Interview mit Dieter Rucht: Radikalisierung der Umweltbewegung (II)

Im E-Mail-Interview zwischen Wolfgang Storz und dem Soziologen Dieter Rucht geht es um Chancen, Wege und Strategien grüner Bewegungen. Was haben sie bewirkt, was wollen sie bewirken und wie können sie den nötigen politischen Druck aufbauen?

Den ersten Teil dieses Gespräches finden Sie hier.

Storz: Es gibt Tadzio Müller, einen 45-Jährigen Politikwissenschaftler und Aktivisten in der Klimabewegung. Er plädiert für eine Strategie der „friedlichen Sabotage“ mit dem Ziel, Aktionen müssten materielle Schäden verursachen. Zum einen: Was ist darunter genau zu verstehen?

Rucht: Diese Frage habe ich in einem Debattenbeitrag auch an Müller gerichtet. Seine Aussagen sind vieldeutig. Da ist von bloßem Körpereinsatz, aber auch von Schäden in einer Größenordnung die Rede, die ganze Industriezweige quasi in die Knie zwingen würde.

Storz: Was halten Sie von einer solchen Strategie?

Rucht: Sie ist ethisch fragwürdig und strategisch kontraproduktiv.

Storz: Ist es inzwischen legitim, sich auf Notstand zu berufen und damit in der Folge auf das Recht auf Notwehr, wenn es darum geht, Natur und Arten zu schützen?

Rucht: Notstand und Notwehr sind abstrakte Formeln, die von ganz unterschiedlichen Individuen und Gruppen reklamiert werden. Dabei wird die konkrete Last der Begründung für daraus abgeleitete Mittel der Abhilfe meist gescheut. Die verfassungsrechtliche Kodifizierung des Widerstandsrechts im Grundgesetz nach Art. 20 (4) ist gut gemeint, aber, abgesehen von ihrer Symbolik, sinnlos. Die allen Deutschen erteilte Erlaubnis zum Widerstand gegen „jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen“ ist ein untauglicher Versuch einer paternalistischen bürgerschaftlichen Ermächtigung. Solange die Ordnung noch (halbwegs) existiert, gilt das staatliche Gewaltmonopol. Und wenn dieses Monopol de facto außer Kraft gesetzt ist, das heißt, wenn Teile der Bürgerschaft sich erheben oder gar zur Waffe greifen, ist bereits der Ausnahmezustand eingetreten, der sich einer rechtlichen Regelung de facto entzieht. Ein ganz anderer Fall ist die im Strafgesetzbuch (§ 32) geregelte Notwehr, die es erlaubt, einen gegenwärtigen und rechtswidrigen Angriff „von sich oder einem anderen abzuwenden“. Allerdings wird sich kein deutsches Gericht bereit finden, „friedliche Sabotage“ als Notwehr anzuerkennen.

Widerstand, Gewaltmonopol, Tyrannenmord, Sabotage, Notwehr, ziviler Ungehorsam …

Dies gilt auch für das Bundesverfassungsgericht, das im März 2021 das Recht künftiger Generation auf eine lebenswerte Umwelt im Sinne der Wahrung von „Freiheitschancen“ hervorgehoben hat.

Somit verlagert sich die Auseinandersetzung auf die Legitimitätsfrage. Befürworter des strikt gewaltfreien zivilen Ungehorsams wie auch Befürworter „friedlicher Sabotage“ berufen sich häufig auf politische Notwehr. Sofern dies keine billige Floskel sein soll, landet man bei Kriterien wie Erforderlichkeit, Geeignetheit und Angemessenheit. Da hat die „friedliche Sabotage“ auch jenseits der juristischen Auslegungen dieser Kriterien schlechte Karten. Anders ist es jedoch beim Widerstand in Diktaturen. Nicht nur Sabotage, sondern auch der „Tyrannenmord“ kann als legitim gelten.

Storz: Ist das mehr als eine Einzelmeinung? Hat diese Position von Müller eine Basis wenigstens in Teilen der Gesellschaft?

Rucht: Müllers Position ist in der Umweltbewegung und darüber hinaus minoritär, aber sie ist keine Einzelmeinung. Autoren wie der Schwede Andreas Malm rufen mit flammenden Worten – und in Buchlänge – zu flammenden Taten auf. Dabei wird der jüdische Aufstand im Warschauer Ghetto als Lehre für die Klimabewegung herangezogen. Malm zitiert wohlwollend den britischen Schriftsteller John Lancaster. Für diesen ist es „seltsam und erstaunlich, dass Klimaaktivisten bisher noch keinen einzigen Terrorakt verübt haben. Schließlich stellt Terrorismus für den Einzelnen die bei Weitem effektivste Form des politischen Handelns innerhalb der modernen Welt dar ….“

Flammende Taten?

Was Umweltschützern und Tierschützern, auf die sich Lancaster bezieht, recht sein soll, ist anderen Lagern billig. Sogenannte Querdenker, Corona-Leugner und rechtsradikale Gruppen berufen sich argumentfrei auf Notwehr und ein Recht auf Widerstand. Die Inflation solcher Pseudo-Begründungen ist toxisch für die demokratische Kultur.

Storz: Es gibt die Tradition des zivilen Ungehorsams, dem es um strikt gewaltfreie Regelbrüche geht, ohne Gewalt gegen Menschen anzuwenden. Ist das heute legitim im Kampf um Umwelt- und Naturschutz??

Rucht: Ja, ziviler Ungehorsam, gebunden an weitere Voraussetzungen neben der Gewaltfreiheit, kann legitim sein. Aber da müsste ich weiter ausholen.

Storz: Und Gewalt gegen Sachen ist Ihrer Meinung nach akzeptabel?

Rucht: Inakzeptabel im Grundsatz. Mit steigender Schadenslast steigt auch die Last der Begründung, worum sich jedoch die meisten Verursacher der Gewalt gegen Sachen kaum scheren. Bei marginalem Sachschaden, etwa bei einem Graffiti, auch bei kleinen Sachschäden als unbeabsichtigten Begleiterscheinungen mancher Proteste, sollte man allerdings keine Moralkeule schwingen. Müllers Scheidelinie zwischen friedlich (= Gewalt gegen Sachen inclusive Sabotage) und unfriedlich (= Gewalt gegen Personen) ist nur vordergründig klar. Ein Graffiti, juristisch gesehen eine Sachbeschädigung, wird in den Augen der Mehrheit der Bevölkerung kaum als unfriedlich gelten. Aber könnte man die gezielte Sprengung einer momentan menschenleeren Fabrik als einen friedlichen Akt begreifen?

Was ist die Sprengung einer menschenleeren Fabrik?

Ohnehin wird die genannte Scheidelinie im Konzept der strukturellen Gewalt, auf das sich Müller positiv bezieht, aufgehoben. Die Pointe dieses Konzepts besteht ja gerade darin, den meist auf personifizierte Täter gemünzten Gewaltbegriff auf sachlich-materielle Verhältnisse auszudehnen, aus denen, gleichsam subjektlos und somit ohne Intention, Ungleichheit und Ausbeutung erwächst.

Storz: Wo liegen denn die Unterschiede zwischen dieser Tradition des zivilen Ungehorsams und der von Müller propagierten friedlichen Sabotage?

Rucht: Der Hauptunterschied ist die Anonymität der Saboteure im Gegensatz zum offenen Visier der Akteure zivilen Ungehorsams. Zudem: Ziviler Ungehorsam ist angelegt auf Deeskalation, was in der Regel ein entsprechendes Training voraussetzt. Sabotage ist eine Art von verdeckter Kriegserklärung mit dem Ziel der Schadensmaximierung. Das Adjektiv „friedlich“ ist in diesem Zusammenhang beschönigend und soll für Akzeptanz sorgen.

Storz: In einem Interview mit dem Wochenmagazin „Der Spiegel“ sagt er: „Wer Klimaschutz verhindert, schafft die grüne RAF.“ Gibt es dafür Anzeichen? Es gab ja zumindest in den 1970er und 1980er Jahren eine Tradition des sehr militanten Widerstandes gegen die Atomenergie.

Rucht: Müller spricht ja einerseits nicht nur von einer Möglichkeit, die niemand ausschließen kann, im Sinne von einer Wenn-Dann-Aussage. Andererseits verkündet er zudem im Ton der Gewissheit das folgende Szenario, und er kennt auch schon den Zeitpunkt: „Zerdepperte Autoshowrooms, zerstörte Autos, Sabotage in Gaskraftwerken oder an Pipelines. Das wird es nächsten Sommer auf jeden Fall geben.“ Meine Analyse: Für einen grünen Terrorismus im Stile der RAF sehe ich derzeit keine Anzeichen.

Text: Wolfgang Storz, Bilder: Michael Bußmann auf Pixabay, Fridays for Future Konstanz.
Dieser Text erschien erstmals auf https://bruchstuecke.info/