Integration: Wohnung und Arbeit sind die Schlüssel

Teil 2

Anne Mühlhäußer ist als Stadträtin der Freien Grünen Liste wie auch als Pädagogin täglich mit den Problemen von Migrant*innen kon­frontiert. Im zweiten Teil unseres Gesprächs umreißt sie die Aufgaben, die Stadt, Kreis, Land und Bund jetzt unver­züg­lich anpacken müssen. Gefordert sind natürlich auch private wie öffentliche Arbeitgeber, denn neben dem unverzicht­baren eigenen Ein­kom­men sind Begegnungen am Arbeitsplatz für Menschen prägend. Vor­aus­setzung sind natürlich flächendeckende Sprachkurse.

In Schweden gibt es überdurchschnittlich viele Selbstmorde unter unbegleiteten jugendlichen Flüchtlingen. Gibt es solche Entwicklungen auch hier?
Wie es in Deutschland ist, weiß ich nicht, aber beide Länder ähneln sich, und die Unterstützungsangebote in Schweden sind eher besser als in Deutschland. Auch die Zahlen in Schweden wurden jetzt wohl erstmals erhoben. Dabei geht es um 20 Suizide von Zehn- bis Zwanzigjährigen im Jahr 2017.

Ich merke natürlich auch bei meinen Schülern, wie belastet sie sind. Einer, der mehrere Jahre auf der Flucht war, hat wahnsinnig traurige Augen und auch schon ein paar graue Haare, und er ist noch nicht mal 15. Kinder haben oft Heimweh, sie haben einen Teil ihrer Familie und ihr vertrautes Umfeld verloren. Manche hatten dort ein tolles Leben, ein großes Haus, der Vater hatte eine hohe soziale Stellung, ist in Deutschland aber ein Bittsteller. Viele leiden unter mangelnden Perspektiven und haben auf der Flucht Unvorstellbares erlitten. Dazu kommt auch noch die fürchterliche Wohnsituation, der sie in Deutschland teils jahrelang ausgesetzt sind. Das sind Faktoren, die manche verzweifeln lassen.

Gibt es dafür wirksame psychologische oder pädagogische Angebote?
Ich glaube nicht. Aber selbst, wenn ich empfehle, dass ein/e Schüler*in mal zu einem Psychologen geht, wird das von den Eltern meist abgelehnt, denn das kennen sie einfach nicht. Ein anderer Fall war ein 18-Jähriger, der direkt nach seinem Schulabschluss den Abschiebungsbescheid bekommen hat und untergetaucht ist. Wir wussten nicht, ob er überhaupt noch lebt. Er ist dann nach einem Monat wieder aufgetaucht. Gottseidank! Die Bandbreite der Empfindungen ist sehr breit. Viele sehen die Chance zu lernen und in Deutschland einen guten Schulabschluss zu machen. Andere sind dazu aber einfach psychisch nicht in der Lage, weil ihnen zu viel passiert ist.

Bräuchte man einen fremdsprachigen psychologischen Dienst?
Das kann ich mir in der Praxis nur schwer vorstellen, denn dazu müssten Psychologen die Sprache und Kultur eines einzelnen Landes sehr gründlich studieren. Es würde schon sehr helfen, wenn wir alle akzeptieren, dass viele Geflüchtete ein Handicap haben. „Du hast einen schweren Weg hinter Dir, Du hast alles verloren, Dein Haus ist weg, viele aus Deiner Familie sind tot, aber damit Du hier eine Chance kriegst, stelle ich Dich jetzt mal für zehn Stunden in der Woche an.“ Die Willkommenskultur, von der vor einigen Jahren die Rede war, muss sich fortsetzen. Jetzt sind die Leute hier, die Kinder brauchen jetzt einen Schulabschluss, eine Lehrstelle, die Eltern brauchen jetzt einen Arbeitsplatz, auch Mütter brauchen jetzt Deutschkurse, damit sie halbwegs kommunizieren können.

Die Sache ist also noch nicht vorbei?
Nein. Am Anfang stand die reine Notaufnahme wie in den Zelten im Schwaketental. Die eigentliche Integrationsarbeit beginnt erst jetzt, in den Schulen, auf dem Arbeitsmarkt, in den Vereinen. Wir müssen vor allem etwas gegen die Perspektivlosigkeit tun, die auch als Hauptursache für die Selbstmorde in Schweden genannt wird.

Geflüchtete wollen also vor allem eine schnelle Entscheidung über ihren Aufenthaltsstatus?
Ja, eine sehr viel schnellere Entscheidung. Ich weiß nicht, wie lange es im Moment dauert, aber es ist fürchterlich, ich kriege das am Rande von Schüler*innen mit.

Wo sehen Sie, über die Schule hinaus, derzeit die größten Aufgaben?
Das beginnt mit den Wohnungen. Die Geflüchteten sind zum Teil ja für mehrere Jahre in der Steinstraße untergebracht, was ich für schlimm halte. Natürlich sind viele Geflüchtete auch ganz andere Wohnverhältnisse gewöhnt.

Ich kenne das aus Kabul, dort hatten viele ein kleines Haus für ihre Familie mit einem Hof aus gestampften Lehm und einer hohen Außenmauer.
Ein Wohnen wie hier in einer Mietwohnung mit vielen anderen Menschen im selben Haus sind viele nicht gewöhnt. Natürlich sind sie total glücklich, eine Wohnung zu bekommen, aber das ist doch eine große Umstellung.

Ist die geplante Anschlussunterbringung an der Reichenaustraße ein Versuch, Wohnungen auf dem Niveau einer Erstunterkunft als Anschlussunterbringung zu verkaufen?
Die Steinstraße ist fürchterlich. Alles, was besser als die Steinstraße ist, ist besser für die Flüchtlinge. Da muss ich die Stadt in Schutz nehmen, das gibt dort an der Reichenaustraße einen richtig großen Riegel, aber das ist einfach eine Frage der fehlenden Flächen. Die Unterbringung in der Schottenstraße ist in Ordnung, das sind Vier-Zimmer-Wohnungen für bis zu sechs Familienmitglieder, die dann in Stockbetten schlafen. In diese Richtung wird es gehen, und auch die Wohnungen in Egg und im Zergle sind wunderbar. Das ist gute Architektur.

Man wird beim Sozialwohnungsbau wohl wieder in die Höhe gehen müssen, um die nötigen Wohnungen überhaupt irgendwo unterzubringen.
Mit dem Projekt „Zukunftsstadt“ arbeitet man jetzt an einer intelligenteren Architektur, die auch weniger Quadratmeter pro Person vorsieht. Fortschrittliche Stadtplaner, unter anderem aus Österreich und den Niederlanden, sagten bei einem Symposion, dass Einzelhäuser mit Garten, Doppelhaushälften und ähnliche Modelle ausgedient haben. Man muss neu darüber nachdenken, wie die Quadratmeter aufgeteilt werden sollen. In manchen Gebieten, in denen es geht, müssen wir dann auch fünf oder sechs Stockwerke hoch bauen. Natürlich nicht am Rhein oder Seeufer. Aber an der Bahn in Petershausen hätte die Wobak von mir aus auch ein Stockwerk draufsatteln können.

Auch die Sozialbindung ist ja viel zu kurz.
Ja. Aber wenn die Wobak baut, bleiben die Gebäude im Bestand der Wobak erhalten. Ich bin selbst im Aufsichtsrat, und wir können die Preise dort regulieren. Es gibt dort durchaus noch Wohnungen zwischen fünf und sechs Euro pro Quadratmeter. Konstanz hat Glück, dass es eine derart starke Wohnungsbaugesellschaft hat, aber natürlich bräuchten wir noch viel mehr Wohnungen. So etwas wie die an der Börse gehandelte Vonovia passt da natürlich gar nicht ins Bild.

Welche Dinge müsste man für die Integration mit Perspektive auf die nächsten Jahrzehnte jetzt auf den Weg bringen, sei es in Stadt, Land oder Bund?
Mehr machen kann man immer, dem sind keine Grenzen gesetzt. Die Kinder und Jugendlichen werden durch die Konstanzer Schulen gut betreut. Bei den Erwachsenen sieht es schon schlechter aus, es fehlt das allgemeine Bewusstsein, dass die jetzt auch hier leben und hier ihr Auskommen haben wollen. Man muss stärker darauf achten, Erwachsene in Beschäftigung zu bringen und Frauen, so sie es denn wollen, aus ihrem häuslichen Bereich herauszuholen, damit sie ein Teil der Gesellschaft werden können. Wir brauchen flächendeckenden Sprachunterricht für alle, damit die Menschen sich wenigstens halbwegs verständigen können.

Brauchen wir eine Aktion wie „83“, nur dieses Mal für Arbeitsplätze?
Ja, die Arbeit ist ein Schlüssel, und wer arbeitet, weiß, wieviel Raum die Arbeit im Leben einnimmt. Dabei lernt man/frau auch Deutsch und knüpft Kontakte. Die AWO hat ja ein Programm aufgelegt mit Praktika in einer Bücherei, in Fahrradwerkstätten, aber das sind immer nur Einzelaktionen, die wenige erreichen. Die Arbeitgeber*innen müssten noch offener werden, auch mit Praktika und 450-Euro-Jobs zum Reinschnuppern und für mehr Teilhabe. Da könnten über Herrn Diop, den Flüchtlingsbeauftragten bei der Stadt Konstanz, vielleicht auch breitere Kreise wie Gastronomie, Handwerkskammer, Altenpflege, Hotellerie oder IHK eingebunden werden. Das ist eine Herkulesaufgabe, aber machbar, wenn es wirklich gewollt wird.

Eine Ausgrenzung hingegen kann fatale Folgen haben. Es darf nicht sein, dass eine Familie vier oder fünf Jahre vor sich hin dümpelt, ohne richtig Deutsch zu sprechen oder den Arbeitsmarkt zu verstehen.

Entsteht so nicht ein zweiter Billigarbeitsmarkt, getarnt als Praktika?
Wir brauchen natürlich eine echte Integration in den ersten Arbeitsmarkt. Und nebenbei bemerkt: Wir haben an der Säntisschule heute männliche Erzieher, die einen Zweitjob benötigen, um mit ihrer Familie über die Runden zu kommen. Sie sind tagsüber Erzieher und müssen abends noch in einer Kneipe oder als Hausmeister arbeiten. Das geht natürlich gar nicht.

Was haben Sie von Ihren Schüler*innen gelernt?
Anne Mühlhäußer: Es war höchst interessant, als eine internationale 7. Klasse ihr Sozialpraktikum absolvieren sollte und wir Praktikumsplätze unter anderem auch in Altersheimen anboten. Da fragten die Syrer und Afghanen überrascht, was ein Altersheim sei. Sie konnten sich gar nicht vorstellen, dass sich im reichen Deutschland die Familien nicht um ihre Alten kümmern, sondern sie in Heime bringen, wo sie dann von Fremden gepflegt werden sollen. Das hat sie ernsthaft schockiert.

Das Gespräch führte O. Pugliese (Foto: FGL Konstanz)