Interview mit Dieter Rucht: Radikalisierung der Umweltbewegung (I)
Im E-Mail-Interview zwischen Wolfgang Storz und dem Soziologen Dieter Rucht geht es um Chancen, Wege und Strategien grüner Bewegungen. Was haben sie bewirkt, was wollen sie bewirken und wie können sie den nötigen politischen Druck aufbauen?
Den zweiten Teil dieses Gespräches finden Sie hier.
Storz: Bevor die Grünen mitregierten, schien die Bewegung fridays for future (FFF) einen hohen, zumindest einen hohen medialen Einfluss zu haben. Jetzt ist gar nichts mehr von ihr zu hören. Ist sie erschöpft? Gar zerfallen?
Rucht: Die Bewegungsenergie hat abgenommen, viele Aktivist:innen sind ausgebrannt. Es mehren sich interne Spannungen, ohne dass von einem Zerfall gesprochen werden kann. Und in den Augen großer Teile der Bevölkerung ist derzeit die Corona-Problematik vorrangig.
Tempolimit — ein Nebenschauplatz
Storz: Im Koalitionsvertrag konnten die Grünen nicht einmal ein Tempolimit durchsetzen. Und ein wirtschaftsfreundlicher Liberaler ist Verkehrsminister, der der Autoindustrie vermutlich weiterhin rote Teppiche auslegen wird. Das zeigt doch, die bisherigen Formen von Widerstand und Protest wirkten nur sehr begrenzt. Oder?
Rucht: Mit Blick auf die Wählerschaft und die organisierten Interessen der Wirtschaft war und wäre es völlig unrealistisch zu erwarten, Widerstand und Protest bei Umwelt- und Klimafragen könnten die Grünen zum einem machtpolitisch führenden Akteur machen. Der Einfluss der grünen Partei ist sicher gewachsen. Aber er ist angesichts der Kräftekonstellation in der Ampel-Regierung und der wirtschaftsfreundlichen Lobby-Gruppen ziemlich begrenzt. Und zum Tempolimit die Anmerkung: In der Kompromissmaschine, die eine Regierung in einem föderalen demokratischen Staat nun einmal ist, werden „Erfolge“ des einen Lagers an einer Stelle mit Zugeständnissen oder gar „Niederlagen“ an anderer Stelle erkauft. Das Tempolimit ist zwar symbolisch bedeutsam, aber umweltpolitisch ein Nebenschauplatz. Vermutlich wurden mit der grünen Nachgiebigkeit beim Tempolimit bedeutsamere Landgewinne an anderer Stelle erzielt. Spannend wird es sein zu sehen, ob und wie die allgemeinen Linien des Koalitionsvertrages in konkrete Politik umgesetzt werden. An vielen Stellen könnte eine informelle Allianz von FDP und Teilen der SPD die Grünen ausbremsen.
Der wichtige Unterschied: Brot, Brötchen oder Brosamen
Storz: Wäre dieser Koalitionsvertrag nicht wenigstens genügend Stoff, um sich auf der Straße darüber zu empören? Oder reicht die Kraft nicht einmal mehr dazu?
Rucht: Ja, es gibt aus Sicht progressiver Bewegungen viele und gute Gründe zur Empörung in der Sache. Allerdings: Kleinere Brötchen zu bekommen mag besser sein als gar keine Brötchen. Wichtig bleibt die Unterscheidung zwischen Brötchen und Brosamen. Generell ist festzuhalten, dass sich Empörung nicht zwangsläufig in Massenaktion umsetzt. Diese ist nicht nur von der eigenen Kraft abhängig, sondern auch von günstigen Gelegenheiten, der Einschätzung des richtigen Zeitpunkts und der angemessenen Form des Protests. Viele Unzufriedene sind erst mal in einer Warteposition nach dem Motto: Mal sehen, was die Regierung zustande bringt.
Storz: In einzelnen Städten, meist Universitätsstädten, sitzt die radikalere Klimaliste in den Stadtparlamenten. Bei der Bundestagswahl konnte sie nicht reüssieren. Ist diese Initiative bereits gescheitert?
Rucht: Sofern diese Klimaliste im lokalen Rahmen etwas bewirken kann, sollte man ihr nicht voreilig das Scheitern bescheinigen. Auf Landes- und Bundesebene sind allerdings die Aussichten einer dunkelgrünen Konkurrenz zu den Grünen eher mager. Der von dort ausgehende Druck — und nicht so sehr die Existenz lokaler Klimalisten — wird Flügelkämpfe innerhalb der Grünen anheizen. Ob das eher zu einer Selbstlähmung oder einem insgesamt radikaleren Kurs der Partei führt, bleibt abzuwarten.
Die entscheidende Kraftquelle für eine konsequente Umweltpolitik liegt im außerparlamentarischen Raum.
Storz: Wie könnte die Umweltbewegung ihren politischen Druck erhöhen?
Rucht: Indem sie sich nicht in vielen Aktivitäten verzettelt, die jeweils für sich genommen durchaus sinnvoll sein können. Sie muss strategisch denken und handen. Das heißt unter anderem, Kräfte auf jene Fragen zu konzentrieren, die zum einen von substantieller Bedeutung für Umwelt und Klima sind: und dazu zähle ich eben nicht das Tempolimit oder das Verbot von Trinkhalmen aus Plastik. Und sie muss zum anderen zu schärferen Mitteln greifen. Diese müssen jedoch sorgfältig bedacht und begründet werden und dürfen in keinem Fall die Neigung zum Heldentum bedienen.
Text: Wolfgang Storz, Bilder: Fridays for Future Konstanz, Dominic Wunderlich auf Pixabay.
Dieser Text erschien erstmals auf https://bruchstuecke.info/
Die Volksmassen sind heimatlos geworden. Milieu, Schicht, Klasse? Wer gehört wohin. Wenn die Finanzierung der Klubkultur durch staatliche Maßnahmen gefördert wird. Klubs, die nur jenen zur Verfügung stehen die über ausreichend Geld verfügen. Dringend benötigte Nachbarschaftsläden oder Sozialarbeit standen dagegen schon immer in dem Ruf mutmaßlich linke Kaderschmieden zu beherbergen, obwohl sie den Mangel nur verwalten.
Weil das Angebot der Tafeln nicht ausreicht, entdecken Grüne wie Cem Özdemir die Biotonne und stellen die Eigentumsfrage für entsorgte Lebensmittel.
Kaufhaus Müll spottet ein Nachbar und erinnert an die Keimbelastung in der Biotonne. Oben wenig Verwertbares, die Ränder dreckig, verkeimt und in der Tiefe das Madenparadies. Wen kann es beruhigen, dass Maden letztlich als Eiweißträger zur Lösung des Nahrungsmangels beitragen könnten.
Gründlich duscht er, mein Nachbar. Nach jeder Schicht beim Abfallentsorger. Er kann Warmwasser (noch) bezahlen. Sozialleistungsempfänger verfügen nicht über den Luxus. Wer in einer immer kälter werdenden Wohnung lebt, den treibt es selten auf die Straße zu adidas tragenden FFF´s mit entsprechenden Polit-Accessoires, bei denen Themen wie Weltfrieden oder soziale Gerechtigkeit nicht unbedingt auf der Tagesordnung stehen. Na klar, es sind viele mitgelaufen um auch einmal im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, bis dann die KlimaaktivistInnen den Sprung in die Landesparlamente und den Bundestag geschafft haben, wo sie heute sehr vertraulich, harmonisch bis liebevoll mit den neuen Freunden und Freundinnen aus der CDU oder FDP umgehen. Wie bei Ikea ist heute das „Du“ in der politischen Kaste vorherrschend, was in diesem Zusammenhang schlimme Ahnungen aufkommen lässt.
Die Buchproduktion von Armutsforschern und Parteiaristrokratinnen ist ihnen nicht zugänglich bei Copypreisen zwischen 20 und 30 Euro. Dass man nach dem Honorarzuwachs als Bestsellerautor bei Talkshows nochmals kräftig abkassiert bleibt dem Prekariat nicht verborgen. Der Parteigrenzen überwindende Stadtteilladen hat seine Unschuld verloren. Eine Hochglanzausstattung mit Edelsofa und ein fein abgestimmtes Farbkonzept haben Vorrang vor dem einstigen Second Hand Möbellager. Für den Becher Öko-Kaffee wird der Solidaritätsbeitrag von meist einem Euro gefordert und wie könnte es anders sein, die Solikasse soll auch noch gefüttert werden. Das passt alles nicht so recht zu einer Unterschicht aus den Vorstädten, die für ihre, oft leider gewalttätigen Unmutsbekundungen ins Gefängnis wandert für lange Zeit, auch weil Anwaltsberatungen selten unter 250 Euro zu haben sind.