen und die Täter bestrafen“, fordert S.

In den vergangenen Jahren gab es mehr Worte als Taten. Die Deutsche Bischofskonferenz hat eine Studie zu sexuellem Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige in Auftrag gegeben. Das Ergebnis: Von 1946 bis 2014 wurden 3677 Kinder missbraucht, es gab mehr als 1600 Täter. Auch das Erzbistum Freiburg arbeitet das Thema weiter auf. Erzbischof Stephan Burger hat eine Kommission „Macht und Missbrauch“ eingesetzt, die auch die Vorgänge im Kloster Birnau aufklären soll. Die Kommission soll zudem die Frage klären, ob die Erzdiözese strafrechtliche Schritte gegen Missbrauchs-Täter und Vertuscher einleitet.

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Wird jetzt also endlich aufgeklärt in der Kirche? Jürgen S. ist skeptisch. Dem Freiburger Erzbischof Stephan Burger nimmt er die Rolle des Ober-Aufklärers nicht ab. S. hat ihn anders kennengelernt. Als er die Erzdiözese 2010 um Hilfe bei seiner Kirchenklage bittet, ist es Burger, der ihm in seiner damaligen Funktion als Offizial antwortet. In seiner E-Mail listet Stephan Burger vor allem Dinge auf, die gegen eine Klage sprechen. Um eine eigene Klage gegen den Täter oder Verantwortliche in der Erzdiözese will sich Freiburg gar nicht erst bemühen. S. empfindet Burger als kühl und abweisend. Einen weiteren Kontakt mit dem Offizial gibt es im Juni 2010. In einer E-Mail bittet Jürgen S. zu prüfen, ob eine Neuweihung der Kapelle Nußdorf (bei Überlingen) möglich sei. Hinter dem dortigen Altar missbrauchte Pater Gregor Ende der 1960er Jahre einen weiteren Jungen. Stephan Burger lehnt die Neuweihung ab: „Nachdem die von Ihnen dargelegten Vorgänge sich auf einen größeren zurückliegenden Zeitraum beziehen, damals nicht öffentlich bekannt waren und zwischenzeitlich die Gottesdiensträume unzählige Male für weitere Gottesdienste genutzt wurden, macht im Nachhinein ein Bußritus im Blick auf die Räumlichkeiten keinen Sinn mehr.“

Verdacht auf Strafvereitelung: Strafanzeige gegen Erzbischof Burger

Nein, Jürgen S. glaubt nicht mehr daran, dass die Kirche wirklich bereit ist, sich zu ändern: „Das einzige, was die Kirche in den vergangenen Jahren gelernt hat, ist, dass sie eine bessere Pressearbeit machen muss. Sie verkauft sich jetzt besser. Sonst passiert nichts.“

Seinen Kampf um Gerechtigkeit gibt er trotzdem nicht auf. Im Februar 2019 reist er nach Rom, um eine weitere Kirchenklage unter anderem gegen Erzbischof Burger und dessen Vorgänger Robert Zolltisch direkt im Vatikan vorzubringen. Damit nicht genug: Weil auch in den Archiven der Erzdiözese Freiburg Akten zu sexuellem Missbrauch manipuliert oder vernichtet wurden, hat S. zwei Strafanzeigen bei der Staatsanwaltschaft Freiburg gegen das Bistum gestellt. Eine richtet sich allgemein gegen Verantwortliche der Erzdiözese wegen Urkundenunterdrückung. Das ist die juristische Bezeichnung für Aktenmanipulation und -vernichtung. Die zweite ist persönlich adressiert. Sie richtet sich gegen Erzbischof Burger. Tatbestand: Verdacht der Strafvereitelung. S. vermutet, dass Burger schon früher von den Säuberungsaktionen in den Archiven gewusst haben könnte, als er bislang öffentlich einräumte. Beide Verfahren laufen.

Ob ihm das am Ende die Ruhe bringen wird, die er sich für sein Leben wünscht? Jürgen S. zuckt mit den Schultern. Er weiß es nicht. Eines weiß er aber sicher: Er will der Kirche endlich die Macht entreißen, über sein Leben zu bestimmen.

Michael Lünstroth (Text & Teaser-Foto)


* Der Redaktion ist der richtige Name von Jürgen S. bekannt. Um in Zukunft nicht über Internetsuchmaschinen gefunden werden zu können, hat er darum gebeten, seinen Namen nicht vollständig zu nennen.

Die Missbrauchsgeschichte von Jürgen S. haben auch Mona Botros und Thomas Schneider in ihrer Reportage „Schuld ohne Sühne?“ beleuchtet, die in der ARD am 18. Februar lief. Das Foto ganz oben stammt daraus. Hier lässt sich die Reportage in der ARD-Mediathek nachschauen.