Jenisches Kulturfest: „Singen als kleines Rom“

Herkunft, Geschichte, Sprache, Tradition, Identität, gesellschaftliche und politische Anerkennung als „nationale Minderheit“ – das waren die Themen, die beim Singener „Internationalen Jenischen Kulturfest“ am vergangenen Wochenende bei allen offi­ziellen Reden und persönlichen Gesprächen im Fokus standen. Schade war, dass das nasse und kühle Wetter so manchen vom Besuch des Festes auf dem Rathausplatz abgehalten haben dürfte.

Einen bleibenden Eindruck wird aber die Auftaktveranstaltung am Freitagabend bei den geladenen jenischen und nicht-jenischen SingenerInnen sowie internationalen Gästen hinterlassen haben. Der Schweizer Venanz Nobel vom Verein „schäft qwant“ lobte das Engagement der Stadt Singen, ihre Einladung ins Rathaus und ihre Unterstützung für dieses Fest. Dies sei nämlich bereits das 2. Kulturfest. Das erste habe 2004 stattgefunden, in der Scheffelhalle. Ohne Beteiligung der Stadt sei es leider nur ein Fest für die Jenischen unter sich gewesen.

Singen und die Jenischen

Oberbürgermeister Bernd Häusler skizzierte in seinem Grußwort das langjährige und durchaus oft auch schwierige Verhältnis der Stadt zu ihren aktuell rund 800 jenischen MitbürgerInnen. In Singen seien die „Landfahrer“ in den 1970er Jahren wohnhaft geworden, weil unsere Nachbargemeinden sie nicht gewollt hätten, so Häusler.

Unbestritten ist aber, dass sich die Stadt diesen sozialen Herausforderungen gestellt hat. Förderprogramme wurden eingerichtet, Sozialarbeiter eingestellt, dennoch gibt es in der Südstadt bis heute ghettoisierte Straßenzüge. Viele Jenische sind auf Transferleistungen angewiesen. Mit 25 Prozent jenischen Kindern ist deren Anteil in der Wessenberg-Förderschule überdurchschnittlich hoch. Noch viel zu wenige besuchen weitergehende Schulen und schließen eine Berufsausbildung ab. „Singen will auch weiter Partner der Jenischen bleiben“, versicherte der OB. So fließe derzeit ein sechsstelliger Betrag in die Schaffung neuen Wohnraums. „Aber nicht alle Wünsche lassen sich erfüllen.“

Minister-Appell für mehr Wertschätzung

Ein Appell für mehr Wertschätzung gegenüber dem „unsichtbaren und vergessenen Volk“ der Jenischen war die einfühlsame Rede von Baden-Württembergs Minister der Justiz- und für Europa, Guido Wolf (CDU). Er erinnerte daran, dass die Jenischen als „Fahrendes Volk“ seit Jahrhunderten europaweit zu den Ausgegrenzten und allenfalls Geduldeten gehören. Die NS-Zeit, wo sie als „Asoziale“ verfolgt, verhaftet und ermordet worden, ist das grausamste Kapitel ihrer Geschichte in Deutschland. Aufgrund dieser historischen Verantwortung sei ein Aufeinander-Zugehen wichtig. Es gelte die „Macht der Vorurteile auf beiden Seiten abzubauen.“ „Gegenseitige wohlwollende Passivität“ allein reiche nicht. Man brauche Raum für Begegnungen, und ein Kulturfest sei dafür ein guter Anlass. Wolfs Rede kam an, sowohl bei den Singener Jenischen, den Mitgliedern des „Fördervereins für die Jenischen und andere Reisende e.V.“ als auch den in- und ausländischen Gästen.

Jenische Geschichte über Grenzen hinweg

Über Geschichte und Kultur der Jenischen klärten die beiden Schweizer Gastredner Willi Wottreng, Geschäftsführer der seit 1985 politisch anerkannten Schweizer „Radgenossenschaft der Landstraße“, und Venanz Nobel auf. Als Händler, Handwerker (u.a. Korbmacher, Kesselflicker, Scherenschleifer), Erntehelfer, Tagelöhner zogen sie jahrhundertelang von Ort zu Ort. Gerade im alpinen Raum seien sie in den Bergdörfern bei den Bauern immer gern gesehen gewesen. Nicht so im 20. Jahrhundert bei den Behörden: Bis in die 1970er Jahre hat das „Hilfswerk Kinder der Landstraße“ fahrenden Familien die Kinder weggenommen und in Pflegefamilien oder Heimen untergebracht. „Die schweizerisch saubere Variante des Völkermords“, nennt es Venanz Nobel. Das Trauma für die damals Betroffenen bleibt bis heute. „Gestohlene Identitäten mussten gesucht werden“. Doch die Schweiz hat mittlerweile als erstes Land den Jenischen den Rechtsstatus einer nationalen Minderheit zuerkannt; als zweites hat Irland dieses Jahr mit der Anerkennung der „travellers“ nachgezogen. Diesen Status europaweit zu erlangen, ist Ziel der Jenischen, ebenso ihre Anerkennung als kollektive Opfer des Nationalsozialismus. Der anwesende Minister sollte dies vernommen haben.

Singen als „kleines Rom der Jenischen“

Auf dem Weg in die Schweiz war Singen schon immer Durchgangsstation für die „Reisenden“. Bei den Bauern im Hegau sowie in den jungen Industriebetrieben Singens gab es für sie Saison- und Hilfs-Arbeit. Pointiert schloss Venanz Nobel seinen Beitrag daher mit folgendem Wunsch: Singen sei zwar nur eine Kleinstadt wie jede andere, doch für die Jenischen sei „Singen“ schon immer ein magisches Wort gewesen. „Singen ist unser kleines Rom“… Einen Papst und einen Petersdom „brauchen wir nicht“, aber einen „kleinen Petersplatz hätten wir gern“.

Lebenstraum Kulturzentrum

Gemeint ist mit dem „kleinen Petersplatz“ das geplante „Kulturzentrum“. Dieses ist der Lebenstraum von Alexander Flügler. Als jenischer Junge hat er sich vom „Hilfsschüler“ und späteren Fensterputzer mittels Abendschule zum Inhaber einer Reinigungsfirma mit 100 Angestellten und somit erfolgreichen Unternehmer hochgearbeitet. Seit 2003 wirbt und kämpft er für sein Zentrum. Um es zu realisieren, wurde Anfang 2016 der neue „Förderverein für Jenische und andere Reisende“ gegründet. Schon wiederholt wurden Stadt und Gemeinderat dafür Pläne und Finanzierungsvorschläge vorgelegt – und alle bislang abgelehnt. So auch der jüngste, sehr konkret von Architekt Jörg Wuhrer ausgearbeitete Entwurf (der bei der noch bis 12. Mai andauernden Bilder-Ausstellung im Rathaus zu sehen ist) fiel durch. Das ausgesuchte große Grundstück am Rande der Südstadt, mit Blick auf den Hohentwiel läge zu abseits, so die Begründung des Gemeinderats. Dies berge die Gefahr eines weiteren Ghettos und fördere nicht die gewünschte Integration.

Kulturfest als Startschuss für ein Kulturzentrum

Aus der Perspektive von „Städtern“ mag das durchaus begründet sein, für „Fahrende“ stellt sich dies aber wohl anders dar: Als Treffpunkt für „reisende Gäste“ und als Veranstaltungsort für Feste wäre die Lage geradezu ideal, zumal es zentrumsnah kaum geeignete Grundstücke geben dürfte.

Auch die Mitglieder des Fördervereins sehen dies so. Eine überzeugende Fürsprecherin des Projekts ist Ursula Garz, Leiterin der Wessenberg-Förderschule. Sie kennt viele jenische Familien, weiß um deren Probleme und möchte erreichen, dass in den kommenden Jahren immer weniger jenische Kinder auf die Förderschule angewiesen sind. Singen sei dafür auf einem guten Weg. Aber es müsse noch mehr geschehen. Und dafür brauche es einen Ort: „Das Kulturzentrum! Und das Kulturfest solle der Startschuss dafür sein“, so ihre Schlussworte am Freitagabend.

Die Sonntags-Matinee mit dem mehrfach ausgezeichneten Spielfilm „Nebel im August“ war sehr gut besucht. Als ein Film, der einem „viel zumute“, hatte auch Guido Wolf dafür geworben. Dies griff Ursula Garz in ihrer kurzen Ansprache auf, in der sie nochmals für die Notwendigkeit eines Kulturzentrums plädierte: als Chance, voneinander zu lernen und mehr übereinander zu wissen – und dieser Film, der die Geschichte des jenischen Jungen und Euthanasie-Opfers Ernst Lossa erzählt, sei dazu ein Beitrag.

Nun darf man gespannt sein, welche „Nachwirkungen“ das Fest hat. Alexander Flügler, seine jenischen MitstreiterInnen und der Förderverein werden weiter aktiv bleiben. Wer ihren im Rahmen des Festes vorgetragenen Anliegen zugehört hat, sollte nun besser verstehen, dass die Jenischen mit ihrer Kultur und auch mit ihrer tradierten Lebensweise wieder sichtbar werden wollen. Dies zu respektieren und zu unterstützen, dürfte für ein bürgerliches Miteinander in unserer kleinen Stadt genauso wichtig sein wie die notwendigen Förderprogramme und sozialen Hilfestellungen.

Uta Preimesser