In Konstanz werden neun weitere Stolpersteine verlegt
Bis Ende 2021 verlegte die Initiative „Stolpersteine für Konstanz – Gegen Vergessen und Intoleranz“ für Verfolgte des NS-Regimes in Konstanz, Kreuzlingen und Tägerwilen bereits 260 Stolpersteine. Jüdinnen und Juden, politisch und religiös Verfolgte, NS-Eugenik-Opfer, Deserteure, Sinti und Roma und Homosexuelle erhielten so einen Erinnerungsort. Am 17. November 2022 werden nun neun weitere Steine hinzu kommen.
„Stolpersteine“ ist ein Kunstprojekt von Gunter Demnig. Der Kölner Künstler erinnert an die Opfer der NS-Zeit, indem er vor deren letzten selbstgewählten Wohnort pflastersteingroße Betonquader ins Trottoir einläßt, auf deren Oberseite aus Messing der Name und das Schicksal des Menschen, an den erinnert wird, zu lesen ist. „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, zitiert Gunter Demnig den Talmud. Mit den Steinen vor den Häusern hält er die Erinnerung an die Menschen lebendig, die einst hier wohnten. Ein Stein. Ein Name. Ein Mensch.
Stolpersteine gibt es mittlerweile in über 1.800 europäischen Kommunen; im April 2022 verlegte Demnig den 90.000sten Stolperstein. Zudem liegen mittlerweile mehr als 25 Stolperschwellen in Europa und eine in Buenos Aires (Argentinien), die in enger Zusammenarbeit mit der Initiative „Stolpersteine für Konstanz – Gegen Vergessen und Intoleranz“ verwirklicht wurde.
Die von einem breiten gesellschaftlichen Bündnis getragene Konstanzer Stolperstein-Initiative arbeitet seit 2005 an der Aufarbeitung von Biografien von Verfolgten des Nationalsozialismus. Jüdinnen und Juden, politisch und religiös Verfolgte, NS-Eugenik-Opfer, Deserteure, Sinti und Roma und Homosexuelle erhalten so durch die Stolpersteine einen Teil ihrer Identität zurück.
An Opfer des Nationalsozialismus wie Charlotte Letzelter erinnern
Eines der Opfer, an deren Schicksal am 17. November 2022 mit der Verlegung eines Steins erinnert werden soll, ist Charlotte Letzelter (1906–1940). Sie ist eine der 499 Frauen, die vom Konstanzer Erbgesundheitsgericht dazu verurteilt wurden, sich in einer komplizierten Operation (die reichsweit bei mehreren tausend Frauen tödlich verlief) unfruchtbar machen zu lassen. Und sie gehört zu jenen 508 PatientInnen der Heil-und Pflegeanstalt Reichenau, die im Rahmen des heute meist nach der Zentralstelle in der Berliner Tiergartenstraße 4 als „Aktion T4“ bezeichneten Mordprogramms vergast wurden.
Charlotte Letzelter wurde am 7. Dezember 1906 in Bolchen im damals zum Deutschen Reich gehörenden Lothringen geboren. Die Familie zog kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs nach Radolfzell, wo Charlotte die Realschule besuchte und später als Stenotypistin und Kontoristin arbeitete. In dieser Zeit fühlte sich die 27-jährige Frau oft überfordert – heute würden wir vielleicht von einem Burnout sprechen – und verbrachte deswegen drei Wochen in einem Sanatorium im Schwarzwald. Im Juli 1934 zog sie mit ihren Eltern nach Konstanz in die Blarerstraße 33. Sie klagte immer häufiger über Schlaflosigkeit und Angstzustände und war bei mehreren Ärzten zur Abklärung der Symptome.
Am 14. August 1934 wurde Charlotte Letzelter in die Heil- und Pflegeanstalt Reichenau aufgenommen – zu einer Zeit, als das am 14. Juli 1933 beschlossene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ bereits in Kraft getreten war. Darauf basierend stellte der Anstaltsleiter der Reichenau, Dr. Arthur Kuhn, am 27. September 1934 den Antrag auf ihre Unfruchtbarmachung. Als Begründung bescheinigte der Arzt – der am 1. Mai 1933 nicht etwa aus opportunistischen Gründen, sondern aufgrund innerer Überzeugung der NSDAP beigetreten war – die „Erbkrankheit“ Schizophrenie. Die Zwangssterilisation führte der leitende Chefarzt, Dr. Kurt Welsch, in der Konstanzer Frauenklinik in der Friedrichstraße 21 gegen den explizit geäußerten Willen der jungen Frau durch.
Drei Wochen später holte sie der Vater wieder nach Hause in die Blarerstraße. Da sich ihr seelischer und körperlicher Zustand weiter verschlechterte, folgten mehrere Einweisungen in die Anstalt Reichenau, die sie nach ihrer vierten Einweisung am 10. Juni 1937 nicht mehr verließ – bis sie dort am 17. Juni 1940 zusammen mit 90 weiteren Frauen einen der grauen Busse besteigen musste, der sie nach Grafeneck brachte. Dort wurde sie noch am selben Tag vergast.
Alle neuen Stolpersteine
Donnerstag, 17. November 2022:
Uhrzeit | Opfer | Verlegeort |
9.00 Uhr | Ricka und Ludwig Wolf | Rosgartenstraße 16 |
9.25 Uhr | Bella Stern | Obere Laube 73 |
9.45 Uhr | Alfred und Margarethe Spiegel | Obere Laube 48 |
10.05 Uhr | Charlotte Letzelter | Blarerstraße 33 |
10.25 Uhr | Alfred Sauter | Mangoldstraße 12 |
10.45 Uhr | Arthur Neuhaus | Brauneggerstraße 37 |
11.10 Uhr | Dr. Adolf Katzenellenbogen | Ruppanerstraße 13 |
13.00 Uhr | Maria Obergfell | Bärlappweg 7 |
13.30 Uhr | Frieda Hofgärtner | Friedrichstraße 30 |
13.55 Uhr | Lothar Frank | Altmannstraße 4 |
Das Begleitprogramm
Am Abend der Stolperstein-Verlegung findet um 19.30 Uhr im Seniorenzentrum (Obere Laube 38, 78462 Konstanz) die offizielle Übergabe der Stolpersteine an die Stadt Konstanz statt.
Im Anschluss daran referiert Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums Hohenems in Vorarlberg, über das hochinteressante regionale Erinnerungs-Projekt „Über die Grenze“: Seit Juli 2022 erinnern symbolische Grenzsteine an der Radroute Nr. 1 vom Bodensee bis zur Silvretta und eine Website mit Hörgeschichten an Geflüchtete und HelferInnen, Verfolgung und Behördenwillkür, Zivilcourage und menschlichen Mut. Ein Vortrag, auf den wir mit einem gesonderten Artikel noch besonders eingehen werden.
Weitere Informationen zur Stolpersteinverlegung finden sich hier auf der Seite „Stolpersteine für Konstanz – Gegen Vergessen und Intoleranz“.
Sabine Bade
(Teaserfoto mit freundlicher Genehmigung der Initiative)
Die Stolpersteine von Herrn Demnig sind in der Tat eine super Idee, damit Millionen ehemaliger Mitbürger, die deportiert und in Vernichtungslagern unter deutschem Namen ermordet wurden, nicht und niemals vergessen werden.
Ich habe kürzlich in Berlin eine kleine Stolperstein-Tour unternommen, zu Fuß und ganz für mich alleine. Wenn ich mich auf die Namen und Lebensdaten der Menschen konzentriere, die am Boden, gerade vor älteren, noch erhaltenen Wohnhäusern angebracht sind, konnte ich in eine tiefgründige Gedankenwelt eintauchen. Eine Übung, die ich allen empfehlen kann.