Jauß-Monografie erschienen – die Geschichte dazu
Auf das Buch des Historikers Jens Westemeier über den ehemaligen SS-Mann und späteren, auch international hoch angesehenen Konstanzer Literaturprofessor und Romanisten Hans Robert Jauß (1921–1997) wurde mit Spannung gewartet. Die hoch emotionale Debatte um Jauß und seine NS-Vergangenheit führte an der Universität Konstanz zu heftigen Auseinandersetzungen und war auch überregional Diskussionsstoff. Albrecht Koschorke erinnert sich an die turbulente Entstehungsgeschichte der nun vorliegenden Monografie.
Dieses Buch ist aus einer der heftigsten Kontroversen entstanden, die seit Langem an der Universität Konstanz geführt worden sind. Ich möchte deshalb erzählen, wie ich seine Entstehungsgeschichte erlebt habe. Es begann mit einem Interview in seemoz. Gerd Zahner, Rechtsanwalt, Lokalhistoriker und Theaterautor, war auf Hans Robert Jauß‘ Vergangenheit als Offizier und Ausbilder der Waffen-SS aufmerksam geworden und hatte dazu Recherchen angestellt. Er sprach von seinem Plan, seine Archivfunde für ein Bühnenstück zu verwenden, das er an der Universität aufführen wolle.
„Es gab doch diesen Skandal in Princeton …“
Das Interview machte schnell unter Kollegen die Runde – vor allem im Fachbereich Literaturwissenschaft, den der zu seiner Zeit weltberühmte Romanist Jauß, einer der geistigen Väter der Universität, maßgeblich mitgeprägt hat. Es löste heftige Reaktionen aus, aber ganz unterschiedlicher Art. Die einen sagten: Ein sensationsheischender Wichtigtuer! Wärmt alte Sachen auf! Das wissen wir doch alles schon längst! Was tut er Jauß‘ Familie an! Die anderen fragten: Was wissen wir eigentlich?
So ergab sich die seltene Gelegenheit, oral history sozusagen in actu mitzuerleben. War da nicht diese Kontroverse in der Frankfurter Rundschau gewesen, Mitte der 1990er Jahre? Hat jemand die Artikel? Es gab doch diesen Skandal in Princeton, weiß jemand Genaueres? Bei Kollegin X lag da was auf dem Speicher, sie findet es aber nicht mehr … Und: Ist Jauß denn noch so wichtig? Wer arbeitet heute überhaupt noch mit der Rezeptionstheorie? Was geht uns das an? Böse Worte, Gerüchte, Telefonate, Ratlosigkeit.
Erste Anfragen beim Universitätsarchiv, wo das doch alles hätte gesammelt sein müssen, versandeten ergebnislos. Anders eine nächtliche E-Mail-Anfrage bei dem Romanisten Earl Jeffrey Richards, der die Sache in den neunziger Jahren in Deutschland publik gemacht hatte und deshalb massiven Attacken ausgesetzt war: Die Antwort eines um den Schlaf Gebrachten kam drei Stunden später, schon tief in der Nacht, mitsamt einer Batterie von angehängten Scans, deren Beweiskraft ein Laie allerdings nicht recht einschätzen konnte.
Nach einigen Wochen kakophonischem Durcheinander entschloss ich mich damals, Gerd Zahner in mein Forschungskolloquium einzuladen. Ich erinnere mich noch, wie ich ihn an einem nebligen Novemberabend 2013 von der Bushaltestelle abholte: Ein im Gegensatz zu allem, was über ihn gesagt worden war, leutseliger Mann, sichtlich ohne Verfolgersyndrom, aber mit einem riesigen quadratischen Aktenkoffer voller Archivmaterial, das er dann im Seminarraum ausbreitete. Wie waren nun diese Dokumente zu interpretieren? Was bedeutete es, dass Jauß Lehrgangsleiter in einer SS-Junkerschule war? Was hat es mit der Liste der ins KZ Stutthof eingewiesenen „Unerwünschten“ auf sich, ausgemusterten französischen SS-Kombattanten? Zahner ging es mit seiner geplanten Theateraufführung nicht um Jauß als Person, sondern um die Rolle von Erziehungsanstalten wie eben den Nazi-Kaderschmieden oder aktuell den Koranschulen. Er wollte auch an der Universität einen Reflexionsprozess über die Gefahren autoritärer Verführung anstoßen – ein Anliegen, das wir Universitätsleute allerdings, zumal in Konstanz, eher befremdlich fanden.
Anspannung (und Entsetzen!) im Audimax
Im Kollegenkreis herrschte bald Einigkeit darüber, dass es nötig war, dieser Sache wissenschaftlich auf den Grund zu gehen, um zunächst einmal überhaupt die Faktenlage zu klären. Das war in der Kontroverse um Jauß in den 1990er Jahren erkennbar nicht geschehen. Glücklicherweise war das Rektorat zu demselben Schluss gelangt. Es beauftragte den ausgewiesenen SS-Historiker Jens Westemeier, ein Gutachten zu Jauß‘ Vergangenheit zu erstellen.
Kaum jemand hätte zu diesem Zeitpunkt erwartet, welcher Sturm sich in dieser Angelegenheit entfesseln würde. Mir kam die Rolle zu, insgesamt drei Veranstaltungen zu moderieren, in denen die Causa Jauß öffentlich erörtert wurde. Das waren denkwürdige Ereignisse – erst die szenische Lesung mit Luc Feit als aus dem Konzept gebrachten Professor Jauß im November 2014, der eine Podiumsdiskussion folgte, dann die Vorstellung einer ersten Fassung des Westemeier-Gutachtens im Mai 2015, schließlich noch eine wissenschaftliche Nachbereitung in kleinerem Kreis.
Ich habe sonst nie erlebt, dass das Audimax vor Anspannung (und Entsetzen!) förmlich knisterte. Für die anwesenden Studenten muss es eine Lehrstunde eigener Art gewesen sein, wie Freunde und Weggefährten, allesamt betagte Herren, mit vor Empörung bebender Stimme ihre Statements verlasen. Wer den kurz davor erschienenen Film „Im Labyrinth des Schweigens“ über die Vorbereitung der Frankfurter Auschwitzprozesse zu Beginn der 1960er Jahre gesehen hatte, musste sich an damalige Argumentationsmuster erinnert fühlen: Es seien doch alle jungen Menschen ideologisch verblendet gewesen (Kollektivschuldhypothese), man könne doch dieser einzelnen honorigen und verdienstvollen Person gar nichts nachweisen, was unterstehe man sich, rechthaberisch eine Vergangenheit zu beurteilen, die man nicht miterlebt habe etc. etc. Und mit welchem Recht krame überhaupt dieser junge unberufene Historiker in der Vergangenheit eines „großen Gelehrten“ herum.
Droh- und Brandbriefe an den Rektor
Was solcherart auf der Bühne geschah, mag man noch als ein trauriges Satyrspiel einer nicht zuende gehen wollenden Nachkriegszeit ansehen – obwohl es zu denken gibt, wie intakt die Verdrängungsreflexe bei integren, politisch vermutlich sozialliberal eingestellten, in ihrer sonstigen Tätigkeit hochreflektierten Akademikern 70 Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur sind, wenn es um einen Freund und Lehrer geht. Was sich dagegen hinter den Kulissen abspielte, spottet jeder Beschreibung. Das Universitätsarchiv wird die Droh- und Brandbriefe an den Rektor hoffentlich sammeln, um sie der Nachwelt zu überliefern, und auch einige Kolleginnen und Kollegen hätten Material beizusteuern. Eine regelrechte Kampagne war in Gang gekommen, um den von der Universität beauftragten Gutachter unter Druck zu setzen und durch massive Denunziation – man muss es so sagen – wissenschaftlich zu vernichten.
Jens Westemeier hat sich davon auf beeindruckende Weise unbeeindruckt gezeigt. Er hat eine im Stil unpolemische, in der Sache unnachgiebige Studie verfasst, die mit äußerster Gewissenhaftigkeit nicht nur Jauß‘ SS-Karriere in allen bis jetzt ermittelbaren Einzelheiten nachzeichnet, sondern auch seine erfolgreiche zweite Laufbahn nach dem Krieg dokumentiert – eine Laufbahn, die in wissenschaftlicher Hinsicht zweifellos glänzend war, auf der aber die große Hypothek einer mit allen Mitteln verteidigten Lebenslüge lastete.
„Dieses Rätsel wird bleiben“
Die Geschichte von und um Hans Robert Jauß endet aber nicht in seinem Todesjahr 1997. Westemeier hat die Debatte um Jauß‘ gespaltenes Leben bis in die Gegenwart verfolgt und damit auf seine Weise Rezeptionsgeschichte betrieben. Das Rätsel zu lösen, wie Täter, die an unvorstellbaren Gräueln beteiligt waren, unter neuen Vorzeichen und anscheinend guten Gewissens zu einer zweiten, ‚normalen‘, bis auf die unauslöschliche Spur der Lüge anerkennenswerten Existenz gefunden haben, war nicht seine Aufgabe. Im Fall von Jauß spitzt sich das auf die Frage zu, wie ein Mann, der in gehobener Position aktives Mitglied einer verbrecherischen Organisation war, später als Literaturprofessor über das Thema Erinnerung räsonnieren konnte, als wäre nichts gewesen. Dieses Rätsel wird bleiben.
Albrecht Koschorke
(Prof. Dr. Koschorke ist Literaturwissenschaftler an der Uni Konstanz; sein Text ist zuerst erschienen in „uni’kon“, dem Magazin der Universität. Weitere Informationen zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von Hans Robert Jauß auf der Website der Universität Konstanz unter: www.uni-konstanz.de).
Zum Buch: Hans Robert Jauß. Jugend, Krieg und Internierung. 1. Auflage 2016, 367 Seiten, 61 s/w Abb., kart., 29.90 Euro. ISBN 978-3-86253-082-03.
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zu Dieter, nun die RAF war im Endeffekt grausam. Doch ich verstehe was Dieter meint. Es ist zum Schreien und immer wieder neu die richtige Zeit hinzuschauen,überall, hier und jetzt, an der Uni, in unserer Stadt! Die Knapp-Pasage provoziert Handlungen und Kommentare, wo bleiben diese Stimmen hier und jetzt. Wo bleibt die Auseinandersetzung genau hier und jetzt mit dem was hier berichtet wird? Nicht fetzig genug? Ich denke, das ist sehr fetzig und die Nachkriegsjustiz ist das auch. Ich komme aus Frankfurt, da hat man einsam gekämpft und nicht aufgegeben. Nachkriegsjustiz war nicht einheitlich und ich bewundere die, die sich weder haben einschüchtern lassen, noch aufgegeben haben. Das was hier ist, ist eine gewisse Gleichgültigkeit sich auseinanderzusetzen unter denen, die seemoz lesen. Das Scala ist war ein Aufreger ohne Ende, schaut genau hin, das hier ist ein viel, unendlich viel, größerer Aufreger. Krude Kamellen von gestern? Nein unserer Umgang heute ist der Angelpunkt, heute!!!!!
Christina Herbert-Fischer hat Recht: Schweigen zu diesen Dingen ist nicht zu ertragen. Man denke nur an den Justizapparat nach 1945 und an die NS-Exponenten in der Regierung. Kann es da einen noch wundern, dass die Baader-Meinhof-Gruppe entstand?
Bisher null Kommentare? Das ist traurig, denn das hier ist wichtig. Es ist nicht nur wichtig für unsere Stadt, es ist wichtig für die Aufarbeitung des dritten Reiches in Deutschaland. Wen hier interessiert das noch wirklich? Wer will noch hinschauen? Wer rafft sich auf und sagt etwas dazu? Wo sind die, die heute Politik betreiben?Wo ist die Masse all derer, die nicht einverstanden sind?