Integration: Viel Stimmungsmache

Rudy „Kuki“ Haenel begründete 1982 zusammen mit Studienkollegen die erste Konstanzer Anwaltskanzlei, die sich ausdrücklich zur Solidarität mit sozial und politisch benachteiligten Menschen verpflichtet. Einer seiner Arbeits­schwer­punkte ist das Migrationsrecht. seemoz sprach mit ihm über aktuelle juristische (Fehl-) Entwicklungen, die zunehmende Abschottung Europas gegenüber Flüchtlingen und was das alles mit Wahlkämpfen und Innenpolitik zu tun hat. – Erster Teil

Der politische Trend der letzten Wochen wendet sich stark gegen Flüchtlinge.
Ich habe in der letzten Woche zwei Abschiebungsandrohungen gegen ganz normale, nicht straffällige Geduldete bekommen. Die eine ist 69, hat eine kleine deutsche Rente und sonst nix. Die andere hat vor drei Jahren einen Mann mit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis geheiratet. Sie hat zwei Jahre lang kein Visum bekommen, um zu ihrem Mann zu ziehen. Ich habe dafür gesorgt, dass sie eine Duldung erhält, aber die soll jetzt nicht verlängert werden, und sie soll das Land verlassen. Sie stammt aus dem Kosovo und arbeitet in einem Reinigungsunternehmen, er arbeitet schon ewig hier. Das hat es in den letzten vier, fünf Jahren so nicht gegeben.

Ich vermute, es gibt eine Richtlinie von ganz oben, von Innenminister Seehofer, und ich glaube, dass über das jeweilige Innenministerium die Abschiebebehörden der Länder eine entsprechende interne Anweisung haben.

Noch bevor die Menschen aus Syrien kamen, gab es bereits Auseinandersetzungen wegen der Flüchtlinge, hauptsächlich Roma, aus den Balkanländern. Solidaritätsinitiativen haben früh befürchtet, dass diese Leute die ersten wären, die wieder rausfliegen.
2015 gab es viele langjährig Geduldete, die im Zweifelsfall hier bleiben durften. Dann kam die „Flüchtlingswelle“, wie das genannt wurde. 2016 wurde daraufhin ein Integrationsgesetz beschlossen, in dem es ein paar verhältnismäßig fortschrittliche Änderungen wie etwa die Ausbildungsduldung gibt. Die kann jeder Asylbewerber, der seine Identität nachweisen kann, auch nach einer Ablehnung seines Asylantrages erhalten, wenn er nicht aus einem sogenannten „sicheren Herkunftsstaat“ wie zum Beispiel dem Kosovo oder Ghana kommt. Außerdem gibt es neue Regelungen für Kinder, die vier Jahre hier sind und in die Schule gehen. Auch wer acht Jahre hier arbeitet und lebt, kann einen Aufenthalt bekommen. Acht Jahre sind mir zu lang, aber das war dennoch eine Verbesserung. Das Asylverfahren dauert derzeit im Schnitt drei bis vier Jahre, und bereits nach drei Monaten dürfen Flüchtlinge anfangen zu arbeiten. Manche haben also bei Abschluss ihres Verfahrens bereits drei Jahre gearbeitet oder eine Ausbildung begonnen.

Hast Du den Eindruck, dass die Abschiebepraxis in letzter Zeit rigider wird?
Ja. Jetzt werden auch Afghanen abgeschoben, die in Arbeit stehen, obwohl behauptet wurde – und das finde ich skandalös – es würden nur Gefährder, Straftäter und solche Menschen abgeschoben, die ihre Identität vorsätzlich verschleiert haben, um an Sozialleistungen zu kommen, was sowieso nur verschwindend wenige sind. Das zeigt, dass man jetzt so viele wie möglich abschieben will, und das möglichst noch vor der Wahl in Bayern.

Wie hat sich denn die Rechtsprechung in den letzten Jahren entwickelt?
Die Rechtsprechung war, was die Syrer anbelangt, eigenständig. Die Gerichte haben, anders als es das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wollte, den Syrern vollen Flüchtlingsschutz gewährt. Das heißt: Sie haben zunächst als Bürgerkriegsflüchtlinge aufgrund des Abschiebestopps mehr oder weniger automatisch Flüchtlingsschutz bekommen. Mit dem Flüchtlingsschutz erhältst Du drei Jahre Aufenthalt und den sogenannten blauen Pass, den Flüchtlingspass. Du brauchst also keinen syrischen Pass und bist auf der sicheren Seite.

Dann hat das Bundesamt angefangen, nur noch den reduzierten subsidiären Flüchtlingsschutz zu gewähren. Das heißt, Du kriegst nur ein Jahr Aufenthaltsrecht und musst einen eigenen Pass haben. Wenn Du keinen Pass Deines Heimatlandes kriegst, kannst Du also das Aufenthaltsrecht wieder verlieren. Die syrische Botschaft in Deutschland gibt keine Pässe aus, man muss also den Pass irgendwie über den Libanon oder in Syrien, direkt in Damaskus, besorgen. Das ist sehr schwierig und meist nur mit viel Geld möglich. Außerdem hat die Politik im Herbst 2015 das Recht auf Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte bis 31.7.2018 ausgesetzt, sie durften also jahrelang keine Familienangehörigen nachholen.

Gegen die Herabstufung auf den subsidiären Flüchtlingsschutz haben zahlreiche Flüchtlinge geklagt, und die Gerichte haben ihnen ganz überwiegend Recht gegeben. In einem solchen Verfahren muss die Staatskasse die Kosten des Asylbewerbers, also die Kosten seines Anwaltes, die etwa 500 EUR betragen, bezahlen. Es wurden also aus rein politischen Gründen Verfahren verzögert, die Gerichte unnötig beschäftigt und Millionen zum Fenster rausgeworfen, denn die Rechtsprechung war ganz klar gegen das Bundesamt.

Bleiben die Gerichte bei ihrer Linie?
Jetzt weicht die Rechtsprechung langsam auf, jetzt urteilen vor allem die Ober- und langsam auch die Untergerichte, es sei nicht mehr so gefährlich für die Leute, nach Syrien zurückzugehen, jedenfalls nicht in allen Landesteilen, darum genüge der subsidiäre Flüchtlingsschutz.

Das Bundesamt wollte durch den subsidiären Flüchtlingsschutz den Familiennachzug verhindern und die Zahl der Flüchtlinge verringern. Wobei es dabei gar nicht um so viele Familienangehörige gegangen wäre, wie gern behauptet wird.

Von wie vielen Menschen ist dabei die Rede?
70 000 werden oft genannt, ich glaube aber, dass diese Zahl in Wirklichkeit niedriger ist. Bevor der Familiennachzug ausgesetzt wurde, hatte sich Deutschland schon verpflichtet, bestimmte Kontingente aufzunehmen. Diese Kontingente sind bis heute nicht erfüllt worden.

Ich glaube, bis vor einem halben Jahr gab es nur 70 Personen, die über das erste Kontingent für Familienangehörige über Griechenland nach Deutschland gekommen sind. Die warten meistens in Griechenland in einem der Flüchtlingslager und dabei wird geprüft, ob der Familienangehörige hier in Ordnung ist, seinen Flüchtlingspass hat usw. 70 Leute, ich konnte es nicht glauben, denn das Kontingent betrug nach meiner Kenntnis 5000 Menschen.

Wurde also mit dem Familiennachzug Stimmung gemacht?
Dieser Familiennachzug ist politisiert und völlig hoch gepusht worden. Die Zahlen lassen sich auch dadurch steuern, dass das Auswärtige Amt und die Botschaften die Anträge sehr langsam und restriktiv bearbeiten.

Ein Beispiel: Ich habe einen Iraker vertreten, der nur subsidiären Flüchtlingsschutz erhalten hatte. Seine Frau konnte nicht mit ihm fliehen und ist mit der Tochter irgendwie in Nairobi/Kenia gelandet. Sie ist notdürftig untergekommen, kann praktisch nicht auf die Straße, hat nur das Geld, das der Mann schickt. Die Tochter kann nicht zur Schule gehen. Dieser Mann ist völlig außer sich vor Sorge.

Für seine Frau und Tochter habe ich einen Härtefallantrag über das Auswärtige Amt gestellt. Vor einem Dreivierteljahr! Es hat ewig gedauert, bis sie den Antrag überhaupt bearbeitet haben. Für so einen Härtefallantrag musst Du die Situation vor Ort; in diesem Fall in Kenia, minutiös schildern. Wie soll man das von hier aus machen? Ich konnte zum Glück das UNHCR, das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen, einschalten. Die haben Vertreter in Nairobi, die das für uns übernommen haben, und – natürlich – geschildert haben, dass es Frau und Kind dreckig geht.

Vor einem Monat wurde der Antrag dann abgelehnt, man hat uns auf den regulären Familiennachzug verwiesen, der ab 1. August 2018 wieder beginnt, mit einem Kontingent von 1000 Menschen pro Monat. Man hat uns also hingehalten, bis die allgemeine Regelung für den Familiennachzug wieder in Kraft trat. Auf diese Weise wird der Familiennachzug gesteuert.

Dass auf jeden der hier Angekommenen drei oder vier Familiennachzügler kommen, ist also abwegig?
Ja. Du kannst nicht einfach als Frau mit kleinen Kindern mal so Richtung Deutschland reisen. Der Mann schafft hier wie ein Tier und schickt natürlich Geld nach Kenia. Die Frau bewirbt sich jetzt auf einen Platz ab 1.8., aber die Dauer des Verfahrens könnte sie natürlich auch in die Arme eines Schleppers treiben.

Wie sieht es mit anderen Ländern aus, Afghanistan, Iran?
Als der damalige Innenminister Thomas de Maizière gesagt hat, die Situation in Afghanistan sei sicherer geworden, hat das Bundesamt angefangen, weniger Afghanen anzuerkennen, und die Gerichte nach und nach auch.

Zeitweise hatten Afghanen, glaube ich, um die 50 Prozent Anerkennungsquote, deswegen galten Afghanen als Asylbewerber mit einer sogenannten „guten Bleibeperspektive“. Man hat deshalb zum Beispiel für Afghanen, die eine Ausbildung begonnen haben, eine Förderung gekriegt, die Bundesausbildungsbeihilfe. Die kriegt nur, wer eine gute Bleibeperspektive hat. Das gilt beispielsweise für Länder wie Syrien, Irak und Somalia mit Anerkennungsquoten von über 50 Prozent. Diese Quoten stellt das Bundesamt monatlich fest. Bei Afghanistan ist die Quote dann gesunken. Wenn das Bundesamt die Anweisung hat, strenger zu prüfen, geht das ganz einfach: Der Afghane erzählt seine Fluchtgeschichte, zum Beispiel, die Taliban haben mit Gewaltdrohungen versucht, mich zu rekrutieren. Aber er kann das nicht beweisen, dann sagt das Bundesamt: Nein, das glauben wir Dir nicht, abgelehnt. Dabei pfeifen die Spatzen von den Dächern, dass die Rekrutierungen mit regionalen Unterschieden so ablaufen. Deshalb sind die Anerkennungsquoten gesunken, und jetzt kriegen Afghanen die Bundesausbildungsbeihilfe nicht mehr.

Liegt deren Quote inzwischen nicht bei 36 Prozent?
Unter 50 Prozent auf jeden Fall. Das ist völlig willkürlich, weil sich die Situation in Afghanistan, wie selbst das Auswärtige Amt berichtet, nicht verbessert, sondern eher verschlechtert hat. Aber diese Berichte sind natürlich aus politischen Gründen geschönt, und es heißt, dass die Lage zwar schlimm ist, aber nicht überall. Jetzt sagt das Bundesamt, Du kannst zwar nicht mehr dahin zurück, wo Du herkommst, aber Du kannst in eine andere Gegend in Afghanistan, die ist sicher. Über diesen Umweg, die „inländische Fluchtalternative“, kriegen sie die Ablehnung dann hin. Ein perfides Konstrukt. Das wirkt sich nach meiner 30-jährigen Erfahrung verzögert auch auf die Gerichte aus, wenn plötzlich vom Bundesamt mehr als 50 Prozent abgelehnt werden. Dann werden von den Gerichten eben auch mehr abgelehnt.

Eigentlich sollten Gerichte unabhängig sein.
Wenn das Bundesamt schon einmal gesagt hat, der ist unglaubwürdig, dann wirft das einen Schatten auf den Antragsteller. Da muss ein Richter erstens ein gutes Standing haben, um zu sagen, ich prüfe das ganz eigenständig. Und wenn er zweitens auch noch zu viel zu tun hat, dann gibt er im Zweifelsfall dem Bundesamt Recht – das macht viel weniger Arbeit. Die Richter sind ja völlig überlastet, weil das Bundesamt ihnen unnötig Arbeit macht.

Gibt es weitere Verschlechterungen?
Ja, zum Beispiel bei den Abschiebeverboten, etwa für Erkrankte mit posttraumatischen Belastungsstörungen und ähnlichem. Da wurden die Anforderungen an die ärztlichen Atteste erhöht. Früher genügte ein psychologisches Gutachten, heute muss ein spezialisierter Mediziner das Gutachten erstellt haben.

Was meinst Du, wie weit das noch gehen wird?
Eine gute Frage. Frau Merkel hat auf europäischer Ebene umgesetzt, was der Seehofer wollte, nämlich die Grenzen der EU nach außen noch mehr abzuschotten. Schon jetzt kommen ja wesentlich weniger Flüchtlinge nach Europa, und das, ohne dass sich die Lage in den Herkunftsländern nennenswert gebessert hätte. „Wir können nicht so viele aufnehmen, wir müssen auch an die Leute hierzulande denken“, das hört man ja ständig. Ich habe Angst, dass nicht nur nach außen abgeschottet wird, sondern dass der Integrationsprozess, der 2016 eingeleitet wurde, wieder gestoppt wird, ob nun offen oder verdeckt. Das fängt damit an, dass man zum Beispiel nach und nach die Mittel kürzt und kleine Gesetzesänderungen beschließt, die den dauerhaften Aufenthalt erschweren. Es wurde ja schon immer versucht, den Leuten das Leben hier schwerer zu machen, damit sie wieder gehen. Das wäre ein großer Rückschritt gegenüber dem Integrationsgesetz.

Siehst Du da große Unterschiede etwa zwischen der CDU/CSU, der SPD und dem, was ein Kretschmann von den Grünen gerade macht?
Ich sehe keinen Unterschied zwischen der Politik von Kretschmann und der Politik der CDU/CSU. Das Land Baden-Württemberg macht bisher eine rigide Flüchtlingspolitik, die von Strobl gesteuert wird.

Kretschmann hat als populäre Aktion 1000 Jesidinnen aufgenommen. Viele Jesidinnen sind schwer traumatisiert und brauchen psychotherapeutische und andere therapeutische Behandlung. Eine Betreuerin hat mir gesagt, dass den von ihr betreuten Jesidinnen eine Stunde Psychotherapie im Monat bewilligt wurde. Das kann man vergessen. Es gibt auch kaum Therapeuten, die sich damit auskennen. Sie werden von einem Kurden mit einigen Mitarbeitern betreut. Er ist der einzige, der die Sprache beherrscht und entsprechend ausgebildet ist.

Auf der anderen Seite macht sich Kretschmann jetzt dafür stark, weitere Länder als sichere Herkunftsländer einzustufen.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Vorstoß, weitere Länder zu sicheren Herkunftsländern zu erklären, dieses Mal im Bundesrat durchkommt. Es geht wohl um Tunesien, Algerien, Marokko und Georgien. Das ist natürlich alles Wahlkampf, denn die Zahlen etwa von Tunesiern oder Georgiern sind verschwindend gering.

Man denkt jetzt daran, in Nordafrika Aufnahmelager der EU oder im Auftrag der EU einzurichten, um die Leute dort abzufangen, ehe sie über das Mittelmeer kommen können.
Wenn Du so etwas planst, macht sich ein sicheres Herkunftsland natürlich immer gut, aber das werden diese Länder nicht mitmachen. Ein marokkanischer Politiker hat neulich süffisant lächelnd erklärt, „das entspricht nicht unserer Art, Politik zu machen“. Das fand ich super, aber es ist natürlich nicht auszuschließen, dass Staaten gegen Geld bereit sein werden, Lager zu eröffnen.

Das Gespräch führten Jürgen Geiger und O. Pugliese (Foto: O. Pugliese)

Der zweite Teil folgt morgen