In aller Deutlichkeit
Elf Aktenordner voller Beweismaterial lassen sich nicht mit einem „Nein, ich war das nicht“ entkräften: Seit vergangenem Mittwoch darf Kontext wieder den Namen eines rechtsextremen Landtagsmitarbeiters nennen und dessen menschenverachtende Äußerungen zitieren. Das bundesweit beachtete Urteil stärkt die Wächterfunktion der Presse, meint Kontext-Redakteur Minh Schredle.
Inmitten der größten Oppositionspartei im baden-württembergischen Landtag tobt vor dem Heidenheimer Parteitag am kommenden Wochenende ein erbitterter Richtungskampf zwischen rechtspopulistisch und rechtsradikal. Wie am Montag bekannt geworden ist, wollen mit den Landtagsabgeordneten Christina Baum und Emil Sänze zwei Personen um Posten im Landesvorstand der AfD kandidieren, die zu den treibenden Kräften hinter dem sogenannten Stuttgarter Aufruf zählen. Nach Einschätzung der „Zeit“ finden sich unter 60 Erstunterzeichnern „Angehörige rechtsradikaler Burschenschaften oder Mitglieder, die sich offen rassistisch äußern“.
Christina Baum selbst bezeichnet beispielsweise die Flüchtlingspolitik der Grünen als einen „schleichenden Genozid an der deutschen Bevölkerung“ und nach Einschätzung des Bundesamts für Verfassungsschutz bedient sie sich bei ihren Äußerungen teils den „üblichen rechtsextremistischen Mustern“. In dem 436 Seiten umfassenden Gutachten der Behörde, das die AfD zum Prüffall erklärt und das ausschließlich auf öffentlich zugänglichen Informationen basiert, wird auch ein Mitarbeiter Baums namentlich erwähnt: Marcel Grauf, dessen Verbindungen zur NPD die Verfassungsschützer beschäftigen.
Vor Gericht allerdings versichert Grauf eidesstattlich, fest auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu stehen. Und in der ersten Instanz, vor dem Landgericht Mannheim, kam er damit durch.
Im Mai 2018 berichtete Kontext erstmals über absolut menschenverachtende Äußerungen, die einem Facebook-Profil zu entnehmen sind, das unter Pseudonym geführt wurde und Marcel Grauf zuzuordnen ist. Der Redaktion wurde eine über vier Jahre andauernde Korrespondenz zugespielt, in der Grauf seine Verehrung für Adolf Hitler und Benito Mussolini zum Ausdruck bringt. Chat-Nachrichten mit NPD-Funktionären, AfD-Mitgliedern, Burschenschaftlern und Neurechten. Intime Details aus Graufs Privatleben gehen die Öffentlichkeit nichts an. Allerdings – und das ist die feste Überzeugung der Redaktion, für die sie einen Rechtsstreit in Kauf genommen hat – ist es nicht nur gerechtfertigt, sondern geboten, einzelne Auszüge daraus dann öffentlich zu machen, wenn ein Mensch, der als Mitarbeiter im Landtag Zugang zu vertraulichen Informationen und den Sicherheitszonen des Parlaments hat, seinen Wunsch nach einem „Bürgerkrieg mit Millionen Toten“ bekundet und bei seiner Verhaftung „knietief im Blut stehen“ will: „Frauen, Kinder. Mir egal. Hauptsache es geht los. (…) Tote, Verkrüppelte. Es wäre so schön. Ich will auf Leichen pissen und auf Gräbern tanzen. SIEG HEIL!“, schreibt Grauf.
Zwei Wochen nach der Veröffentlichung des ersten Berichts folgte ein zweiter Kontext-Artikel, der sich mit den Reaktionen darauf im baden-württembergischen Landtag befasste. Schließlich verschärfte das Parlament auf Basis unserer Berichterstattung über Grauf seine Hausordnung.
Christina Baum, die Grauf gemeinsam mit dem AfD-Abgeordneten Heiner Merz beschäftigt, verteidigte ihren Mitarbeiter, bezeichnete dessen Vergangenheit als irrelevant und die Berichterstattung als Versuch, die AfD zu diskreditieren. Grauf selbst zog vor Gericht und beantragte den Erlass einer einstweiligen Verfügung. Er sah sein Persönlichkeitsrecht verletzt, wollte lieber anonym bleiben und behauptete eidesstattlich, die ihm zugeschriebenen Äußerungen würden nicht von ihm stammen. Es müsse sich um Fälschungen handeln.
Warum löschte er sein Profil?
Die Anwälte von Kontext, Markus Köhler und Ingwert Müller-Boysen, legten elf Aktenordner vor, um die Authentizität der Chat-Protokolle zu beweisen. Material in einem Umfang, den Matthias Stojek in einem Eilverfahren für „nicht nachvollziehbar“ hielt. Der Vorsitzende Richter am Mannheimer Landgericht wünschte sich in der mündlichen Verhandlung am 2. August 2018 lieber „ausgewählte tragfähige Argumente“. Einen Tag später erließ er eine einstweilige Verfügung, die es Kontext untersagte, weiterhin identifizierend über Marcel Grauf zu berichten und ihm die strittigen Aussagen zuzuschreiben.
In der Urteilsbegründung, die knapp zwei Monate auf sich warten ließ, steht später, die Kontext-Redaktion habe „der erkennenden Kammer nicht mit dem für eine Glaubhaftmachung ausreichenden Maß an Wahrscheinlichkeit die Überzeugung vermittelt (…), dass diese Äußerungen tatsächlich vom Kläger getätigt worden sind.“ Die Möglichkeit einer Manipulation vermöge die Kammer nicht zu beurteilen. Letztlich stehe damit eine eidesstattliche Versicherung des Klägers gegen eine anonyme Quelle.
In der Berufungsverhandlug kam das Oberlandesgericht Karlsruhe zu einer grundlegend anderen Beurteilung. Nach Prüfung des Materials urteilte der Senat unter Vorsitz von Richter Andreas Voß: „Das Gericht sieht es als hinreichend glaubhaft gemacht an, dass die im Rechtsstreit vorgelegten Chat-Protokolle authentisch sind.“ Es sei „überwiegend wahrscheinlich, dass der Kläger sich in der zitierten Weise menschenverachtend, rassistisch und demokratiefeindlich geäußert hat und früher NPD-Mitglied gewesen ist, wie er dies gegenüber verschiedenen Chat-Partnern selbst angegeben hatte.“
In der mündlichen Verhandlung erkundigte sich Richter Voß bei Grauf, warum dieser nur wenige Tage nach dem ersten Kontext-Bericht sein Facebook-Profil gelöscht hat. Wenn es darum ginge, eine Manipulation nachzuweisen, wäre dies ein leichtes, wenn sich das Original vorlegen ließe. Zudem stellte Voß fest, dass offenbar keiner der dutzenden (und befreundeten) Gesprächspartner ebenfalls eine Versicherung an Eides statt abgeben wollte, dass die Unterhaltungen mit Grauf so nicht stattgefunden hätten.
Während der Mannheimer Richter Stojek den Fall in der mündlichen Verhandlung als „lahme Ente“ abtat und sich wunderte, weswegen so viele Pressevertreter anwesend waren, ist es für andere offenbar von Relevanz, wenn stramme Faschisten in deutschen Parlamenten ein- und ausgehen – was sich unter anderem am großen Medieninteresse an dem Fall verdeutlicht.
Einschüchterungsversuchen nicht nachgeben
Richter Voß kam jedenfalls zu der Bewertung, das Informationsinteresse der Öffentlichkeit und das Recht der Redaktion auf Meinungs- und Medienfreiheit überwiegen das Interesse des Klägers am Schutz seiner Vertraulichkeitssphäre. „Denn mit Rücksicht auf die Diskussion um rechtsextreme Bestrebungen im Umfeld der AfD leisten die beanstandeten Presseartikel einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage.“ Daher dürfe auch identifizierend über den Kläger berichtet werden und dieser beim Namen benannt werden. Auch um andere Landtagsmitarbeiter zu schützen, die unter einen Generalverdacht gerieten und deren Ruf in Mitleidenschaft gezogen würde, wenn nur allgemein von „einem Landtagsmitarbeiter“ die Rede wäre.
In großen Teilen der Medienbranche sorgte das deutliche Urteil des Oberlandesgerichts für Erleichterung. Hendrik Zörner, Pressesprecher des Deutschen Journalisten-Verbandes, sprach von einem „Signal an die Kolleginnen und Kollegen, dass sie den Einschüchterungsversuchen von AfD-Mitgliedern, -Mitarbeitern und -Anwälten nicht sofort nachgeben sollten“. Wie klagefreudig dieses Umfeld sein kann, verdeutlicht sich unter anderem an einer Reihe von Abmahnungen, die bei verschiedenen Redaktionen bundesweit eintrudelten: Für anwaltliche Post reichte es oftmals schon, Marcel Grauf als einen „AfD-Mitarbeiter“ zu bezeichnen. Denn zutreffend sei, dass er zwar der Mitarbeiter der AfD-Abgeordneten Christina Baum und Heiner Merz sei, aber kein Mitarbeiter der AfD-Fraktion und erst recht kein offizieller Mitarbeiter der AfD selbst.
Die Angst in Redaktionen, bereits wegen haarspalterischer Kleinigkeiten verklagt werden zu können, befördert die Schere im Kopf: Heikle Themen werden skeptischer angegangen oder ganz gemieden. Betriebswirtschaftlich rentiert sich das nicht, wenn ein einzelner Text im Fall eines verlorenen Prozesses fünf- oder sechsstellige Summen kosten kann. Ganz abgesehen von der psychischen Belastung, die auf AutorInnen und Redaktionen in einem möglicherweise langjährigen Rechtsstreit lastet.
Umso wichtiger ist es, solcherlei Auseinandersetzung nicht zu scheuen. Denn der Fall Grauf ist symptomatisch dafür, wie Neonazis und Faschisten demokratische Institutionen unterwandern. Die „besorgten Bürger“ sind für ihn ein Mittel zum Zweck. In einer Facebook-Nachricht an einen Freund verspottet er sie: „Die sagen tatsächlich dass sie ja keine Nazis sind. Gibt ein offenes Mikrophon. Hab gedacht ich äußere mich mal. Eröffnungsgag: ‚Immerhin haben wir jetzt so viele Ausländer im Land, dass sich ein Holocaust mal wieder lohnen würde.“
Solche Positionen und eindeutige Verbindungen in die rechtsextreme Szene sind keine Einzelfälle. Obwohl belastbare Informationen über diese Umtriebe öffentlich vorhanden sind, werden diese Personen weiterhin als Parteimitglieder der AfD oder in ihrem unmittelbaren Umfeld toleriert. Der Aufstand der angeblich gemäßigten Kräfte in der Partei blieb bislang aus – trotz regelmäßiger Radikalisierungsschübe wie bei den Spaltungsparteitagen 2015 (Lucke weg) und 2017 (Petry weg). Ob in Baden-Württemberg inzwischen die Rechtsextremisten rund um Christina Baum dominieren, wird sich am Wochenende in Heidenheim zeigen.
Grauf stellte im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung. Mit dem unanfechtbaren Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe ist das Eilverfahren beendet. Theoretisch bleibt dem Kläger die Möglichkeit, ein Hauptsacheverfahren zu eröffnen. Im Zweifelsfall würde dieses erneut vor dem Oberlandesgericht Karlsruhe landen und dort verhandelt werden.
Minh Schredle (zuerst erschienen bei Kontext: Wochenzeitung; Foto: H. Reile)